Kolumne: Das Altpapier am 16. Juli 2024Schuss gehört?
Eine ältere Studie über "Meinungsmacht" öffentlich-rechtlicher Medien und ihrer privatwirtschaftlichen Wettbewerber taugt nicht als Aufreger. Aber die "Databroker-Files", die netzpolitik.org und der BR am frühen Morgen veröffentlichten! Außerdem: Aufregung um einen doofen Letzter-Bus/Trump-Post. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Medien-Meinungsmacht einst und jetzt
"Die Meinungsmacht der Öffentlich-Rechtlichen – und was sie damit anstellen", polterte Springers "Welt" (Abo) gestern, als sei sie auf ein ganz heißes Eisen gestoßen. Der darin zitierten Studie zufolge
"kommt die ARD ... auf einen Anteil am Meinungsmarkt von 20,4 Prozent. Bertelsmann mit seinen Zeitschriften und vor allem der RTL-Gruppe landet mit 11,6 Prozent auf dem zweiten Platz. Auf Platz drei folgt das ZDF mit 7,3 Prozent. Axel Springer (unter anderem 'Bild'-Zeitung und 'Welt') erreicht mit 6,9 Prozent Platz vier."
Um fair zu bleiben: Direkt vor der hier zitierten Stelle erwähnt die "Welt" schon , dass es sich um den "Medienvielfaltsmonitor" aus dem November 2023 handelt. Ja, sie verlinkt diesen als PDF sogar im Internetauftritt der Landesmedienanstalten. Seit 2012 vermessen die föderalistischen Medienwächter solche "Meinungsmacht". Interesse verdient das, was die Anteile unter inländischen Akteuren angeht: Dank ihrer sicheren Einnahmen (und der Vielzahl ihrer Kanäle, die im Internet über viele Jahre hinweg ungebremst wuchs), besitzen die Öffentlich-Rechtlichen Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren privatwirtschaftlichen Konkurrenten um dieselbe Aufmerksamkeit.
Was den "Monitor" recht absurd macht, ist, dass es den Medienanstalten mit ihrem Instrumentarium des 20. Jahrhunderts nicht ansatzweise gelingt, die längst wichtigsten Akteure in ihre Übersicht einzubeziehen: die US-amerikanischen Plattformkonzerne. Der einzige nicht-deutsche Konzern unter den Top 15 auf Folie 4 des PDFs ist der Finanzinvestor KKR als Springer-Miteigentümer und Besitzer weiterer Medienfirmen (Altpapier). Als einziger Datenkraken-Plattformkonzern taucht Microsoft auf Platz 16 auf. Gar nicht vor kommen Google, Facebook/Meta und X/Twitter. Dabei entscheiden deren Algorithmen, ob und welche Posts und Videos oft angezeigt werden. Und damit entfachen sie die meisten Diskussionen und bestimmen deren Verlauf maßgeblich mit – wofür ein gutes tagesaktuelles Beispiel vorliegt (das weiter unten folgt). Zunächst verdient ein viel besseres Beispiel für Datenjournalismus auf der Höhe der Zeit Aufmerksamkeit.
Die weiterwachsende Macht der Datenhändler
Das Beispiel ist nicht nur tages-, sondern frühmorgen-aktuell. Heute um 6.00 Uhr veröffentlichten netzpolitik.org und der Bayerische Rundfunk die "Databroker-Files" (weshalb ich nicht alle der Veröffentlichungen dazu verfolgen konnte). Sebastian Meineck und Ingo Dachwitz kommentieren unter der Überschrift "Dieses Staatsversagen schadet uns allen":
"Es kommt nicht oft vor, dass man als Datenschutzjournalist noch entsetzt ist. Permanent prangern wir bei netzpolitik.org die Auswüchse des Überwachungskapitalismus an. Doch die Databroker Files ... übertreffen alle unsere bisherigen Enthüllungen aus der Werbeindustrie. Tracking-Firmen orten Millionen Menschen in Deutschland auf Schritt und Tritt und verschleudern unsere Bewegungsprofile an alle, die sie haben wollen. Mit verstörend geringem Aufwand haben wir von einem Databroker 3,6 Milliarden Standortdaten aus Deutschland erhalten. Ein Unternehmen aus Florida hat uns die Daten praktisch hinterhergeschmissen, nicht einmal bezahlen mussten wir dafür. ... Dabei steckt in dem Datensatz nicht weniger als ein Massenüberwachungs-Skandal: Die 3,6 Milliarden erfassten Standorte bedecken nahezu jeden Winkel des Landes. Genug, um plötzlich selbst Geheimdienst spielen zu können. Ob in abgelegenen Kasernen, Gefängnissen, Suchtkliniken oder Swinger-Clubs – überall fanden wir Bewegungsprofile."
Anhand eines Tracking-Exempels von einem "Geheimdienststandort in Oberbayern" stellen die Rechercheure die Sicherheit des Staates in den Blickpunkt. Um zu illustrieren, dass solches Tracking "für hochrangige Beamte, Militärangehörige und sogar für Geheimdienste" gefährlich ist, hat der BR das hübsch animierte Scrollytelling "Ausspioniert mit Standortdaten" angerichtet. Es beginnt oberhalb einer Kaserne mit einer "öffentlich bekannten Außenstelle des Bundesnachrichtendienstes" in Bad Aibling (und die kam, wie netzpolitik.org natürlich weiß, schon 2016 in den Berichten über die damals größere Aufregung über die Spioniageaktivitäten der US-amerikanischen NSA mitten unter Freunden vor ...).
Im Kern hochpolitisch, bloß den meisten Menschen – darunter auch vielen von den sehr vielen, die sich hauptberuflich mit Politik befasssen – unbewusst, ist, wie diese Datenberge zustandekamen und weiterhin kommen. Das hängt, schreibt netzpolitik.org hier, zum einen mit der "mobile advertising ID" (MAID) sämtlicher Mobiltelefone zusammen:
"Apple und Google verwenden sie, damit die Werbeindustrie einzelne Handys oder Tablets unterscheiden kann. Legt man alle Standorte, die mit einer bestimmten ID verknüpft sind, auf eine Karte, zeichnet sich im Meer aus Punkten ein Muster ab. Wie Perlenketten reihen sich die Punkte entlang der Wegstrecken, die eine Person zurückgelegt hat. Etwa ins Büro oder in die Natur. Wie Konfettihaufen häufen sich die Punkte dort, wo die Person die meiste Zeit verbringt, etwa Zuhause und auf der Arbeit."
Dann, zum anderen, sind es "populäre Apps für Wetter, Navigation oder Dating", die solche Daten permanent erheben, nicht zuletzt bzw. ganz besonders, um sie an alle zu verkaufen, die bezahlen. Die Datenschutzgrundverordnung der EU war ein Ansatz, solches Tracking zumindest in geordnete, nachvollziehbare Bahnen zu lenken. Wie krachend der DSGVO-Ansatz gescheitert ist, zeigt die Recherche eindrücklich. Hoffentlich löst sie nun etwas aus. (Wobei, was die üblichen Politiker zwischen dem Grünen Konstantin von Notz und Roderich Kiesewetter von der CDU dazu bereits so sagen, nicht unbedingt dafür spricht. Das klingt, als säßen sie halt bei Markus Lanz ...).
Schlechter Post, gutes Beispiel
Wie reagiert man auf ein kritikwürdiges Verbrechen gegen jemanden, den man nicht schätzt oder sogar als politischen Gegner betrachtet? Faktisch erfordern all die Möglichkeiten der omnipräsenten (sog.) soz. Medien ja, dass jeder in Echtzeit (oder wenigstens so schnell, wie er oder sie davon Kenntnis erlangt) zu allem eine Meinung äußert.
Wie man das ganz ordentlich erledigt, zeigte Friedrich Küppersbusch im montäglichen Selbstinterview in der "taz". Wobei der Medien-Veteran es auch leicht hat, mit der felsenfest stehenden Struktur der stets identischen Einstiegsfrage "Was war schlecht in der vergangenen Woche?". "Anschlag auf Donald Trump", antwortet er mit einem knappen Vier-Worte-Satz und widmet sich dann dem, worüber er wirklich reden möchte (die Nicht-Kanzlerkandidatin Baerbock und Rot-Weiß Essen ...). Allenfalls die Überschrift "Wer den Schuss gehört hat" könnte diejenigen, die nicht längst wieder in ihre Timeline zurückgetriggert wurden, zum Weiterdenken anregen.
Wie es schlecht geht, zeigte der ebenfalls sowohl humoristisch wie auch politisch-weltanschaulich orientierte Online-Witzbold Sebastian "El Hotzo" Hotz. Eigentlich sendet und postet er, auch weiterhin auf Ex-Twitter X, eine Mütze voller Witze, von denen manche harmlos sind und sogar (eher: immerhin?) Markus Söder gefallen könnten (z.B.). Nun aber erregte ein krass geschmackloser, dabei nicht mal lustiger Letzte-Bus-Witz zum Mordanschlag in Pennsylvania, ergänzt um einen nicht mal mehr humorvoll gemeinten Satz, Wirbel. Diese Posts sind im Original nicht mehr verfügbar, vermutlich weil gelöscht. Doch in allerhand Posts, die darauf reagierten, sind sie noch zu sehen.
Aufmerksamkeit erregte der Aussetzer, weil Hotz für öffentlich-rechtliche Anstalten tätig war (für Jan Böhmermanns ZDF-"Magazin Royale") bzw. noch ist (für eine Radiosendung des Berlin-Brandenburger RBB, nämlich "mit den einzigen beiden zugezogenen Süddeutschen, die nicht nerven"). Gerne berichten "Berliner Zeitung", "Tagesspiegel" und "FAZ". "Wir distanzieren uns von diesem Posting. Es gibt derzeit keine Zusammenarbeit mit dem Autor", teilte das ZDF gerne mit. Der RBB "distanziert sich" sogar mit einem "menschenverachtend" und kündigte an, wow, mit dem Autor sprechen zu wollen, meldet "epd medien".
Ebenfalls in der epd-Meldung findet sich die ebenfalls via X/Twitter verbreitete Einschätzung des FDP-Veteranen Wolfgang Kubicki, "er gehe davon aus, dass sich die Staatsanwaltschaft mit den Postings beschäftigen werde." Viele Beamten- und Juristenstellen gegen das schwer eingrenzbare Phänomen Hatespeech zu schaffen, von denen einige auch bereits besetzt werden konnten, zählt ja zu den überschaubaren netzpolitischen Schwerpunktsetzungen der amtierenden Bundesregierung.
Auch nicht mehr in El Hotzos Account zu sehen ist ein auch oft zitierter Post, der mutmaßlich erklären oder zu erklären versuchen sollte, warum er die noch viel öfter kritisierten Original-Posts löschte:
"absolut niemand zwingt einen Mitleid mit Faschisten zu haben, man kann es ohne die geringste Konsequenz einfach lassen"
Klar. Mitleid ist ein Gefühl, zu dem einen naturgemäß niemand als das eigene Moralempfinden, Gewissen oder wie man es nennen möchte, zwingen kann. In der zweiten Hälfte des eben zitierten Hotz-Posts steckt ein Teil des Königs-Auswegs aus dem Dilemma. Zu jedem, pardon: Scheiß eine eigene Meinung raushauen, die dann nach geschäftsgeheimen Algorithmen mit 100.000en weiteren Meinungen konkurriert – das kann man auch einfach sein lassen.
Man verpasst dann nichts als die Chance, viele Herzchen und viele Hasskommentare zu bekommen und ein paar Stunden bis Tage lang viel Beachtung. Was aber von den Algorithmen der jeweiligen Plattform abhängt. Als Beispiel dafür, dass sehr viel von der Medien-Meinungsmacht (zu deren Kollateralschaden bzw. -nutzen Trackingdaten aller Art gehören) bei den Plattformkonzernen wie in diesem Fall Elon Musks X/ Ex-Twitter liegt, eignet sich die Hotz(o)-Aufregung.
Altpapierkorb (Huawei, Sonnenenergie, Objektivität, T-Shirts, AfD-Interview-Quoten, Augenreiben)
+++ "Ist das ein gangbarer Weg? Ja, das ist es. Ist es eine sichere Lösung? Nein, das ist sie nicht – denn jedes Software-Update könnte bis zum Vorhandensein neuer Steuerungssoftware im Grunde gefährlich sein und genau das herbeiführen, was befürchtet, aber nie bewiesen wurde", schreibt Falk Steiner bei heise.de zur Huawei-Entscheidung der Bundesregierung (Altpapier). Seinen Text zu lesen lohnt, weil es darin auch um der aktuellen Koalition wichtigere Themen wie etwa "tausende am Stromnetz hängende Speicher und Solaranlagen, die offenkundig von Huawei kommen", geht, bei denen ähnliche, von der "heillos überforderten" Bundesregierung auch nicht verstandene Problemlagen bestünden. +++
+++ "Es gibt keine objektive Berichterstattung mehr in diesem Land; im Gegenteil. So wie sich die Anhänger der jeweiligen Lager gegenseitig zu Vollidioten erklären, so werfen Medien dem jeweils anderen vor, tendenziös zu berichten", bilanziert Jürgen Schmieder in der "SZ" (Abo) zur Trump-Anschlags-Berichterstattung in den USA. +++ "Die seit den Entlassungswellen 2023 ausgedünnten Moderations-Abteilungen der sozialen Netzwerke, die Inhalte überprüfen, tun sich sichtlich schwer damit, Verschwörungs-Posts und -Videos Einhalt zu gebieten. Zwar wurden manche Posts gelöscht, andere erhielten auf X einen Vermerk, der auf die Echtheit des Mordanschlags hinweist. Andere waren aber auch in der Nacht zu Montag noch ohne Einordnung aufrufbar – und erreichten Millionen Klicks", schreibt das "Handelsblatt", ebenfalls mit Fokus auf die USA (wobei die Feststellung für EU-Europa ja ähnlich gilt). +++ "Praktisch umgehend machten sich Pro-Trump-Influencer nämlich daran, den Anschlag auf ihr Idol zu Geld zu machen", übernimmt der "Standard" wired.com-Berichterstattung. Vor allem wird das Trump-"Foto mit der erhobenen Faust" (das kaum ein deutscher Berichterstatter nicht proaktiv als "ikonisch" klassifizierte) auf T-Shirts gedruckt. +++
+++ Die beiden Sonntags-Sommerinterviews von ARD und ZDF mit den AfD-Spitzen Chrupalla und Weidel, um die es auch im Altpapier öfters ging, konnten "vor allem beim jungen Publikum (14 bis 49 Jahre) nachträglich noch deutlich zulegen", meldet die dwdl.de-"Zahlenzentrale". +++
+++ Alte Hassliebe im Baliner Presseviertel: "Bei diesem Text dürfte mancher 'taz'-Leser sich die Augen reiben: Ein Autor der ausdrücklich linken Zeitung wünscht sich einen Kurswechsel in Deutschlands Migrationspolitik!", schreibt "Bild" zu einem Jan Feddersen-Essay in der "taz" (und verlinkt ihn auch). +++
Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens – dann geht es sicher auch ums Verbot der Zeitschrift "Compact", das heute morgen ebenfalls für Aufsehen sorgte.