Kolumne: Das Altpapier am 26. Juni 2024 Wenn Schutzwesten nicht mehr schützen
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27. Juni 2024, 08:47 Uhr
In Gaza starben in den rund acht Monaten seit dem 7. Oktober 2023 mehr Journalisten als weltweit im gesamten Jahr 2022. In Ravensburg haben mehrere renommierte Redakteure bei der "Schwäbischen Zeitung" gekündigt. Hintergrund: Aus dem Blatt droht "eine Art AfD-Postille" zu werden. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- "Ein Dammbruch mit unabsehbaren Folgen"
- Können israelische Kameradrohnen Pressewesten übersehen?
- Das geringe Interesse der US-Medien an Trumps Geisteszustand
- "Das Wissen, das verloren geht …"
- Unmut über Tendenz zu rechtem Aktivismus bei der "Schwäbischen"
- Altpapierkorb (geplanter Medienrat für ARD, ZDF und Deutschlandradio, rassistische "Fun facts" bei funk, Autoren-"Wikability")
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
"Ein Dammbruch mit unabsehbaren Folgen"
Wir würden "noch viel von Julian Assange hören", sagte Georg Mascolo am Dienstag zur Freilassung des Wikileaks-Gründers in der WDR-Sendung "Mittagsecho". Der Sender hat das am Ende dieses Textbeitrags zitiert.
Unabhängig davon, was man von Julian Assange hält, sollte man ihm wünschen, dass er angesichts der in der Haft erlittenen "schweren psychischen und körperlichen Gesundheitsschäden" (dju-Vorsitzende Tina Groll) andere Prioritäten hat - und er (abgesehen von einem ersten Statement, mit dem heute gerechnet wird) erst einmal gar nichts von sich hören lässt.
Fast schon Nachruf-Anklänge hat der Beitrag von Andrian Kreye fürs Meinungsressort der SZ:
"Assange lieferte (…) die Blaupause für Enthüllungen wie Edward Snowdens 'NSA Leaks' über die weltweite Überwachung des digitalen Raums, (und) für die anonymen Whistleblower, die mit Millionen Dokumenten im Rahmen der 'Panama Papers' die kriminelle Schattenwirtschaft der Offshore-Banken erschütterten (…) In den vergangenen Jahren kam dazu, dass immer mehr Staaten oder Gemeinschaften wie die EU Whistleblower-Schutzgesetze einführten oder verbesserten. Denn in diesem Punkt hat Julian Assange ein neues Grundrecht formuliert. Transparenz für die Macht, Datenschutz fürs Volk. Das wird als Erbe von Wikileaks bleiben."
Deniz Yücel kommentiert für die "Welt":
"Ob die Arbeitsweise von Wikileaks journalistischen Standards entsprach, ist nach 14 (vierzehn!) Jahren eine müßige Frage. Selbst wenn Assange handwerkliche Fehler gemacht haben sollte, hat er dafür einen hohen Preis bezahlt, während sich kein Verantwortlicher der von ihm aufgedeckten Kriegsverbrechen in Afghanistan und Irak je vor Gericht verantworten musste."
Auf die Kollateralschäden des vielerorts sog. Deals, den in der vergangenen Nacht deutscher Zeit eine US-Richterin "besiegelte" (siehe zum Beispiel tagesschau.de), geht unter anderem Lorenz Meyer (Radio Eins) ein:
"Assange wurde für Handlungen verfolgt, die zum Kern journalistischer Arbeit gehören (…) Dass genau dies nun dem Spionagegesetz unterliegen soll, schafft einen gefährlichen Präzedenzfall, ein Dammbruch mit unabsehbaren Folgen."
Und Holger Stark schreibt bei Zeit Online:
"Die Enthüllung von Fehlverhalten einer Regierung ist damit gerichtsfest als Spionage gebrandmarkt. Stella Assange bewertete es in weiser Voraussicht während unseres Gesprächs im Mai entsprechend: Assanges Verfolgung sei ein 'Präzedenzfall', mit 'Effekten für jeden Journalisten in der Welt'. Der Schaden bleibt."
Können israelische Kameradrohnen Pressewesten übersehen?
Internationale Recherchekooperationen haben mittlerweile längst nicht mehr die mediale Wirkung, die etwa die heute im Assange-und-die-Folgen-Kontext oben schon erwähnten "Panama Papers" hatten. Oder erinnern sich noch sonderlich viele Lesende an "The Rwanda Classified" von Ende Mai, ein Projekt, an dem auf deutscher Seite unter anderem das ZDF-Magazin "Frontal" beteiligt war (siehe Altpapier)? Das ist nun auch bei "The Gaza Project" wieder dabei.
Worum geht es? Paper Trail Media schreibt dazu in eigener Sache:
"Am 'The Gaza Project', das von der französischen Organisation Forbidden Stories und paper trail media initiiert und koordiniert wurde, waren 50 Journalistinnen und Journalisten beteiligt. Gemeinsam sind sie die langen Listen während des Gazakriegs getöteter Journalistinnen und Journalisten durchgegangen und haben Fall für Fall analysiert. Sie haben Beweismaterial gesammelt und gemeinsam mit an die 50 internationalen Experten besprochen, um jene Fälle und Ereignisse zu filtern, in denen es Hinweise auf einen gezielten Angriff gibt. Sie sprachen sie mit über 120 Zeugen vor Ort, mit Soldaten der israelischen Armee, Reservisten, Deserteuren und Völkerrechtlern."
Der ebenfalls involvierte "Spiegel" schreibt zur Gesamtzahl der getöteten Medienschaffenden:
"Es gibt unterschiedliche Zählweisen zu den Toten. Die Non-Profit-Organisation Committee to Protect Journalists (CPJ) zählt 105 tote Medienschaffende, die Uno mehr als 122. In keinem Kriegs- oder Konfliktgebiet sind so viele Journalisten in so kurzer Zeit gestorben. Weltweit starben im ganzen Jahr 2022 weniger Journalisten als in den rund acht Monaten seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza."
Zur generellen Lage für Journalisten, die aus Gaza berichten wollen, schreibt Paper Trail Media:
"Israel hat den Gazastreifen schon vor Monaten für ausländische Journalisten abgeriegelt. Westliche Medien sind für Berichterstattung auf palästinensische Journalisten angewiesen. Doch die sterben in kaum erklärbarem Tempo. Etliche von denen, die noch leben, bekommen Drohungen, viele fliehen, alle haben Angst. Splitterschutzwesten mit der dicken Aufschrift 'PRESS', werden längst nicht mehr nur als Schutz wahrgenommen, sondern offenbar auch: als Zielscheibe. Laut mit militärischen Drohnen betrauten Experten sind die Kameras der Drohnen teils so gut, dass die Piloten, die fernab in einer Kommandozentrale sitzen, Details bis zur Größe eines Daumens erkennen könnten. Wie also können sie da Pressewesten übersehen?"
Der erwähnte "Frontal"-Beitrag (nur in Textform, die nächste Sendung im linearen Fernsehen kommt erst am 16. Juli) konzentriert sich auf einen Angriff auf das Gebäude der Nachrichtenagentur AFP, die ebenfalls an der "Gaza Project"-Recherche beteiligt war:
"Der verhängnisvolle Angriff beginnt am 2. November 2023 kurz vor Mittag (…) Innerhalb weniger Minuten wird mindestens vier Mal auf das Haus geschossen. Es wird niemand getötet, jedoch klafft ein großes Loch in der Außenwand des Gebäudes, journalistisch arbeiten kann hier niemand mehr (…) Eine Analyse von Video- und Tonaufnahmen zeigt, dass das AFP-Gebäude mit sehr großer Wahrscheinlichkeit vom israelischen Militär beschossen wurde (…) Unklar bleibt, warum das israelische Militär das AFP-Büro offenbar ins Visier nahm. Wollten die Soldaten womöglich eine Live-Übertragung stoppen? Schließlich war AFP zum Zeitpunkt des Angriffs nach eigenen Angaben die letzte große Nachrichtenagentur, die per Livestream Tag und Nacht aus dem Gazastreifen übertrug (…)"
Empfehlenswert ist schließlich noch ein "Guardian"-Beitrag.
Das geringe Interesse der US-Medien an Trumps Geisteszustand
Dass die US-amerikanischen Medien ihre Berichterstattung über Joe Biden und Donald Trump auf eine Weise gewichten, die stark zu Lasten des Amtsinhabers geht, ist zwar nicht der allerneueste Hut. Aber: Zahlen, die den Missstand anhand konkreter Beispiele belegen, sind natürlich stets aufschlussreich. Die aktuellen, die mediamatters.org (Eigenwerbung: "the nation's premier progressive media watchdog") vorlegt, lauten:
"Wir fanden 144 Artikel, die sich im untersuchten Zeitraum entweder auf Bidens oder auf Trumps Alter oder geistige Fähigkeiten konzentrierten, wobei 67% nur auf Bidens Alter oder geistige Fähigkeiten und nur 7% nur auf Trumps Alter oder geistige Fähigkeiten abstellten."
Über die aus dem linksliberalen Lager ohnehin viel kritisierte New York Times (Altpapier) heißt es zum Beispiel:
"78% der Artikel (…) befassten sich nur mit Bidens Alter oder geistigem Zustand, nicht aber mit dem von Trump, während sich nur 6% - zwei Artikel - nur auf Trumps Alter oder geistigen Zustand bezogen. 16% der Artikel befassten sich mit dem Alter oder dem geistigen Zustand beider Kandidaten."
Vermutlich würde eine ähnliche Untersuchung über die Intensität der hiesigen Berichterstattung zur "Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten" bei Trump noch günstiger für letzteren ausfallen. Als diese Verschlechterung kürzlich bei einer Rede in Las Vegas besonders deutlich wurde - er lieferte dort "a jittery parable" über "Haie, Boote und Batterien" und "free-associative impressions of a nautical disaster" ("The Nation") -, schrieben merkur.de und die "Frankfurter Rundschau" nichts dergleichen. Die "Merkur"-Autorin stieg statt dessen damit ein, dass Trump plane, "die Steuern auf (…) Trinkgelder abzuschaffen". Und auch bei der FR war eine dieser Karla Kolumnas am Start, die die deutsche Berichterstattung über Trump zu prägen scheinen:
"(Er) zeigte auch mal wieder, dass er ein echter Unterhaltungskünstler ist. Als alter Medienprofi weiß er eben, was die Leute von ihm erwarten."
"Das Wissen, das verloren geht …"
Aus den am Dienstag an dieser Stelle bereits kurz thematisierten Programmeinschnitten beim SWR greift Felix Stephan in der SZ die geplante Einstellung der Literatursendung "Lesenswert Quartett" heraus.
Anders als beim "Literarischen Quartett" des ZDF, wo es öfter zu "Auffahrunfällen" komme, weil es dort "eher auf den Schauwert der Gäste ankommt, als im engeren Sinne auf ihre jeweilige Auskunftsfähigkeit", werde bei "Lesenswert Quartett" "so viel gewusst und gerungen, wie es im Fernsehen sonst eigentlich nicht mehr vorkommt".
Stephan sinniert in diesem Zusammenhang über die grundsätzlichen Möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks:
"Der Charme solcher Sendungen – und möglicherweise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an sich – besteht aber gerade darin, dass er die Mittel und den Auftrag hat, sich den Geboten des Publikumsbetriebs eben nicht unterwerfen zu müssen. Genau darin ähnelt er der Kunsthochschule. Man könnte dort raffinierte Diskussionstechniken, handwerkliches Wissen und utopische Ansprüche an den eigenen Sendebetrieb auf eine völlig ungezügelte Weise miteinander in das freie Spiel der Kräfte entlassen, um eines Tages womöglich selbst über das Resultat der eigenen Beharrlichkeit zu staunen (…) Das Wissen, das verloren geht, wenn solche Sende- und Produktionsbetriebe einmal eingestellt sind, ist jedenfalls nicht einfach wiederherzustellen. Das gilt für jede Lokalredaktion, die nicht mehr die Arbeit kommunaler Gremien dokumentiert. Das gilt aber eben auch für alle Redakteure, die sich nun auch beim SWR nicht mehr über Bücher beugen."
Da öffentlich-rechtliche Kulturformate in der Berichterstattung in der Regel dann ein Thema sind, wenn ihre Absetzung bevorsteht, ist es erfreulich, dass jemand mal ausführlich eine Sendung würdigt, deren Existenz im Moment nicht bedroht zu sein scheint. Gabriel Yoran tut es bei "Übermedien". Er preist die Klassiksendung "Blindverkostung" (Radio 3, RBB):
"Sie verkauft ihr Publikum nicht für dumm, und das ist eine gute Methode, wenn man jemanden für etwas begeistern will, was sich nicht von selbst erschließt. Die Sendung hat einen didaktischen Anspruch – und der besteht darin, uns ins kalte Wasser zu schubsen."
Angesichts des derzeit grassierenden Umgangs mit Kultur bei den Öffentlich-Rechtlichen richtet Yoran am Ende aber vorsichtshalber noch einen Appell an "das Management bei Radio 3". Er hoffe, dass der Sender auch weiter
"genau das tut, was nur das öffentlich-rechtliche Radio kann: fantastische kleine Sendungen produzieren, die es eigentlich nicht geben dürfte, und derer es umso mehr bedarf".
Unmut über Tendenz zu rechtem Aktivismus bei der "Schwäbischen"
Von einer besonderen "Klimakrise in Ravensburg" berichtet Anna Ernst für den "Medieninsider". Es geht um die "Schwäbische Zeitung" und auch darum, wie Chefredakteur Jürgen Mladek kommunikativ mit dieser Krise umgeht.
Wer war noch mal dieser Mladek? Im Juli 2022 jubelte "Katapult MV":
"Jürgen Mladek, der rechte Chefredakteur des Nordkuriers, wurde mittlerweile nach Süddeutschland versetzt. Das ist gut für unsere Region."
Diese Freude können sie im Süden nun gut nachempfinden. Anna Ernst schreibt:
"Allein seit Jahresbeginn erst haben vier teils langjährig für die ‚Schwäbische‘ tätige Journalisten ihre Top-Positionen gekündigt – mitunter laut und deutlich (…) Die Menschen, mit denen Medieninsider darüber gesprochen hat, wollen anonym bleiben. Sie fürchten berufliche Konsequenzen, wenn sie sich öffentlich äußern – ein Eindruck, der sich im Laufe der Recherche noch verstärken sollte. Doch die Journalisten wollen sprechen – mit der Zeit gingen immer mehr Zuschriften und Anrufe bei Medieninsider ein. Kritische Stimmen äußern darin die Sorge, dass aus 'ihrer' Schwäbischen, mit der sie sich allesamt stark verbunden fühlen, eine Art 'AfD-Postille' werden könnte. 'Das rechte Gewicht wird immer stärker in der Kommentierung und Themensetzung' sagt ein Redaktionsmitglied. Ein anderes sagt, er würde zwar befürworten, wenn die Zeitung noch konservativer kommentieren würde. In der Berichterstattung müsse man aber qualitativ gut bleiben. Nur: 'Bei uns geht es in die Aktivisten-Richtung.' Zurückzuführen ist das laut Aussagen aus der Redaktion vor allem auf einen: Jürgen Mladek."
Das über die "Schwäbische" hinausgehende Problem: Es ist nicht leicht, in Deutschland überhaupt noch eine nennenswerte Zahl von relevanten Medien zu finden, bei denen "das rechte Gewicht in der Kommentierung und Themensetzung" nicht "immer stärker wird". Sieht also so aus, als würde es Jürgen Mladek noch weit bringen in der Branche.
Altpapierkorb (geplanter Medienrat für ARD, ZDF und Deutschlandradio, rassistische "Fun facts" bei funk, Autoren-"Wikability")
+++ Mehr Gremien wagen? Why not, scheint sich jedenfalls die Rundfunkkommission der Länder zu sagen. Laut einem Diskussionsentwurf für eine Sitzung der Kommission "sollen die ARD-Anstalten, das ZDF und das Deutschlandradio künftig einen gemeinsamen Medienrat einrichten, der alle zwei Jahre über die Erfüllung des Auftrags berichten soll. Nach diesen Überlegungen der Bundesländer könnte das Gremium aus mehreren unabhängigen Sachverständigen bestehen." Darüber schreibt Volker Nünning für "epd medien".
+++ Wer mehr erfahren will über "taktlose und latent rassistische 'Fun Facts'", die funk in einem Instagram-Video verbreitet, lese einen Kommentar von Joscha Frahm in der taz.
+++ Im Geisteswissenschaften-Ressort der FAZ beschäftigt sich Johannes Franzen mit einem Aufsatz mit dem Titel "'Wikability'. Über die Wikipedia als neue Konsekrationsinstanz im literarischen Feld". Ausgangspunkt von Annette Gilberts Analyse sei, so Franzen, "das literarische Projekt eines Dictionary of non-notable Artists des Autors und Künstlers Gregor Weichbrodt von 2016. Weichbrodt hatte festgestellt, dass gegen seinen Wikipedia-Artikel ein Löschantrag gestellt wurde, und daraufhin eine Collage von Löschanträgen zusammengestellt". In Löschanträgen in Sachen Weichbrodt etwa hieß es: "Außer kurzer medialer Beachtung keinerlei Einfluss auf irgendwelche Fachgebiete wahrnehmbar. Relevanzkriterien 'Autoren' sämtlich unerfüllt. Relevanzkriterien für Künstler ebenfalls unerfüllt." Franzen schreibt: "Gilbert untersucht nun die Relevanzkriterien, die dazu genutzt werden, die 'Wikability' eines Autors einzuschätzen. Ähnlich wie bei 'Kanonizität' oder 'Literarizität' handelt es sich um eine umkämpfte Zuschreibung. 'Inklusionisten' und 'Exklusionisten' ringen um die Frage, ob die Wikipedia, die ja die Platzprobleme einer gedruckten Enzyklopädie gar nicht hat, überhaupt nach Relevanz aussieben oder lieber möglichst liberal das gesamte Weltwissen sammeln sollte."
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.