Das Altpapier am 27. März 2018 Die Desorganisation des Willens

26 Acht-Stunden-Tage pro Jahr arbeiten wir für Facebook; ein Lokaljournalist aus der Rhein-Neckar-Region pinkelt auf das Grab von Hunter S. Thompson. Außerdem: eine Studie zu Verbreitungswegen von Fake News im Bundestagswahlkampf; das Visiönchen einer öffentlich-rechtlich-privatwirtschaftlichen "Super-Mediathek". Ein Altpapier von René Martens.

Wenn ich den Begriff "Denkfabrik" lese, schwanken meine Reaktionen normalerweise zwischen WTF und OMG (siehe Altpapier), aber ich bin ja tendenziell lernfähig. Die sich selbst als "Denkfabrik" bezeichnende Stiftung Neue Verantwortung – die hier über ihre Geldgeber Auskunft gibt – hat jedenfalls eine aufschlussreiche Studie (PDF) über "Verursacher, Verbreitungswege und Wirkungen von Fake News im Bundestagswahlkampf 2017" vorgelegt. Basis sind zehn Fälle aus dem vergangenen Jahr, die in den sozialen Netzwerken besonders starke Nutzerreaktionen hervorriefen. Wolfgang Wichmann berichtet für den Faktenfinder von tagesschau.de:

"Im Ergebnis der Studie wird deutlich: Als Urheber und Absender von Fake News traten vor der Bundestagswahl 2017 – anders als von vielen erwartet – keine Akteure aus Russland in Erscheinung. Vielmehr seien die Quellen für Falschmeldungen hierzulande am rechten Rand zu suchen: 'Fake News, so wie sich das Phänomen in Deutschland empirisch darstellt, werden vor allem von den Rechten, RechtspopulistInnen und Rechtsextremen verbreitet.' Besonders auffällig agierten demnach Vertreter der Alternative für Deutschland: Sieben der zehn untersuchten Fälle seien von AfD-Accounts verbreitet worden – darunter die reichweitenstarke Facebookseite der Bundespartei oder das Profil des Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen."

Vieles mag einem im Einzelfall bekannt vorkommen, hochinteressant ist aber allemal die Geschichte und Genese mancher Fake News. Exemplarisch sei hier auf jene mehrfach "debunkte" Falschnachricht eingegangen, dass Flüchtlinge kostenlos einen Führerschein erhielten:

"(Dies) ist eine wiederkehrende Fake News, die im Januar, Juli und im Oktober 2017 immer wieder für Aufmerksamkeit sorgte, vorrangig in den sozialen Netzwerken. Aufgrund ihres wellenartigen Wiederkehrens, haben wir in diesem Fall den Analysezeitraum bis in den Januar 2017 zurückgelegt, um alle Wellen empirisch zu erfassen."

Als Ursprung dieser Fake News machen Studienautoren in ihrem Untersuchungszeitraum den

"Artikel 'Asylbewerber bekommen den Führerschein zum Nulltarif' auf Votum24 vom 26.01.2017 (aus). Die Seite selbst ist eine klassische Fake-News-Plattform, die wahrscheinlich aus ökonomischen Gründen versucht mit Desinformation Geld zu verdienen (…) Bereits im Jahr zuvor ist die Fake News im Umlauf, was ein Debunking im Sat.1-Frühstücksfernsehen vom 11.02.2016 belegt. Die erste Welle im Januar 2017 wurde dann von mimikama debunkt: Geflüchtete bekommen wie Deutsche den Führerschein von der Agentur für Arbeit nur dann bezahlt, wenn es sich um eine Qualifizierungsmaßnahme handelt. Im Juli gibt es dann eine neue Welle an Postings und ein erneutes Debunking, diesmal durch Buzzfeed. Dass sich die Fake News derart hartnäckig hält, liegt vor allem daran, dass sie immer wieder von rechtspopulistischen Akteuren in den sozialen Netzwerken gestreut wird. So wird die Oktoberwelle durch einen Artikel des rechtsextremen Blogs halle-leaks.org ausgelöst."

"Der erfolgreichste Debunking-Artikel" zu diesem Thema, er stammt von Vice Motherboard, erscheint schließlich während dieser dritten Welle.

Arbeit im Gesichtsbuchladen

In der Debatte um die Folgen der Enthüllungen in Sachen Facebook und Cambridge Analytica – siehe auch die Altpapier-in-eigener-Sache-Passagen in den Kolumnen von Freitag und Montag – ist natürlich längst noch nicht alles gesagt. Durchaus instruktiv ist ein Mashable-Beitrag, in dem es darum geht, dass Facebook mehr von uns will als unsere Daten:

"The Cambridge Analytica scandal has driven away some users — mostly those troubled by how Facebook harvests personal information. But don't forget that Facebook takes something else from you, too: your labor (…) You're working to keep the site humming and vibrant, and you're creating reasons for others to keep scrolling. Your job is to drive people to the platform and keep them there."

Und wie viel malochen wir nun für Facebook?

"In 2016, users spent an average of 50 minutes a day using Facebook products, including Instagram and Messenger. That number has declined recently, but let's say you spend, say, 35 minutes a day on the site. That's 26 eight-hour days a year."

Von der Interaktivität zur Interpassivität

Um die Debatte etwas aufzufrischen, sind möglicherweise einige theorielastige bis philosophische Erörterungen hilfreich: Einige sehr aktuelle Aspekte enthält ein entsprechender Text des Medientheoretikers Geert Lovink, der bereits Mitte März in der Vierteljahreszeitschrift Lettre International erschienen ist (und spätestens Anfang Februar fertiggestellt worden sein dürfte). Online sind Auszüge verfügbar. Lovink, im Altpapier zuletzt vor einem halben Jahrzehnt in Sachen Facebook zitiert, schreibt unter der Überschrift "Epidemie der Ablenkung":

"Was heißt es, dass wir uns (der) 'organisierten Ablenkung' bewusst geworden sind? Wir wissen, dass wir weggezogen werden, aber lassen uns trotzdem immer wieder unterbrechen – so geht Ablenkung 2.0. Eine ähnliche Unzufriedenheit ist in meiner eigenen Netzkritik-Filterblase zu spüren. Was tun, wenn wir erst einmal alle gemerkt haben, dass wir von allen Seiten in die Ecke gedrängt werden und uns mit dieser mentalen Unterwerfung abfinden müssen? Welche Rolle spielen Kritik und Alternativen in einer so aussichtslosen Situation der Allgegenwart? (…) Stellen wir unsere Unfähigkeit, die Internetarchitektur zu ändern, einmal in den Kontext der größeren 'Demokratiemüdigkeit' und des Aufstiegs des populistischen Autoritarismus (…)."

Lovink spricht aber auch von einer "Kehrseite" der Kritik:

"Kritische Analysen münden oft, ohne es zu wollen, in moralischen Urteilen. Wäre es nicht besser, die unangenehme Frage zu stellen, warum überhaupt so viele in den Abgrund der sozialen Medien gelockt werden konnten? Liegt es vielleicht an der 'Desorganisation des Willens', von der Eva Illouz spricht? Viele, die den Nutzen von Facebook, WhatsApp und Instagram verteidigen, empfinden gleichzeitig ein Unbehagen angesichts der moralischen Überwachung durch CEO Mark Zuckerberg und vermengen so rationale Überlegungen und persönliche Ambivalenz, was vor allem aber eine allgemein spürbar Unfähigkeit zu grundsätzlichen Lebensentscheidungen verdeckt. Illouz beschreibt dies als 'coole Ambivalenz', eine neue Architektur der Wahl, die in eine Krise des Bekenntnisses zum Partner führt und sich als Muster auch in der Debatte über die sozialen Medien wiederfindet. Ich möchte weggehen, aber ich kann nicht. Es gibt mir so viel, aber es langweilt mich auch. Es ist nützlich, aber auch abstoßend (…)"

In der Debatte um unser Verhältnis zu Facebook sollten wir also nicht nur "unsere" Unfähigkeit im Blick haben, im sog. Real Life politische Alternativen zu formulieren geschweige denn umzusetzen, sondern auch unsere generelle "Unfähigkeit zu grundsätzlichen Lebensentscheidungen".

Unabhängig von der aktuellen Facebook-Debatte – die Lovink, wie gesagt, nicht vorausahnen konnte – ist unter anderem folgender Gedanke interessant:

"Eine weitere regressive Tendenz ist die 'televisuelle Wende' der Web-Erfahrung infolge des plattformübergreifenden Aufstiegs der Online-Videos, der Wiederherstellung klassischer Fernsehkanäle auf Internetgeräten und der Zunahme von Streamingdiensten à la Netflix. Ein Reddit-'Showerthought' beschrieb es so: 'Internetsurfen ist heute, was früher Fernsehen war, einfach durch eine Handvoll Websites zappen und schauen, was es Neues gibt.' Dass die sozialen Medien zum neuen Fernsehen werden, fügt sich ein in die fortschreitende Erosion der einst gefeierten partizipativen Kultur, eine Verschiebung von Interaktivität zu Interpassivität."

Es geht also nicht um das, was jeder und sein Hund erzählen – Streaming ist das neue Fernsehen –, sondern darum, dass das abendliche Couchsurfen bei Facebook und Twitter nicht zwangsläufig, aber zumindest tendenziell dem unproduktiven Herumzappen auf der Fernbedienung ähnelt. Dass jene, die auf dem Sofa nicht quasi zappen, sondern arbeiten, auch ein Teil des Problems sind, steht weiter oben im Mashable-Text.

Eine "Nebelkerze" aus München?

Das DLF-Magazin "@mediasres" ist auf die Idee gekommen, ein vom ARD-Vorsitzenden und BR-Intendanten Ulrich Wilhelm bereits im Januar formuliertes, aber "weitgehend unbeachtet" gebliebenes Visiönchen zu "einer Art 'Super-Mediathek'" in den Kontext der aktuellen Debatte zu stellen und sie als prinzipiell nicht unmögliche "Alternative zu sozialen Netzwerken und anderen Angeboten von Facebook und Google" zu präsentieren. Platz finden sollen dort, so Autor Daniel Bouhs, "öffentlich-rechtliche, aber auch viele andere Inhalte", nämlich von Verlagen. Michael Hanfeld hanfeldet dazu erwartungsgemäß in der FAZ (nicht frei online):

"Es können und sollten nicht alle einfach so gemeinsame Sache machen. Das Problem der Netzkonzerne löst man so auch nicht. Ihnen gilt es mit durchdachter Digitalgesetzgebung zu Leibe zu rücken, bestehendes Recht durchzusetzen und den Nutzern klarzumachen, was es mit Facebook & Co. auf sich hat. Die Nebelkerze des ARD-Vorsitzenden hilft da nicht weiter."

Die fatale Idee mit den Steuern

Zu den, einigermaßen neutral formuliert: Problemen, die es mit sich bringt, wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht mehr durch eine Gebühr oder eine Haushaltsabgabe finanziert wird, sondern über Steuern, haben wir hier im Altpapier kürzlich den ORF-Moderator Armin Wolf zitiert. In besagtem Beitrag legt er dar, dass die in Österreich mitregierende FPÖ eine Umstellung der Finanzierung anstrebt. In Dänemark ist das bereits beschlossene Sache (siehe Altpapier) – womit sich nun ausführlich Volker Nünning in einem Leitartikel für die aktuelle Medienkorrespondenz befasst. Beschlossen hat’s im Nachbarland eine "rechtsliberale Minderheitsregierung", und zwar "in einer Vereinbarung mit der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei", die man leicht salopp als eine Art dänische FPÖ bezeichnen könnte. Die Opposition kritisiert den Beschluss zwar, aber nicht wegen der Umstellung des Finanzierungsmodells an sich, sondern weil damit massive Budgetkürzungen für Danmarks Radio einhergehen. Nünning erläutert:

"Die Finanzierung von Danmarks Radio über Steuern befürworten die Sozialdemokraten und die Linkssozialisten (…) ebenso wie die Regierung und die Dänische Volkspartei."

Ja, spinnen die denn alle, da oben in Dänemark? Nünning meint:

"Da Danmarks Radio demnächst über Steuern finanziert wird, dürfte die Sendeanstalt stärker in die Gefahr geraten, abhängig von der Regierung und deren Parlamentsmehrheit zu werden, weil diese künftig direkter Einfluss nehmen können auf das Budget, das der Rundfunkanstalt bewilligt werden soll."

Am vorvergangenen Wochenende hatte ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz bereits in der SZ (€) gesagt:

"Man sieht an unterschiedlichen Beispielen, von Holland bis Spanien, dass eine Finanzierung aus dem Staatsbudget nicht funktioniert. Bei allgemeinen Budgetkürzungen würde immer am Rundfunk gekürzt werden – und man müsste alle zwei Jahre mit der Regierung übers Budget verhandeln. Mit derselben Regierung, über die man kritisch berichtet. In Holland stehen sie jetzt bei sechzig Prozent des Budgets, das es noch vor ein paar Jahren gab."

Gonzojournalismus, my ass!

Hardy Prothmann galt mal als tendenziell innovativer Online-Lokaljournalist, mittlerweile hat er sich allerdings in jener Gegend niedergelassen, in der die Schränke keine Tassen haben. Sein Rheinneckarblog ist nun durch einen erfundenen Bericht über den "bisher größten Terroranschlag in Westeuropa" bundesweit auffällig geworden. "Aufmerksamkeit für mögliche Bedrohungslagen" habe man unter anderem wecken wollen, sagt Prothmann. Er ordnet das Textchen zudem in die Kategorie "Gonzo-Journalismus" ein.

Über die von epd medien hier twitternd persiflierte Aktion hat Jenny Stern fürs "#faktenfuchs"-Portal von BR 24 mit Thomas Mrazek, dem Pressereferenten für Digitale Kommunikation bei Bayerischen Journalisten-Verband, gesprochen. Dieser sagt:

"Solche Experimente haben – auch wenn der Urheber Hardy Prothmann dies vehement bestreiten mag – überhaupt keinen Erkenntnisgewinn, viel schlimmer ist jedoch, dass sie womöglich einen unmittelbaren und immensen Schaden bei den Nutzern und in diesem Fall bei betroffenen Behörden und Kommunen anrichten können."

Michael Hanfeld kommentiert in der FAZ:

"Dieser 'Terroralarm' in Mannheim (…) sorgt nur für sinnlosen Terror im Netz."

Ach ja, kurz noch: Ein Artikel, der von einem fiktiven Ereignis berichtet, ist kein Gonzo-Journalismus. Was Gonzo-Journalismus ist bzw. war, steht zum Beispiel hier und hier. Und wer etwas darüber erfahren möchte, wie Gonzo-Journalismus entstanden ist, kann im übrigen auch einen Blick in das Porträt des Rolling-Stone-Gründers Jan Wenner werfen, das gerade im Spiegel (€) erschienen ist.

Um es mit Caroline Schmüser (Correctiv) zu sagen:

"Oftmals wird dabei der Journalist als Ich-Erzähler selbst zum Protagonisten. Der Journalist nähert sich mit Sarkasmus, Polemik und Selbstironie einem Thema. So vermischen sich reale, autobiographische und oft auch fiktive Erlebnisse."

Selbst wenn es sich bei dem von vielen Seiten angegriffenen Text um "Gonzo-Journalismus" handeln sollte: Dass dieses Genre "auf einem Nachrichtenportal überhaupt nichts zu suchen hat", betont der eben schon zitierte Thomas Mrazek.

Zusammenfassend ließe sich sagen: Im übertragenen Sinne pinkelt Prothmann, der sich hier "in eigener Sache" bzw. "exklusiv" äußert, auf das Grab von Hunter S. Thompson.

Altpapierkorb (Was der WDR mit seinem historischem Archivmaterial tun sollte, was der WDR gerade gelöscht hat, die RTLisierung der LfM, Tilo Jung im linearen Fernsehen)

+++ "Filmfestspiele verbannen Netflix aus Wettbewerb", titelt Spiegel Online mit Blick auf das kommende Festival in Cannes, aber ob es beabsichtigt ist, dass man bei dem Begriff "verbannen" Lager in Sibirien assoziiert, vermag ich nicht zu sagen.

+++ Anlässlich der beiden Essayfilme "Offene Wunde deutscher Film" und "Verfluchte Liebe deutscher Film" von Dominik Graf und Johannes F. Sievert, die kürzlich im WDR zu sehen waren, schreibt Dietrich Leder in der Medienkorrespondenz: "Wenn jetzt der WDR auch einmal ähnlich kritisch und stolz zugleich mit seiner eigenen Geschichte umginge wie hier mit der des Kinos, statt diese allein in netten Schnipselfilmen zu Reklamezwecken zu verramschen, wäre das ein Fortschritt." Ein Beispiel für die beschriebene Geschichtsverramschung: der im vergangenen Jahr gesendete Mehrteiler "Die verrückten 70er – Das wilde Jahrzehnt der Deutschen".

+++ WDR (II): Aus der vergangenen Woche wäre noch nachzutragen, dass der Sender nach Protesten einen durchgeknallten Beitrag gelöscht hat, der auf der von ihm verantworteten Plattform Türkei unzensiert erschienen ist. "Wenn das Kurdenproblem langsam aber sicher 'palästiniert' wird", lautete die Überschrift des hier noch abrufbaren Beitrags. Damit setzte der Autor Mustafa Alp Dağıstanlı "das türkische Vorgehen mit der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern gleich", kritisiert der Deutschlandfunk in einem Bericht über die Löschung. Dağıstanlı hatte unter anderem geschrieben: "Die AKP, die nicht zögert, Israel zu kritisieren, ist auf den Spuren Israels, wenn es um abschreckende Wirkung, Arroganz, Grausamkeit und darum geht."

+++ Mit der RTLisierung der LfM-Spitze geht's voran. Jedenfalls meldet die Medienkorrespondenz: Petra Gerlach, zuletzt bei der RTL-Gruppe stellvertretende Leiterin des Bereichs "Medienpolitik" ist nun bei der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) in Düsseldorf Leiterin des Bereichs "Medienpolitik und -ökonomie". Leiter des Bereichs "Medienpolitik" bei der RTL-Gruppe, also Gerlachs Chef, war bis Ende 2016 Tobias Schmid. Der ist seit Anfang 2017 Direktor der LfM – und nun auch wieder Gerlachs Chef. Deren Stelle wurde, wie die MK, Anfang Januar 2018 neu geschaffen", aber allzu überraschend dürfte das für die Medienpolitikgourmets unter unseren Lesern nicht sein. Ist das nicht alles fast zu schön, um wahr zu sein?

+++ Wie reagiert man auf einen Troll? Michael Bittner hat einem, der ihm schrieb, die Beiträge, die er und sein Widerpart Werner Patzelt für die Kolumne "Besorgte Bürger" in der Sächsischen Zeitung lieferten, seien "nur bezahlte Inszenierungen, um von den Problemen unserer geliebten BRD abzulenken", in seinem Blog geantwortet: "Ich gestehe Ihnen offen, dass es letztlich die Bezahlung war, die meine eigenen Gewissenszweifel überwältigt hat. Ein Euro über dem Mindestlohn! Wo bekommt man das noch! Und das für eine eher entspannte Tätigkeit als Marionette der Mächtigen, bei der man nicht einmal selber denken muss (…) Ich kann Sie nur inständig bitten: Bitte zerstören Sie meine Existenz nicht, indem Sie das große Geheimnis verraten! (…) Ich verspreche Ihnen, dass ich mich bemühen werde, eine finanzielle Entschädigung für Sie mit meinen Auftraggebern auszuhandeln. Ich muss Sie aber auch warnen: Sollten Sie mit Ihren Enthüllungen an die Öffentlichkeit gehen, bleibt mir nichts übrig, als ein Mossad-Kommando in Marsch zu setzen. Und eines Tages kitzelt Sie beim Abendbrot ein rotes Pünktchen auf der Stirn. Lassen Sie uns doch bitte gemeinsam solche unschönen Geschehnisse vermeiden!"

+++ In einem Interview mit der Welt (€) sagt Rainer Robra, Sachsen-Anhalts Rundfunkreform-Superman in spe: "Mein Anliegen war und ist, dass sich ARD und ZDF bei ihren Hauptsendern vor allem im Abendprogramm immer ähnlicher werden. Wenn sie da nicht ein Logo einblenden würden, dann wüsste man oft nicht, welcher Sender gerade läuft." Also, ich wüsste’s schon (falls das eine Rolle spielt). Robra weiter: "Die ARD ist doch dem Ursprung nach eine Arbeitsgemeinschaft regionaler Sender. Dann hat sich das Erste als nationales Hauptprogramm immer mehr verselbstständigt. Ist in einen Wettbewerb mit dem ZDF eingestiegen. Bis hin zu unverständlichen Programmierungen. Neulich liefen an einem Samstagabend sowohl in der ARD wie im ZDF zwei Krimis hinter- und gegeneinander." Ach, echt jetzt? Ich habe ja neulich schon einmal angedeutet, dass ich die Kritik an zu vielen Krimis – so berechtigt sie auch ist – langsam etwas ermüdend finde.

+++ Apropos Krimi: Im ZDF ist heute erstmals der achte "Soko"-Ableger am Start. Schauplatz: Hamburg. "Bloß nicht zu viel Binnenspannung, Dialoge und Klärungsbedarf, damit die Geschichte in 42 unterhaltsame Minuten im ZDF-Vorabend passt, exklusive Werbung" – das scheint die Devise der Macher gewesen zu sein, wenn wir Markus Ehrenberg (Tagesspiegel) glauben dürfen.

+++ Zwiespältig fallen die Urteile zum Arte-Film "Follow Me: Arabische Videostars" aus, in dem Tilo Jung Videoblogger aus Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Syrien trifft. "Mit 52 Minuten Filmlänge kann man einem Thema förmlich die Luft abschneiden. Die arabische Welt ist vielfältiger, als sie sich hier darstellen kann, und der frische Ton des Films der richtige, um vor allem ein jüngeres Publikum zu erreichen", lautet das teilweise etwas kurzatmige Fazit Hans-Jürgen Rothers im Tagesspiegel. Dunja Ramadan (SZ) schreibt: "Ein (…) Schwachpunkt der Doku ist, dass die westlichen Maßstäbe für konservativ, säkular, liberal, strenggläubig eins zu eins in die arabische Welt übertragen werden. So klingen die Crashkurse über arabische Länder sehr oberflächlich (…) Dennoch gelingt es Autorin Anna Moll und Regisseur Farid Eslam zu zeigen, wie vielseitig und lebendig die arabische Bloggerszene ist."

+++ Auf der FAZ-Feuilletonaufmacherseite schreibt Andreas Kilb über die auch schon anderswo (siehe etwa Deutschlandfunk Kultur) besprochene Robert-Lebeck-Ausstellung in Wolfsburg, die für den Stern entstandene Fotos aus dem Jahr 1968 zeigen: "Man fährt nach Wolfsburg, um die Bilder eines Umbruchs zu sehen, und kehrt mit einer Lektion über den Umbruch von Bildern zurück. Warum, beispielsweise, hat der Stern Lebecks Fotos von der Documenta, die wunderbar sprechenden Porträts von Joseph Beuys und seiner Familie – der Junge in kurzer Hose, das Mädchen mit Rock und Zöpfen, die Ehefrau im hellen Plastikmantel –, von Robert Rauschenberg mit Colaflasche und Ed Kienholz im Lehnsessel nicht gedruckt? Vermutlich, weil sie den Blattmachern zu unaufgeregt waren, ganz anders als die Aufnahmen der Freigängerin Gisela K., die zu Lebecks schwächeren Arbeiten gehören, weil sie vor allem das Stereotyp der jungen, attraktiven Mörderin aus Eifersucht bedienen, mit dem das Magazin die Story verkaufte. Und doch sieht man auch hier etwas, mit dem man nicht gerechnet hat: ein filmisches Vorbild. Lebeck muss Alexander Kluges 'Abschied von gestern' gesehen haben, denn er inszeniert Gisela K., als wäre sie die kleine Schwester von Kluges Heldin Anita G.: der Magazinfotograf als Komplize des Autorenfilmers."

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.