Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
MedienwissenMedienkulturMedienpolitikSuche

Kolumne: Das Altpapier am 6. September 2024Wie man es sich zu leicht macht

06. September 2024, 09:35 Uhr

Die Echtzeitberichterstattung über den mutmaßlichen Anschlagsversuch in München zeigt: Onlineredaktionen haben aus alten Fehlern gelernt. Ein Überschlag der Islamismus- auf die Migrationsdebatte aber ist falsch. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Selbstregulierung ist möglich

Am Donnerstag, am Gedenktag des Olympia-Attentats von 1972, ist in München ein Mann von der Polizei erschossen worden, der in der Nähe des israelischen Generalkonsulats und des NS-Dokumentationszentrums mit einem Gewehr hantiert und es wohl auch abgefeuert hatte. Es war in den ersten Stunden danach nicht viel über den Täter bekannt. Ein Video kursierte in Social Media, das den mutmaßlichen Täter zeigte. Journalisten aber, das war mein Eindruck, als ich um 12 Uhr begann, die Berichterstattung zu verfolgen, berichteten verantwortungsvoll. Ausnahmen, die es gewiss gab, wie es sie immer gibt, ändern an diesem Gesamteindruck nichts. Ich finde das deshalb erwähnenswert, weil das in der jüngeren Geschichte der Echtzeitberichterstattung über Anschlagsversuche und Attentate nicht verlässlich so gewesen ist.

Es gibt viele Beispiele dafür, dass Journalistinnen und Journalisten zu schnell und deshalb Falsches berichteten, weil sie sich vom Konkurrenzdruck zur Hektik verleiten ließen. Das begann nicht mit den Social Media. Als im Jahr 2013 während des Boston-Marathons Bomben explodierten, warnte die Radiomoderatorin Kerri Miller aus Minnesota bei Twitter davor, sich von den ersten Mutmaßungen zur Berichterstattung verleiten zu lassen. Sie selbst habe 1995 über den Bombenanschlag in Oklahoma berichtet. Erst, schrieb sie, habe es sich dabei den vorliegenden Halbinformationen zufolge um eine Gasexplosion gehandelt, dann um einen Anschlag ausländischer Terroristen. Der Attentäter war, wie man später wusste, US-Bürger. Damals, 1995, gab es noch kein Twitter.

Aber die Existenz von Social Media, die schnelle Live-Kommentare ermöglichen und dadurch auch herausfordern, hat dafür gesorgt, dass die Geschwindigkeit und der Ausstoß an Falschmeldungen höher wurden. Der "Boston Globe" etwa korrigierte die Zahl der Menschen, die während des Anschlags auf den Boston-Marathon verletzt wurden, damals binnen 24 Minuten von 46 auf 100 auf mindestens 90 auf 64. Heute weiß man, dass es sich um 260 Menschen handelte.

Der "Spiegel" notierte seinerzeit:

"Die 'New York Post' druckte auf der Titelseite ein Foto von gleich zwei falschen Verdächtigen, CNN bezeichnete vorschnell 'einen dunkelhäutigen Mann' als möglichen Attentäter, und schließlich meldeten mehrere Medien, ein Täter sei verhaftet worden, obwohl das nicht stimmte."

Einige Monate zuvor hatte CNN über den mutmaßlichen Amokläufer von Newtown berichtet, mit vollem Namen und eingeblendetem Facebook-Profil. Eine Nachrichtenagentur verbreitete danach sein Bild weltweit. Es war der Falsche.

Ob kurz nach dem Absturz einer Eurowings-Maschine 2015, als "Die Zeit" auf ihrem Titel das Billig-Airline-Konzept der Lufthansa infrage stellte, ohne zu wissen, was passiert war. Ob nach dem Anschlag in Paris im selben Jahr, als die Zahl der mutmaßlichen Täter offensichtlich eher geschätzt wurde und als Fotos kursierten, die eigentlich in anderen Zusammenhängen entstanden waren. Ob nach dem Attentat am Olympia-Einkaufszentrum in München 2016, als die falsche Information kursierte, es gebe nicht einen Täter, sondern drei, die in der Stadt unterwegs sein könnten: In herausfordernden Nachrichtenlagen erlagen Medien, auch angesehene, bisweilen der Versuchung, Informationen aus fragwürdigen Quellen ungeprüft zu übernehmen oder selbst in die Spekulationsfalle zu tappen.

Differenzieren musste man immer. Es gab in jedem einzelnen Fall auch Journalisten, die davor warnten, jeden plausibel klingenden Post weiterzuverbreiten. Es gab immer Redaktionen, die weniger auf Quantität und Eile setzten als auf Informationen, die aus guten Quellen kamen. In Deutschland entwickelte Zeit Online als Reaktion auf die Mutmaßungsflut irgendwann das Format "Was wir wissen – und was nicht", das Herumgemeintes von Feststehendem unterschied. Die französische "Le Monde" hatte aus gegebenem Anlass einmal eine Rubrik, die "Achtung, Gerüchte" hieß (Quelle: Deutschlandfunk).

Was ich als Beobachtung in den Raum stellen möchte, ist: dass die Live-Berichterstattung nach Anschlägen und ähnlich schwierig zu fassenden Situationen substanziell besser ist als noch vor einigen Jahren. Wenn auch nicht in jedem Einzelfall, so doch in der Breite. Meine These wäre, dass sich Medien nicht nur gegenseitig zur Missachtung des journalistischen Handwerkszeugs und zu einer Jagd nach dem nächsten Infosplitter antreiben (Stichwort Wulff-Affäre, in der sich kaum eine Regionalzeitung nicht mit einem eigenen Beitrag profilieren wollte). Sondern auch zu Kurskorrekturen.

Was positiv aufgefallen ist

Was mir an der Berichterstattung am Donnerstag etwa positiv aufgefallen ist, dass das in Social Media kursierende Video des mutmaßlichen Täters in journalistischen Medien zurückhaltend behandelt wurde. Eine Selbstverständlichkeit vielleicht. Sie ist mir trotzdem aufgefallen. Christian Unger von der Funke-Mediengruppe wies etwa bei X und mit Verweis auf das Liveblog von morgenpost.de darauf hin, dass seine Redaktion es "mit Geo-Daten aus dem Internet" verifiziert habe: "Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zeigt das Video den mutmaßlichen Täter in unmittelbarer Nähe des Israelischen Generalkonsulats, nur etwa 30 Meter entfernt." Verbunden war der Hinweis mit der Anmerkung, dass man sich entschieden habe, "das Video nicht zu zeigen, da solche Videos oft von Gleichgesinnten zur Glorifizierung der Täter genutzt werden".

Über den mutmaßlichen Täter wurde auch in Textbeiträgen nach meiner Wahrnehmung wenig spekuliert. Bei X schon. In journalistischen Liveblogs nicht. Das könnte – vielleicht – auch daran gelegen haben, dass er auf den ersten Blick so gar nicht ins geläufige Bild des islamistischen Täters passte. Aber auch als schließlich die ersten Medien ("Spiegel" und "Standard") berichteten, dass es sehr wohl Hinweise darauf gebe, wurden nicht sofort die Aufmacherzeilen geändert, Triggerworte verbreitet und die Relevanz hochgestuft.

(Gut, man soll nicht verallgemeinern: Die bild.de-Redaktion meldete den "Groß-Einsatz vor NS-Dokuzentrum" am Donnerstag gegen 12 Uhr auf der Startseite an Position zwei, hinter dem "Asyl-Showdown zwischen Union und Ampel". Auf Platz eins rückte der Münchner Anschlagsversuch dann mit der Zeile "Wieder ein Islamist!".)

Aber etwa auf der Startseite der "Welt" ist mir eine gewisse Zurückhaltung positiv aufgefallen; in Überschrift und Unterzeile ist dort lange – und dem Stand der Dinge nach korrekt – von einem "18-jährigen Österreicher" die Rede gewesen. Positiv nicht deshalb, weil man einen Islamisten nicht einen Islamisten nennen dürfte. Sondern weil man sich Zeit ließ, Informationen zu prüfen.

Das falsche Migrations-Framing

Was mir aber auch auffiel, ist die anschließende Verräumung des mutmaßlichen Täters in die laufende Migrationsdebatte, also die Verknüpfung mit der politischen und medialen Großwetterlage. Ein Framing entlang der Koordinaten antisemitischer Anschlag / islamistisches Motiv / Migrationsproblem.

"Inzwischen haben deutsche Sicherheitsbehörden die Identität des mutmaßlichen Schützen festgestellt: Es handelt sich um den 18-jährigen Österreicher Emra I., geboren 2006 in Österreich. Zuletzt war der junge Mann wohl in Neumarkt im Salzburger Land wohnhaft. Nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR sowie dem österreichischen Nachrichtenmagazin profil soll Emra I., der offenbar bosnischstämmig sein soll, im vergangenen Jahr den österreichischen Behörden wegen möglicher islamistischer Radikalisierung aufgefallen sein."

Das ist ein Eintrag von Donnerstag, 15.33 Uhr, aus dem Liveblog von tagesschau.de, der auch bei der "SZ" so erschien. Die Quelle dafür, dass er "bosnische Wurzeln" habe, ist laut spiegel.de die Salzburger Polizei.

Bei welt.de (Abo-Text) kommentierte Ulf Poschardt wenig später:

"Der nächste Anschlag, die nächste Bedrohung von Freiheit, die nächste militante Attacke auf das Prinzip des Westens, an der Seite der einzigen Demokratie im Nahen Osten zu stehen und an der Seite des jüdischen Volkes. Nach Mannheim, Solingen, Bad Oeynhausen usw. usf. das nächste Alarmsignal, dass Europa ein unsicherer Ort geworden ist, weil er eine im Zweifel ungesteuerte Migration aus einer antiwestlichen Kultur zugelassen hat."

Den mutmaßlichen Anschlagsversuch von München stellte er so in einen Kontext mit anderen Taten der jüngeren Zeit, wodurch die anderen ihn mitdefinierten. Im nächsten Absatz folgt dann die These "Es wird jeden Tag schlimmer. Abgeschoben wird zu wenig".

Natürlich sind mögliche Motive des mutmaßlichen Täters relevant; im vergangenen Jahr soll gegen ihn wegen des Verbreitens von IS-Propaganda ermittelt worden sein. Das Thema ist dann: Islamismus. Aber Migration? Zu wenige Abschiebungen? Wenn es um einen 2006 in Österreich geborenen Mann geht, der mit dem Auto einer Verwandten aus dem Salzburger Land nach München gefahren sein soll? Und die "antiwestliche Kultur", das ist in dem Fall dann Österreich?

Wenn jemand ein Beispiel dafür sucht, dass Migration derzeit inflationär als Ursache für alles mögliche Schlechte ins Spiel gebracht wird, weil man, ob als Bundespräsident oder Journalist, damit offensichtlich gerade einen leichten Stich machen zu können glaubt: Das ist eines.


Altpapierkorb (Forderung von ARD-Media, Katja-Wildermuth-Interview, Olympia-PR und Paralympics-Berichterstattung, Franz G.)

+++ Dass Tobias Lammert vom Vermarkter ARD-Media kürzlich (Epd Medien), die öffentlich-rechtlichen Mediatheken sollten künftig werben dürfen, kritisiert Helmut Hartung in der "FAZ" als unzulässige Forderung: "Lammert begründet dieses Ansinnen gegenüber der Nachrichtenagentur epd damit, dass die Nutzungszahlen im linearen Bereich rückläufig seien und er deshalb ab 2025 'mit signifikanten Rückgängen' auch bei Werbeumsätzen rechne." Der Medienstaatsvertrag spreche dagegen, so Hartung, eine Änderung sei bislang nicht vorgesehen. "Aber vielleicht wollen einige ARD-Chefs die Ministerpräsidenten in letzter Minute zu einem Umdenken bewegen."

+++ Die Intendantin des Bayerischen Rundfunks, Katja Wildermuth, hat der "Augsburger Allgemeinen" vom Donnerstag ein Interview gegeben, aus dem der Satz heraussticht: "Sparen alleine ist keine Strategie". Falsch sei: "Wenn man nur energisch genug mit dem Finger schnippst, könnten wir zig Millionen einsparen". Das ginge nur, wenn ihr Sender massiv Inhalte streichen und Tarifverträge brechen würde.

+++ Dass deutsche Journalisten quasi zu PR-Leuten würden, wenn es um eine deutsche Olympia-Bewerbung gehe, kritisiert Jens Weinreich bei "Übermedien" (Abo).

+++ Mehr Sport heute auf der Medienseite der "Süddeutschen" (Abo), auf der es um die mediale Aufbereitung der Paralympics geht: Was geht schief, wenn man von Goldmedaillen-Gewinnen im Fernsehen und in den Streams nichts sieht? Das ZDF wird zitiert, es gebe "Einschränkungen" im "Bewegtbildangebot des Hauptbroadcaster". Das sei nicht mit dem von Olympia vergleichbar: "Zum Beispiel gab es" vom beispielhaft behandelten Wettkampf "kein Bildangebot, das den Verlauf des Wettkampfes so dargestellt hätte, dass es ein Livestreaming oder eine Live-TV-Ausstrahlung möglich gemacht hätte."

+++ Den Lehrer, der als Informant "Franz G." in vielen Berichten über die Aiwanger-Flugblatt-Affäre zitiert wurde, hat Arno Makowsky für die "Zeit" (Abo) besucht: "Er sei im vergangenen Jahr um fünf Jahre gealtert, sagt er. Er wurde krank, fühlte sich gedemütigt, von Freunden verlassen. Erst als die Staatsanwaltschaft Regensburg die Ermittlungen gegen ihn eingestellt hat, wurde es besser. Doch jetzt das Disziplinarverfahren."

Am Montag schreibt das Altpapier wieder Klaus Raab. Schönes Wochenende!