Kolumne: Das Altpapier am 30. August 2024Nach der Empörung
Die Bedeutung des Worts Empörung hat sich verschoben – vom Aufruf zum Handeln zum Punkt, an dem nichts weitergeht: Vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen blicken FAZ und SZ auf den politischen Diskurs der vergangenen Jahre zurück. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Karriere der Empörung (1): Pegida bis jetzt
Am Sonntag wird in Thüringen und Sachsen gewählt. Weil die Ergebnisse, wie auch immer sie ausfallen, eine gewisse Vertiefung vertragen dürften, wird sich in der ARD am Montag "an das bis neun Uhr dauernde 'Morgenmagazin’ eine einstündige Ausgabe von 'Tagesschau Extra' anschließen", und ab 16 Uhr ist ein weiteres "Tagesschau extra" vorgesehen. Das berichtet die einordnungsorientierte Fernsehprogrammredaktion von dwdl.de. Die ersten Folgen der Landtagswahlen werden dort auch schon benannt:
"Die Wiederholung von 'Hubert und Staller' entfällt",und auch "die Wiederholung der Doku-Reihe 'Nachtstreife' findet an diesem Tag nicht statt".
Wir tasten uns mit dieser Meldung heran an die aktuellen Beiträge, die in den Freitagszeitungen und Onlineportalen zur Wahlvorbereitung erschienen sind. Es sind einige. (Und wenn der Samstags- und Sonntagszeitungsjournalismus sich nicht geschlossen neu orientiert, werden morgen mehr dazu kommen.)
Heute lohnt dazu vor allem ein Blick auf die Medienseite der "Süddeutschen Zeitung" und ins Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen". Man bekommt dort nämlich zwei unterschiedliche Versionen davon zu lesen, wie politische Empörungsunternehmer in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren derart erfolgreich "weite Teile des ländlichen Raumes und der Peripherien der großen Städte" Ostdeutschlands (FAZ) und weit darüber hinaus (SZ) bewirtschaften konnten.
In der FAZ (Abo-Text) schreibt Hans Vorländer, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der TU Dresden, Parteien wie CDU, SPD, Grüne und FDP hätten das "politische Vorfeld nicht bestellt" und
"auch nicht bestellen [können], weil es an den gesellschaftlichen Milieus fehlt, die ihnen Halt hätten geben können: Gewerkschaften, Kirchen, Vereine, Stammtische, aktive zivilgesellschaftliche Gruppen. In diese leeren Räume konnten rechtsextreme Bewegungen und Parteien (NPD, AfD) einströmen, die nicht zuletzt von Netzwerken profitierten, die sich über Jugendklubs und die Kraftsport- und Rechtsrockszene herausgebildet hatten".
Vorländer beginnt bei Pegida in Sachsen, 2014. Klar, dass Medien in diesem Rahmen auch ihre Rolle spielen. Vorländer sieht rückblickend einen Faktor darin, dass es "bei der Suche, was denn mit dem Osten los sei", eine "Deutungsmacht der etablierten, westdeutsch geprägten audiovisuellen Medien" gegeben habe: "eine asymmetrische Konstellation, die als wenig wertschätzend und übergriffig gegenüber den Befindlichkeiten ostdeutsch sozialisierter Menschen empfunden wurde". Aber Vorländers Blick richtet sich vorrangig auf eine "fragile" politische Kultur, wie er es nennt.
Karriere der Empörung (2): Stéphane Hessel bis jetzt
Und damit vom Feuilleton auf die Medienseite. Dort, in der SZ (Abo-Text), ist die Blickrichtung andersherum: Im Fokus steht die Rolle von Medien bei der Empörungsbewirtschaftung. Das muss natürlich so sein auf einer Medienseite, sonst wär’s ja keine. Sara Maria Behbehani beginnt nicht bei Pegida, wie Vorländer. Sondern 2010 bei der Streitschrift "Empört euch!" des Holocaust-Überlebenden und französischen Diplomaten Stéphane Hessel. Sie fordert eine Rückkehr zum Zweifel in der Krise, allerdings nicht hochholend, sondern von Anfang an. Eine andere Empörung als die, die heute überall gratis zu haben ist. Gut an Behbehanis Text ist in dem Zusammenhang die Bedeutungsverschiebung des Worts, an die sie erinnert:
"Für ihn [also Hessel; Altp.] war Empörung eine Aufforderung zum Handeln. Heute ist Empörung der tote Punkt, an dem nichts weiter passiert und jeder Diskurs endet. Fast alles kann zum Reizthema werden. Wie sich jemand ernährt, reist, spricht. Was jemand über den Krieg in der Ukraine denkt und den in Gaza. Und natürlich: die Landtagswahlen im Osten."
Was ist passiert? Mediale Dynamiken sind passiert.
"Sieht man sich auf Social Media um, lauscht den Stammtischparolen oder schaltet bei den Talkshows ein, erscheint es, als befände sich diese Gesellschaft in einem kollektiv aufgeregten Zustand. Als hätte sich eine Angststörung aus dem Persönlichen auf die Ebene des Kollektivs ausgeweitet. Leute, die tatsächlich unter einer Angststörung leiden, lernen, die erste Stressreaktion des Körpers – fight or flight – auszuhalten, erst dann zu reagieren, wenn die erste Welle der Aufregung abgeflaut ist. Und vielleicht muss auch die Gesellschaft lernen, das erste Aufwallen von Empörung auszuhalten, statt ihm nachzugeben. Allen voran die Journalisten."
Behbehani schreibt:
"Es gibt in den großen Krisensituationen in der Öffentlichkeit die Tendenz, in der Auffassung, was jetzt richtig ist, möglichst klar zu sein. Zweifel und kritische Stimmen werden dann kaum noch zugelassen. So wurden in Zeiten der Willkommenskultur im Herbst 2015 diejenigen, die Bedenken äußerten, allzu schnell als Rassisten und Fremdenfeinde abgekanzelt. In der Hochphase der Corona-Pandemie wirkten die medialen Rufe nach Ausgangssperren und Impfpflicht einhellig – und es war bequem, Bedenkenträger einfach als Corona-Leugner, 'Covidioten', Verschwörer und Impfgegner abzustempeln. Es sind diese Momente gewesen, in denen der Journalismus Teile seines Publikums verloren hat."
Ihr Punkt ist klar, aber ich würde ihr nicht rundum beipflichten. Die Rufe nach einer Impfpflicht etwa waren nicht einhellig, die Debatte darüber war im Journalismus viel breiter, als sie es hier in aller Kürze thesenartig darstellt. Und es gab auch eine Menge Journalisten, die Kategorien wie die genannten nicht benutzten, wenn sie tatsächlich Bedenkenträger meinten. Dennoch: Dass der Journalismus 2015, während der Pandemie und nun in der Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine "Teile seines Publikums verloren hat", ist sicher richtig. Die Frage ist, ob das in erster Linie am Journalismus liegt – oder an der aggressiven Bewirtschaftung von Empörung (gerade auch Empörung über Medien), auf die er in einer fragiler gewordenen politischen Kultur keine gute Antwort gefunden hat.
SZ und FAZ haben dazu heute jedenfalls zwei unterschiedliche Deutungen im Angebot. Wahrscheinlich ergänzen sie sich aber eher, als dass sie einander widersprechen würden.
Die Paralympics laufen, aber der Fußball!
Findet ein großes Sportereignis statt, das nicht prominente Männer in kurzen Hosen in den Mittelpunkt rückt, gibt es in aller Regel auch ein Medienthema, das sich aufdrängt: Warum wird die Aufmerksamkeit medial nicht besser verteilt? Bei Frauenfußballturnieren war das immer wieder die Frage; dabei haben sich die Verhältnisse gewiss schon etwas verschoben. Und nun eben auch bei den Paralympics in Paris, die traditionell kurz nach den Olympischen Spielen ausgerichtet werden.
Ganz schön ist es ja eigentlich, wenn die Aufmerksamkeitsverteilung gar nicht thematisiert wird, sondern die Aufmerksamkeit einfach gewährt wird. "Lasst die (nächste) Party beginnen!", schreibt etwa der Online-"Spiegel" über ein Video über die Eröffnung. Allerdings dann eben doch viel weiter unten auf der Seite als vor Kurzem, als die andere Party in Paris begann. Auf Zeitungstitelseiten sieht’s heute generell vergleichsweise mau aus mit den paralympischen Wettkämpfen. Am Mittwoch gab es schöne Bilder, das schon, aber die Berichterstattung wird wohl relativ fragmentarisch bleiben. Zumindest deutet sich das schon an. Im Schaufenster der ARD begann die Berichterstattung am Donnerstag sogar erst um 23.20 Uhr, noch später als geplant. Das Aktuelle zum Terroranschlag in Solingen wurde eingeschoben. Wofür es freilich auch sehr gute Gründe gab.
Mediale Dynamiken eben! Andererseits ist es halt doch so, dass am Donnerstagabend – nur eine Momentaufnahme, klar – in keinem der großen deutschen Onlineportale (gecheckt: zeit.de, spiegel.de, bild.de, sueddeutsche.de, t-online.de, n-tv.de, welt.de) die Paralympics so weit oben standen wie auf den Seiten des britischen "Guardian" (dort nämlich im Riegel direkt unter dem Aufmacher). Es ginge schon, wenn man es drauf anlegte, trotz all der anderen Themen, die heute tatsächlich wichtig sind. Dort, beim Online-"Guardian", gab es auch den allseits beliebten Liveticker. Nicht gerade mein Lieblingsformat, aber in der Sportberichterstattung ergibt er natürlich Sinn. In Deutschland aber war selbst innerhalb des Sportressorts Männerfußball am Donnerstag mal wieder wichtiger. Champions-League-Auslosung, hey, da kannste natürlich nix machen.
In den USA wurde allerdings tendenziell auch anderes als wichtiger eingeschätzt als die Paralympics. Auf den Seiten der "New York Times" (lesbar nach Login) zum Beispiel begegnete man Sahra Wagenknecht am Donnerstag beim Runterscrollen jedenfalls früher.
Altpapierkorb (Pawel Durow, "Höcke"-Doku und Meuthen-Dokus, Influencer statt Journalisten bei US-Demokraten, ÖRR-Reformpläne)
+++ Ihre Seite 3 widmet die "Süddeutsche" (Abo-Text) heute den Ermittlungen gegen den Telegram-Chef Pawel Durow in Frankreich (zuletzt gestern im Altpapier). Grundsätzlich wird es am Ende: "Das Verfahren gegen Durow wird (…) Grundsatzfragen klären, die Folgen für die gesamte digitale Welt haben könnten. Hat ein Staat das Recht, seine Gesetze in der grenzenlosen Welt des Internets durchzusetzen? Sind Plattformen und soziale Netzwerke neutrale Infrastruktur wie Telefon- und Wasserleitungen, oder sind sie Medien, die für ihre Inhalte verantwortlich sind? Wie weit geht Meinungsfreiheit, wenn es um radikale Inhalte oder gar Verbrechen geht?" Einen Kommentar zum Thema hat zudem Patrick Beuth für spiegel.de (Abo-Text) geschrieben.
+++ Die WDR-Dokumentation "Höcke. Und seine Hintermänner" über den Thüringer AfD-Vorsitzenden rezensiert mein Altpapier-Kollege René Martens für epd Medien als sehr solide: "Der Film verdichtet geschickt bekannte Informationen und liefert weniger bekannte Details, die das öffentliche Höcke-Bild gut ergänzen."
+++ Und Matthias Dell, ein ehemaliger Altpapier-Kollege, schrieb für Zeit Online (Abo-Text) über diese und zwei weitere Dokus zu aktuellem und ehemaligem AfD-Personal. Er befasst sich mit dem ehemaligen Parteichef Jörg Meuthen, der nach seinem Abgang "das Bild vom vermeintlich Konservativen, vom scheinbar Gemäßigten zu ventilieren versucht". Eine Fehldarstellung, meint Dell.
+++ Die US-Demokraten haben, schreibt die SZ (Abo), mehr als 200 Influencern (aka Creators) privilegierten Zutritt zu ihrem Parteikongress gewährt. Was schon eine Hausnummer ist: "So macht der Parteitag der Demokraten in Chicago deutlich wie kein Ereignis zuvor, wie sehr sich die Gewichte in der politischen Kommunikation verschieben. Zeitungen dünnen aus, Fernsehkanäle verlieren Zuschauerinnen, Radiosendungen werden seltener gehört. Dafür bauen Internetprominente eine Millionengefolgschaft auf, die sie zu Geld machen. Sie werden damit selbst zu umworbenen Verkäufern – begehrte Werbeträger für Politikerinnen wie Kamala Harris".
+++ Um die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht es in einem Beitrag des KNA-Mediendienstes, den ich auf meedia.de gelesen habe. Rainer Robra (CDU) ist der sachsen-anhaltische Medienminister. Er wird zitiert, und jetzt kommt die Feinschmeckernews für den medienjournalistischen Kalender, "werden sich die Regierungschefs bereits am 26. September in einem sogenannten 'Kaminformat' vertraulich über die Reformpläne austauschen." Das wäre früher als bisher geplant.
+++ "Es gibt eben einen Unterschied zwischen Ostdeutschland und Ostdeutschland in Frakturschrift": Die taz stellt die – was es nicht alles gibt – "Ostfluencerin" Olivia Schneider vor.
Am Montag schreibt das Altpapier René Martens.