Kolumne: Das Altpapier am 22. Juli 2024Doppelte Moral ist eine zu viel
Joe Biden verkündet zu einer für deutsche Journalisten undankbaren Uhrzeit seinen Rückzug. Die Verlegerverbände diskutieren über mehr Kooperation. Und der El-Hotzo-Aufreger ist ein Beispiel für die Verlogenheit der Debatte über sogenannte "Cancel Culture". Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Biden-Berichterstattung unter Druck
Ungünstige Uhrzeit für eine Verkündung von nachrichtlicher Bedeutung. Die Spätredaktionen des Sonntags mussten spät nochmal ran an ihre Zeitungsaufmacher. Aber da liegt die Nachricht nun Schwarz auf Hellgrau am Montagskiosk: "Joe Biden zieht Kandidatur zurück", steht etwa auf der Titelseite der "Süddeutschen Zeitung", jedenfalls in den münchennahen Ausgaben, "Biden verzichtet auf Kandidatur" auf jener der "Frankfurter Allgemeinen", zusammen mit einem Leitartikel.
US-Präsident Joe Bidens X-Account verkündete seinen Rückzug am Sonntagabend deutscher Zeit. Online war die Nachricht, kurz vor 20 Uhr, die Eilmeldung des Tages, konkurrierend nur mit der ebenfalls eiligen Verkündung des Tour-de-France-Siegers. Die ARD reagierte mit einem "Tagesthemen extra", das zwischen den Fernsehfilmen eingestreut wurde.
In den USA machte die "New York Times", wo noch kurz zuvor die Online-Startseite voll mit Hättes, Wäres und Würdes gewesen war, online auf mit der groß gelayouteten Zeile "Biden drops out of 2024 race", die es dann, als Smartphone-Screenshot, auch zur Textbebilderung in deutsche Medien schaffte. Ähnlich groß stieg die "Washington Post" online ein. Beim Online-Spiegel wählte man wenig später ein ähnliches Layout, das die Bedeutung markierte, die die Nachricht aus nachrichtenjournalistischer Sicht hat.
Nicht mehr aktualisiert werden konnte wohl – und das ist das Schicksal der hinteren Zeitungsseiten, denen ich dafür hiermit meine Solidarität ausspreche – die gedruckte Medien- und TV-Seite der "FAZ", auf der es unter dem Titel "Das Biden-Dilemma" einen weiteren Beitrag zur Diskussion gibt, ob die liberalen Medien auf eine breite Berichterstattung über Bidens Gesundheitszustand verzichtet haben, um Donald Trump nicht in die Karten zu spielen. Es gibt dazu nach wie vor beide Thesen: dass im Verhältnis zu viel über Bidens Zustand und dass ungebührlich wenig darüber geschrieben worden sei (Altpapier).
Die Diskussion ist womöglich nicht beendet; es werden gewiss noch Forschungsarbeiten dazu geschrieben werden. Aber medial könnte sie abebben. Nina Rehfeld arbeitet in der "FAZ" heute noch einmal die zweite Deutung nach. Inklusive harscher Zitate, etwa von der ehemaligen "New York Times"-Chefredakteurin Jill Abramson: Die amerikanische Presse sei an ihrer Pflicht gescheitert.
Brauchen die Verleger einen Dachs?
"Burda-Vorstand Philipp Welte liebäugelt mit der Idee eines Verbandsdachs der Verlegerverbände." Das stand gestern ganz oben beim Mediendienst turi2.de. Das fand ich interessant: ein Dachs als Symboltier? Dann las ich den Satz leider noch einmal.
Was Welte möchte, ist: mehr Kooperation und Koordination unter den unterschiedlichen Verlegerverbänden. Ein Verbandsdach. Der Mediendienst zitierte damit einen Text der "Süddeutschen Zeitung" (Abo), in dessen URL die Buchstabenkombinationen BDZV und MVFP auftauchten, also die Kürzel der zwei derzeit relevantesten Verlegerverbände: "Wir müssen unseren politischen Wirkungsgrad als Interessenvertretung des unabhängigen Jounalismus der Verlage deutlich erhöhen", wird Welte dort zitiert, "Dafür sollten wir inhaltlich enger kooperieren und uns auch organisatorisch koordinieren." Und vielleicht, wer weiß, hülfe es ja auch, Dinge zu fordern, die nach vorne weisen.
Michael Hanfeld kritisierte in der Samstags-"FAZ" in einem Kommentar (Abo) zur nicht kommenden Zeitungszustellungsförderung eher, dass man bessere Lobbyarbeit hätte verrichten können:
"Was den Filmproduzenten auch dank der Lobbyarbeit des bestens vernetzten Produktionsallianzchefs Björn Böhning (bis Anfang 2022 Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium) gelingt, ist für die Presse außer Reichweite: direkte staatliche Förderung und Steuererleichterungen."
Sollten die Verlegerverbände sich also doch mal ein Tier zulegen wollen: vielleicht demnach eher einen Fuchs?
Ein Küchenzuruf, der in der Hotzo-Debatte fehlt
Ein Küchenzuruf ist im Jargon des Journalismus eine Nachricht, ein Inhalt, eine Story, die man bei der Lektüre im Wohnzimmersessel sofort der Person in der Küche zurufen möchte: "Helmut, Biden ist raus!" Oder "Die Verlegerverbände haben jetzt einen Dachs als Wappentier…, nein, Moment, doch nicht!" So etwas in der Art.
Ein Küchenzuruf, der wohl nicht herumgebrüllt wurde, war in der vergangenen Woche dieser: "Helmut, hast du das gelesen? Da wurde ein antifaschistischer Satiriker gecancelt, also ausnahmsweise mal wirklich, und die aufrichtigen Grundsatzverteidiger der Meinungsfreiheit springen ihm tatsächlich bei!" Das kann Helmut nicht gelesen haben. Der Satz wurde nämlich im Rahmen der auch am Wochenende noch weiter ausufernden El-Hotzo-Debatte über wirklich nicht so kluge X-Postings zum Attentat auf Donald Trump (Altpapier) nirgends geschrieben. Ein "Störgefühl" spürt deshalb "Übermedien"-Chefredakteur Alexander Graf, der in seinem Abonnement-Newsletter der Herkunft dieses Gefühls nachging:
"Das speist sich zum einen aus dem Gejammer, das in rechten Kreisen gerne aufgrund der vermeintlichen Dauerbedrohung durch, natürlich, linke Feinde der Meinungsfreiheit ertönt und der gleichzeitigen Vehemenz, mit der dieselben Kreise nun Konsequenzen für 'El Hotzo' forderten."
Dieses Störgefühl habe ich auch. Zum Beispiel wenn ausgerechnet der für seine inkonsistenten Meinungsfreiheitskaspereien bekannte Elon Musk wegen der Postings des unter anderem vom in einer Nische beschäftigten Satirikers Sebastian Hotz allen Ernstes den @Bundeskanzler an-ix-t. Graf schreibt dazu:
"Bleibt für Musk zu hoffen, dass 'El Hotzo' nicht den Fehler macht und einen früheren Post des Milliardärs für bare Münze nimmt. Hatte dieser im August des vergangenen Jahres doch noch vollmundig auf X verkündet, die kompletten arbeitsrechtlichen Kosten für alle Arbeitnehmer*innen zu übernehmen, die ihren Job aufgrund von Äußerungen auf X verlieren würden. Tja, that didn’t age well, wie man so schön sagt."
Und dann sind da noch ganz viele andere in den USA, neben Musk, die, wie der deutsche Satiriker, das getan hatten, was man im Internet so tut, Witze, Memes, darunter schlechte und auch sehr schlechte. Nele Pollatschek schrieb im Feuilletonaufmacher der Samstagsausgabe der "Süddeutschen Zeitung" (Abo):
"In Amerika begann (…) das, was diejenigen, die vor Cancel Culture warnen, als 'Hexenjagd' oder 'McCarthyism' bezeichnen, allerdings vorangetrieben von genau jenen, die sonst vor Cancel Culture warnen."
Alexander Grafs Störgefühl, das auch Pollatschek ihrem Text nach nicht komplett fremd zu sein scheint, hatte ich selbst auch, als ich am Freitagabend einen Beitrag in der "Welt" las:
"Die Trump-Tweets, die sowohl nach dem Strafgesetzbuch (Billigung von Straftaten) wie auch nach den Vorgaben der EU zu Hass und Hetze auf digitalen Plattformen nicht zulässig sein könnten (ja, tatsächlich hat Meinungsfreiheit Grenzen, auch wenn Gesetze ja je nach Absender und Botschaft unterschiedlich ausgelegt werden), offenbaren indes ein größeres Satire-Problem."
Die Strafbarkeit der Postings von El Hotzo scheint keineswegs ausgemacht. Für ihren Text in der "SZ" hat Pollatschek jedenfalls auch mit Juristen telefoniert, die bezweifeln, was der in gut ausgewählten Fällen gern sehr aufgeregte Jurist und FDP-Politiker Wolfgang Kubicki behauptet hat (Altpapier): dass es sich um eine strafrechtlich relevante Angelegenheit handeln könnte. Und wenn doch, so steht es in der "SZ", "dann müsse man erwägen, dass das Verbreiten des Posts, wie es Kubicki in Form von Screenshots getan hat, selbst eine Beihilfe darstelle. Und damit: eine Straftat."
Der Argumentation der "Welt" zu folgen fiele mir außerdem leichter, wenn dort auch von der "Cancel Culture" die Rede wäre, gegen die die "Welt"-Redaktion verlässlich auf die Barrikaden geht, sofern es nur jene zu treffen scheint, die nicht angeblich "woke", "Elfenbeinturm" oder "linksgrün" sind. Sabine Rennefanz kommentierte bei spiegel.de (Abo): "Es gibt kein Grundrecht auf Betätigung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk". Sebastian Hotz sei nicht "gecancelt" worden, er könne anderswo ja weiterarbeiten. Stimmt schon. Aber der doppelte Maßstab ist und bleibt in der Schlagwort-"Debatte" ein doppelter.
Graf nochmal:
"Was sich (…) an diesem Vorfall wieder einmal wunderbar ablesen lässt, ist die Doppelmoral, mit der in einem bestimmten Milieu mit den Kampfbegriffen 'Cancel Culture' und 'bedrohte Meinungsfreiheit von links' um sich geschmissen wird. Es wäre schön, wenn diese Erkenntnis beim nächsten vermeintlichen Cancel-Alarm auch in den Redaktionen berücksichtigt würde."
Das freilich wird womöglich nicht passieren. Wenn es in diesen Debatten in erster Linie um die Sache ginge, gäbe es ja den Alarm seltener. Den Alarm gibt es häufig auch, weil Alarm funktioniert, debattenpolitisch wie klickwirtschaftlich. Den Alarm gibt es aber natürlich auch, weil vorher Meinungen rausgehauen werden, die Alarm auslösen sollen. Dabei ist es ja nach wie vor keineswegs verboten, einfach mal die Klappe zu halten.
Altpapierkorb ("Compact", Rammstein-Berater, "Verschlossene Auster", Kritik an Quotengläubigkeit des ÖRR)
+++ In einem Aufwasch mit dem El-Hotzo-Aufreger mitverhandelt wurde vergangene Woche bisweilen das Verbot des "Compact"-Magazins (Altpapier). Man muss die Fälle aber trennen, weil ein explizites Verbot juristisch betrachtet werden muss. Ein Baustein in der weiteren Betrachtung: Der "Spiegel" (Abo) berichtet über sechsstellige Spendeneinnahmen der Compact Magazin GmbH.
+++ Lisa Kräher betrachtet bei "Übermedien" (Abo) die Rolle eines PR-Beraters unter anderem der Band Rammstein, der über die "menschelnde Seite" der Band mit berichtenden Journalisten gesprochen habe, aber, wohl auf eigenen Wunsch, nicht namentlich oder mit seiner Funktion zitiert worden sei. Kräher: "Dass da ein bezahlter Profi zu Wort kommt, vermutet man als Leserin bei der Formulierung 'aus dem Umfeld der Band' nicht unbedingt. Klingt es doch eher nach einer Person, die mit auf Tour ist oder die Band anderweitig gut kennt. (…) Macht es (…) einen Unterschied, ob ein PR-Berater diese Aussage trifft oder irgendeine Person, die der Band nahesteht? Ja, das tut es. Vor allem in der Masse, in der es solche Aussagen durch professionelle Pressearbeit, also systematisch, als Spin in Medien schaffen."
+++ Der Verein Netzwerk Recherche hat seinen Negativpreis "Verschlossene Auster" an Verkehrsminister Volker Wissing vergeben (epd Medien) – für seinen "problematischen Umgang" mit Recherchen des "Handelsblatt"-Reporters Daniel Delhaes zu Interessenkonflikten in seinem Ministerium. "Statt nach den kritischen Berichten für Aufklärung zu sorgen, ging Wissings Ministerium aggressiv gegen den Reporter vor und leugnete die Missstände", habe das Netzwerk Recherche erklärt.
+++ In einem Gastbeitrag zur Serie "Rettet die Öffentlich-Rechtlichen" schreibt Mithu Sanyal, wie sie sich selber retten könnten: durch Verzicht auf Quotenhörigkeit, zum Beispiel, und den dafür nötigen Mut.
Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.