Kolumne: Das Altpapier am 7. Mai 2025: Porträt der Altpapier-Autorin Antonia Groß 5 min
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Friedrich Merz musste eine extra Runde Kanzlerwahl durchlaufen, die Medien haben das einhellig mit einem Lieblingswort beschrieben. Die rechtsextreme AfD durfte gut gelaunt kommentieren.

Mi 07.05.2025 12:19Uhr 04:49 min

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Kolumne: Das Altpapier am 7. Mai 2025 Karma is a bitch, Friedrich

07. Mai 2025, 10:16 Uhr

Friedrich Merz musste eine extra Runde Kanzlerwahl durchlaufen, die Medien haben das einhellig mit einem Lieblingswort beschrieben. Die rechtsextreme AfD durfte gut gelaunt kommentieren. Heute kommentiert Antonia Groß die Berichterstattung.

Porträt der Altpapier-Autorin Antonia Groß
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Achtung, Staatskrise

Am Dienstag gab es ein historisches erstes Mal im Bundestag. Wenigstens halbtags. Für sechs kurze, aber für klick-trächtige, nachrichtliche Medien goldene Stunden kippelte die neue Regierung. Sechs Stunden - mehr als genug Zeit, um die Skandal-Schlagzeilen-Maschine anzuwerfen.

Friedrich Merz, Chef der CDU und am gestrigen Tag noch einen Moment länger als vorausgesagt der Kanzler in spe – verlor den ersten Wahldurchlauf im Bundestag. Denn 18 Stimmen aus den Fraktionen der Koalitionsparteien (SPD und Union) fehlten. Noch am Vorabend schien das Ding geritzt, also wenigstens "ziemlich sicher", wie einige Medien aus Agenturen übernahmen (etwa laut "dpa"-Meldung in der "taz") – und geritzt wurde es dann am Dienstagabend ja doch noch – im zweiten Durchgang wählte eine knappe, aber ausreichende Anzahl an Abgeordneten den neuen Kanzler ins Amt.

Doch für eine Dauer von eben rund sechs Stunden kippelte die Kanzlerschaft des Friedrich Merz. Für typisch bundesdeutsche, politische Abläufe quasi gleichbedeutend mit völligem Chaos. So hat es jedenfalls manch ein Medium sofort eingetütet.

Der Allzeit-bereit-Politik-Kommentator Robin Alexander etwa sagte bei "Welt TV" nur eine Stunde nach dem ersten Wahldurchlauf:

"Wir kommen jetzt in eine Staatskrise". Nein, schlimmer noch: "Unser Land wackelt".

Hätte es nicht gereicht, zu sagen: "Karma is a bitch, Friedrich"?

Wäre wohl weder skandalös noch seriös noch deutsch genug gewesen. Der Wissenschaftler und Blogger Manuel Müller kommentierte die Geschehnisse im "wackelnden Land" Deutschland auf der Plattform "Bluesky" (im Original auf englisch) dagegen so:

"Deutschland wird immer besser in politischen Krisen, aber im Vergleich zu anderen europäischen Demokratien sind sie immer noch ziemlich langweilig. Ein halber Tag Aufregung, und am Ende kriegt man das Ergebnis, das alle von Anfang an erwartet haben."

Deutschland kann also Staatskrise, bloß langweilig. Aber nicht nur die deutsche Politik kann Langeweile, auch deutsche Medien können was – und zwar darüber mit einfallslosen Schlagzeilen berichten.

Doch keine Staatskrise

In der Frage, woran es lag, dass im ersten Wahlgang die Stimmen von 18 Abgeordneten fehlten, kamen die Berichterstattenden am Dienstag nicht sehr weit – denn die Abstimmung war geheim. Doch ob sie nun in der Unions- oder in der SPD-Fraktion saßen: Gemunkelt wird, ein paar Enttäuschte hätten dem neuen Kanzler einen Denkzettel verpassen wollen. Zugegeben, solche Analysen fassten die Halbtags-Aufregung gut recherchiert und argumentiert, aber schlagzeilen-mäßig in Varianten von "Rückschlag" zusammen, führten die fehlenden Stimmen also auf Merz‘ jüngste Entscheidungen zurück. Karma is a bitch, in Nachrichtensprache.

So nennt die Politikredakteurin Anna Lehman Merz‘ Niederlage bei der "taz" einen "Bauchklatscher". Ein Kommentar in der "Süddeutschen" Zeitung titelt "Zweite Wahl", ein Kommentar auf tagesschau.de nennt Merz‘ Einzug ins Amt "ramponiert". Und "Spiegel Online" zieht am Abend sechs Lehren aus dem "holprigen Start" des neuen Kanzlers. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" spricht von einem "Tiefschlag" und der britische "Guardian" von einem "demütigenden Verlust".

Aber dann sind da noch all diese anderen Titel. So viele Titel, aber nur ein Wort: Debakel.

Wie bei der "Frankfurter Rundschau": das "Merz-Debakel". Oder ein "beispielloses Debakel", bei "t-online". Ein "Debakel im ersten Wahlgang", bei der "Deutschen Welle". Oder war es doch ein "komplettes Debakel", wie bei der "Welt"? Die "Gala" dreht sogar was Positives draus, und freut sich, dass Merz‘ Frau und Töchter nach dem "Wahl-Debakel" doch noch jubeln konnten. Und "Focus Online" schwankt zwischen "Wahl-Debakel" und "Total-Debakel" – bedient sich aber in beiden Texten der Nicht-Nachricht, die Staatskrise sei noch einmal "abgewendet". "N-TV" findet, im "Wahl-Debakel" stecke auch "eine Chance", auch wenn Merz im ersten Wahlgang "brutal gegen die Wand gelaufen" sei. Und aus Österreich kommentiert der ORF-Moderator Armin Wolf den Tag auf "Bluesky", was sonst – als ein "politisches Debakel".

Der Begriff ist praktisch, denn er ist vage, er kann nicht ganz falsch sein, er sagt: irgendwas ist schief gegangen, die Konsequenzen sind noch unklar. Debakel hat viele weitere, vage, aber drastische Synonyme: Niederlage natürlich, aber auch Tragödie, Misserfolg, Ruin, Flop, Fiasko, Schlappe. Der "Duden" ist in der Bedeutung eigentlich präzise, da steht, "Debakel" ist ein

"Zusammenbruch, Niederlage; unheilvoller, unglücklicher Ausgang".

Wirkt als Beschreibung der langweiligsten Staatskrise der Geschichte etwas übertrieben. Das Land wackelt doch jetzt nicht mehr?

Doch, Staatskrise

Das kommt auf die Perspektive an. In Wahrheit steckt die Bundesrepublik natürlich längst in einer Staatskrise. Ein Ausdruck davon, aber einer, der seit dem 1. Mai auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz verbrieft ist, wäre die gar nicht mal so kleine Fraktion einer "gesichert rechtsextremistischen" Partei im Bundestag. Teil der Krise ist die politische Normalisierung ihrer menschenfeindlichen Positionen, und Teil der gesellschaftlichen Debatte ist die tragende Rolle der Medien dabei (Altpapier), frisch angeheizt durch die eben erwähnte Einstufung in der vergangenen Woche.

Bei "Übermedien" hat Redakteurin Annika Schneider die über das Wochenende vor allem gegen die ARD gerichtete Kritik eingeordnet. Kurz nach Bekanntwerden der Einstufung durch den Verfassungsschutz luden nämlich gleich mehrere ÖRR-Formate ausgerechnet das AfD-Spitzenpersonal zum (live-)Interview ein. Die Empörung war zu recht groß, in Sozialen Medien wurde zu Programmbeschwerden aufgerufen. Der Grund für den Ärger: Die fortschreitende Normalisierung der Partei und ihrer Positionen durch die Bühne, die sie im Fernsehen bekommen.

Mit Blick zurück auf die Berichterstattung zum "Merz-Debakel" im Bundestag könnte man allerdings meinen, das alles wäre nicht erst vor wenigen Tagen wieder einmal hochgekocht: Bei der Menge an Berichten über die "feixende" Weidel ("Welt") oder die "jubelnde" AfD ("FR").

Besonders geschickt ungeschickt macht es etwa die "FAZ" in einem Artikel, gegen Mittag erschienen, also noch vor dem für Merz erfolgreichen zweiten Wahldurchgang. Er beginnt mit einem gut gelaunten Einstieg:

"Die AfD konnte ihr Glück am Dienstagmorgen kaum fassen: Friedrich Merz (CDU) wurde im ersten Wahlgang nicht zum Kanzler gewählt – ein willkommener Anlass für die Partei, wieder über die vermeintliche Inkompetenz der angehenden Koalitionäre herzuziehen."

Darauf folgt ein Text mit vielen, vielen freudigen Zitaten aus der AfD. Ebenso gut gelaunt. Und dann:

"Gerade deshalb schien es der Partei, die vom Verfassungsschutz seit wenigen Tagen als gesichert rechtsextremistisch eingestuft ist, wichtig, schnell ihre Deutung des Geschehens möglichst weit zu verbreiten."

Die "Deutung des Geschehens" der AfD zu verbreiten, um einen Satz später darauf zu verweisen, dass die AfD gern ihre "Deutung des Geschehens" möglichst weit verbreiten will, ändert nun allerdings nichts an der Tatsache, dass so ein Artikel die "Deutung des Geschehens" der AfD verbreitet.


Altpapierkorb (FPÖ greift Journalistin an / NDR zum Fall Lorenz A. / "Ruhegelder" im ÖRR)

+++ Die "Standard"-Journalistin Colette Schmidt hat über einen Kandidaten der FPÖ berichtet, der bei der Wahl in Wien angetreten ist und wegen NS-Wiederbetätigung rechtskräftig verurteilt wurde. Die FPÖ attackierte die Journalistin daraufhin auf der Plattform "X", die Chefredaktion der österreichischen Zeitung verteidigt Schmidt nun öffentlich.+++

+++ Der NDR hat ein FAQ zum Fall Lorenz A. veröffentlicht (Altpapier). Der 21-Jährige wurde am Ostersonntag von einem Polizist erschossen, kurz darauf kursierten Falschmeldungen über die Tat. Aljoscha Hoepfner kommentiert bei "Übermedien": In den FAQ des NDR stehe, "dass es um die Frage, ob Lorenz A. ein Messer bei sich hatte, "zunächst einige Verwirrung" gegeben habe. Der Sender räumt ein: "Zwischenzeitliche Informationen, die auch der NDR  veröffentlichte, wonach Lorenz A. kein Messer bei sich gehabt haben soll, erwiesen sich als falsch." Hoepfner schreibt: "Dass er [der NDR] selbst die Quelle war, steht dort nicht."+++

+++ In der "FAZ" hat Helmut Hartung die Summen aus unterschiedlichen Recherchen zusammengetragen, die verschiedene Rundfunkanstalten ehemaligen Führungskräften an "Ruhegeldern" – zusätzlich zur Pension, bis ans Lebensende – überweisen (Altpapier).+++

Das nächste Altpapier schreibt Ralf Heimann.

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