Kolumne: Das Altpapier am 1. August 2024 Aufarbeitung. Wirklich?
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01. August 2024, 13:21 Uhr
Kritiker fordern: Die Corona-Politik muss aufgearbeitet werden. Aber worum geht es dabei? Will man aus Fehlern lernen? Oder Recht behalten? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Es gibt kein eindeutiges Ergebnis
Die Corona-Pandemie bleibt fast täglich ein Thema (Altpapier). Am Mittwoch berichteten mehrere Medien, unter anderem die Tagesschau, über eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und des Französischen Instituts für demografische Studien, die zeigt, dass die Corona-Pandemie in Europa zu großen regionalen Unterschieden bei den Todesraten geführt hat. Vor drei Tagen hat der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki bezweifelt, dass die RKI-Protokolle so schnell veröffentlicht wurden, wie sie hätten veröffentlicht werden könnten. Darüber berichtete die "Welt".
Oft reicht dabei schon ein Blick auf das Medium, in dem der Beitrag erscheint, um zu erahnen, was drinsteht. Bei "Cicero" haben soeben mehrere Wissenschaftler aus verschiedenen Fachgebieten anhand von Studien nachgewiesen, dass man den Nutzen der staatlichen Corona-Maßnahmen nicht belegen könne.
Dass man von einigen der Autoren auch Beiträge auf dem Rechtsaußenportal "Achse des Guten" oder dem nach rechts sehr offenen, aber nach dem Tod von Gunnar Kaiser inzwischen eingestellten Sender "KaiserTV" findet, lässt Zweifel daran zurück, ob es hier tatsächlich ausschließlich um ein wissenschaftliches Interesse geht.
Wobei es natürlich sein kann, dass es stimmt und bestimmte Corona-Maßnahmen sehr viel weniger wirkungsvoll waren, als man dachte, oder auch vollkommen wirkungslos. Dann könnte man zu dem Ergebnis kommen: Beim nächsten Mal machen wir es anders.
Das wesentliche Ergebnis einer von den "Cicero"-Autoren zitierten Studie steht im Abstract. Es lautet:
"Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in der Gesamtheit der Modelle keine Muster finden, die auf einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Reaktionen der COVID-19-Regierungen und den Ergebnissen schließen lassen."
Die Autoren haben 16 Regierungsmaßnahmen in 181 Ländern ausgewertet. Die Autoren haben knapp 100.000 statistische Modelle mit verschiedenen Daten und Annahmen getestet. In 42 Prozent dieser Modelle haben strengere Corona-Maßnahmen die Ergebnisse verbessert, in 58 Prozent der Fälle nicht.
Es gibt kein eindeutiges Ergebnis. Die Autoren schreiben zum Beispiel nicht: Schulschließungen hatten keine Wirkung. Sie schreiben:
"Inwieweit Reaktionen wie Schulschließungen mit Veränderungen bei den COVID-19-Ergebnissen verbunden sind, bleibt ungeklärt."
Es scheint also Wirkungen gegeben zu haben, nur der Zusammenhang zu den Schulschließungen ist nicht klar. Man kann Regierungen damit nicht vorwerfen, sie hätten, vielleicht sogar wissentlich, auf wirkungslose Maßnahmen gesetzt. Man kann nur sagen: Es ist immer noch keine Aussage über die Wirksamkeit von staatlichen Corona-Maßnahmen möglich. So steht es auch in dem Artikel, verbunden mit der Forderung, eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen.
Auf Vorwürfe folgt Abwehr
Das kann man nüchtern feststellen, um sich Gedanken darüber zu machen, auf welche Weise man vorhandene Wirkungen erklären kann. Man kann auf dieser Grundlage fragen, welche Maßnahmen sich in Zukunft in einer ähnlichen Lage rechtfertigen lassen könnten. Man kann in einigen Fällen zu dem Ergebnis kommen: Die Nebenwirkungen und Einschränkungen sind gemessen am nachweisbaren Nutzen von Maßnahmen zu stark. Man kann in anderen Fällen sagen: Wir wissen nicht, ob es wirkt, aber wir versuchen es, auf die Gefahr hin, dass die Maßnahmen wirkungslos bleiben.
Am besten geht das, wenn man unterstellt, dass die Corona-Politik der Versuch war, im Nebel der Unwissenheit irgendetwas zu machen, was die Situation verbessert. Schwer wird es, wenn mit der Beweisführung die Absicht verbunden ist, offene Rechnungen zu begleichen oder eigene Verletzungen aufzuarbeiten. Und der Eindruck entsteht zum Beispiel, wenn die Autoren des "Cicero"-Artikels schreiben:
"Wofür wurde eine Maskenpflicht verhängt und juristisch durchgesetzt sowie Impfungen unter Umgehung der sonst üblichen längerfristigen Sicherheitsprüfung verfügbar gemacht, wofür berufliche Existenzen aufs Spiel gesetzt oder gar zerstört und Kritiker diffamiert?"
Auf die Feststellung "Die Regierung hat versucht, nach bestem Wissen zu verhindern, dass die Pandemie sich verbreitet, aber es hat sich herausgestellt, das hat nicht so gut funktioniert", könnten die beteiligten Personen selbstkritisch reagieren und Fehler eingestehen. Auf den Vorwurf "Die Regierung hat mit willkürlichen Maßnahmen fahrlässig die Grundrechte von Menschen eingeschränkt" folgt notwendigerweise eine Abwehrreaktion.
Kurt Stenger beschäftigt sich in einem Beitrag für "nd" mit diesem Dilemma, das natürlich noch dadurch verschärft wird, dass Politikern Selbstkritik oft generell nicht so leicht fällt. Stenger erklärt das Problem am Beispiel der Aufarbeitung der RKI-Files (Altpapier).
Maßnahmen-Kritiker versuchten mit ihrer Hilfe zu belegen, dass sehr viel vertuscht und die Öffentlichkeit getäuscht wurde. Stenger dagegen schreibt:
"Letztlich belegen die Files vor allem, wie man beim RKI nach und nach dazulernte, wie es der Virologe Alexander Kekulé ausdrückt."
Auch das kann man allerdings als Beleg für verschiedene Dinge nehmen. Zum einen als Beleg dafür, dass hier nicht einfach wider besseren Wissens etwas durchgedrückt werden sollte, sondern dass die Bereitschaft vorhanden war, aus Fehlern zu lernen. Oder man kann es, wie Kekulé es macht, als Beleg dafür nehmen, wie "erstaunlich, wie unbedarft die am Anfang waren". Möglicherweise ist beides richtig. Die erste Deutung ist eher wohlwollend und erleichtert es, Fehler einzugestehen.
Die zweite Deutung betont vor allem das Versäumnis, schlecht vorbereitet gewesen zu sein. Das verursacht vor allem den Reflex, sich zu verteidigen. Im einen Fall richtet sich der Blick nach vorne. Es geht darum, Dinge in Zukunft besser zu machen. Im anderen Fall kann man darin die Feststellung sehen, wie ahnungslos die anderen waren. Ein Machtspiel.
Kurt Stenger schreibt:
"Wirklich Neues geht aus den Protokollen nicht hervor. Die Fehler des RKI, aber auch die der Politik in Bund und Ländern, sind lange bekannt. Bei einer Aufarbeitung müsste es darum gehen, wie diese zustande kamen und was daraus folgt, damit sie sich nicht wiederholen. Dafür braucht es Selbstkritik der Beteiligten statt der ständigen Rechtfertigungen, wie jetzt wieder von Spahn. Und die Bereitschaft, Maßnahmen kritisch zu diskutieren, statt wie Lauterbach zu behaupten, man sei 'gut durch die Pandemie gekommen', oder im anderen Extrem alle Maßnahmen pauschal zu verteufeln. Doch auch bei den RKI-Files geht es nur um einen politischen Kampf um die Deutungshoheit – ausschlachten statt aufarbeiten lautet die Devise."
Der Rückschaufehler
Sascha Wandhöfer hat für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" mit Emanuel Wyler vom Max-Delbrück-Zentrum für molekulare Medizin der Berliner Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin über die Aufarbeitung der Corona-Pandemie gesprochen.
Ein zentrales Problem dabei ist der Rückschaufehler. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Wissensstand und die Möglichkeit, Wirkungen, Entwicklungen und Ereignisse vorherzusehen, zum Zeitpunkt der Entscheidung andere waren. Hinterher ist alles viel klarer, vorher war es das nicht. Das muss auch die Kritik berücksichtigen, wenn die Absicht ist, aus Fehlern zu lernen. Trifft man diese Annahme nicht, drückt man die Akteure so sehr in die Defensive, dass es zur Aufarbeitung der Fehler gar nicht kommt, weil sie erst mal damit beschäftigt sind, sich zu verteidigen.
Wyler sagt:
"(…) man müsste wirklich sagen, wie war damals genau die Situation, und warum wurde damals so oder anders kommuniziert und entschieden. Man muss wirklich diese quasi Zeitachse (…) viel besser aufarbeiten, man müsste auch (…) so einen medizinhistorischen Rückblick machen. Also um quasi noch mal deutlich zu machen, es war jetzt kein großer politischer, medialer Masterplan, die Bevölkerung zu knechten, nicht überspitzt jetzt bewusst, sondern man hat aus der jeweiligen Situation heraus nach bestem Wissen und Gewissen entschieden."
Und wenn es um den gemeinsamen Blick nach vorn gehen soll, nicht um die Vergeltung, dann muss man sich an diesem Punkt einig werden. Dann müssen die Kritiker den Akteuren zugestehen, dass sie versucht haben, es richtig zu machen. Und die Akteure müssen bereit sein, Misserfolge zuzugeben. Genau das gelingt in der gegenwärtigen Situation nicht.
Wyler:
"Das Problem da ist (…), dass wenn jetzt von Aufarbeitung gesprochen wird, dann meinen viele einfach, die anderen sollen zugeben, dass ich immer recht hatte. Und das ist natürlich so ein bisschen eine schwierige Ausgangslage. Und ich glaube, diese Ausgangslage macht es uns auch schwer, jetzt da irgendwie in diese Richtung zu gehen."
Im Grunde bräuchte es eine unabhängige Instanz, die von beiden Gruppen akzeptiert wird, um hier in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Aber das würde bedeuten, auch die Kritiker müssten Zugeständnisse machen, vielleicht auch eigene Fehler zugeben. Und nach meinem Eindruck liegt hier das eigentliche Problem.
Altpapierkorb (Frauen in Führungspositionen, Kritik an ARD-Talkshows, AfD-Interviews, Telegram und Rechtsextreme, Digitale Gewalt, Joe Chialo)
+++ Der Anteil von Frauen in Führungspositionen bei überregionalen Zeitungen und Magazinen ist zum ersten Mal seit zehn Jahren leicht gesunken, berichtet der Verein "ProQuote Medien", der die Untersuchung erstellt hat. Ganz vorne liegt in der Rangliste die taz mit einem Frauenanteil in Führungspositionen von 65 Prozent. Ganz hinten liegt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" mit 23 Prozent.
+++ Nach einer parteiübergreifenden Kritik von Europapolitikern an der Zusammensetzung von Talkshows in der ARD hat der Programmbeirat des Senders angekündigt, man werde die Kritik "zum Anlass nehmen, bei den Programmverantwortlichen anzuregen, künftig die Beteiligung von Europapolitikern in den Talk-Formaten der ARD zu stärken", schreibt Jan Diesteldorf auf der SZ-Medienseite. Programmdirektorin Christine Strobl wies die Kritik zurück. Sie kritisiert, dass die Politiker sich die Gästezusammensetzung nur in der Woche nach der Wahl angesehen haben.
+++ Die frühere Altpapier-Autorin Annika Schneider erklärt für Übermedien am Beispiel eines Gesprächs mit dem AfD-Politiker Maximilian Krah beim Sender "Sachsen Fernsehen", wie man AfD-Vordenker nicht interviewt.
+++ Johannes Kiess und Gideon Wetzel haben für den aktuellen Digitalreport des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts die Aktivitäten von rechtsextremen Gruppen in Sachsen auf dem Messenger Telegram untersucht. Über die Ergebnisse schreiben sie in einem Beitrag für "Belltower News". Im Überblick: Rechtsextreme Gruppen in Sachsen nutzen Telegram aktiv, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Bekannte extreme rechte Gruppen und Kanäle sind nicht mehr aktiv oder wurden gelöscht, wie der Jugendblock Bautzen. Es gibt aber gleichzeitig Gruppen, wie die "Elbland Revolte", die schnell viele Abonnenten gewonnen haben. Und: Die häufigsten Themen in den untersuchten Telegram-Gruppen und Kanälen sind weiterhin die Covid-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg in der Ukraine.
+++ Eine Online-Befragung von Hateaid und der Universität Klagenfurt zeigt, dass fast ein Drittel der jungen Erwachsenen bereits digitale Gewalt erlebt haben, wie Cybermobbing, Shitstorms oder das ungewollte Erhalten von Nacktbildern. Sascha Wandhöfer hat für ""@mediasres" mit Josephine Ballon von Hateaid gesprochen. Sie sagt etwa: "Wir sehen ganz klar das Signal von den jungen Menschen, soziale Medien zu verlassen, sich dort einfach abzumelden, das ist heutzutage keine Option für uns. Und deswegen müssen wir schauen, wie wir sie sicherer machen."
+++ Berlins Kultursenator Joe Chialo macht in der Serie "Rettet die Öffentlich-Rechtlichen" auf der SZ-Medienseite einen Vorschlag, um, na ja, die Öffentlich-Rechtlichen zu retten. Den kennt man allerdings schon: Das ZDF soll ein nationales Programm senden, die ARD ein regionales. Man soll Dopplungen vermeiden, also effizienter sein, Strukturen straffen, die gemeinsamen digitalen Plattformen weiterentwickeln, auf Luxusbüros und Luxusgehälter verzichten und: auf einen höheren Rundfunkbeitrag.
Das Altpapier am Freitag schreibt René Martens.