Das Altpapier am 25. Juni 2018 Die Kritik der Papageien

Stehen die Öffentlich-Rechtlichen einseitig hinter Angela Merkel? Kritisieren sie die CSU zu stark? Und: Ist das überhaupt wirklich das Gleiche? Der Bundesinnenminister derweil wirft deutschen Medien "Fake News" vor. Ziehen jetzt US-amerikanische Verhältnisse ein? Ein Altpapier von Klaus Raab.

"Manche fordern, dass sich Leute, die beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen arbeiten, mit ihrer Meinung zurückhalten sollten. Wer sein Gehalt aus Mitteln beziehe, die wie eine Steuer erhoben werden, habe eine Neutralitätspflicht."

Schreibt Jan Fleischhauer in seiner Kolumne im gedruckten Spiegel. Er selbst fordere keine Meinungsabstinenz, schreibt er weiter. Aber dann kommt dieser Satz:

"Ich wünschte mir manchmal nur, es ginge nicht ganz so einseitig zu."

Es handelt sich bei Fleischhauers Text um einen Meinungsbeitrag. Allerdings wurde der Einseitigkeitsvorwurf in den vergangenen Tagen mehrfach erhoben, so dass man ihm vielleicht mal nachgehen sollte. Berichten die Öffentlich-Rechtlichen einseitig über den sogenannten Asylstreit der sogenannten Union, in dem es um den sogenannten Masterplan des sogenann… – nein, des tatsächlichen Bundesinnenministers geht? Berichten sie einseitig über den Großkomplex Flucht, Migration, Asyl, nämlich, wie – von Fleischhauer etwa schon in der Überschrift ("Merkels Leibgarde") – unterstellt wird, einseitig "pro Merkel"?

Wenn wir vorab schon mal kurz einen nicht ganz unwichtigen Satz aus dem Podcast von Christian Meier (Welt) und Stefan Winterbauer (Meedia) herauspicken dürfen: "Es gibt keine Studie dazu." (Die einzige Studie, die es bislang gibt, worauf auch der Podcast hinweist, behandelt nur die Berichterstattung über die sogenannte "Flüchtlingskrise" in ausgewählten Zeitungen im Sommer 2015; siehe Altpapier.)

Es lohnt sich also, etwas genauer hinzuschauen, worauf sich der Vorwurf gründet. Jan Fleischhauer gründet ihn in seiner Kolumne auf einen Tweet von Anja Reschke vom NDR und auf eine neunminütige Ausgabe des "Heute Journals" vom Samstag, dem 16. Juni, ausgestrahlt in der Halbzeitpause eines Fußballspiels:


Barbarei oder Merkel?

"Als das 'Heute Journal' vor ein paar Tagen über die Regierungskrise berichtete, folgte auf den Bericht aus Berlin ein Beitrag über die Abschiebepraxis in Amerika. Man sah weinende Mütter, herzzerreißende Szenen. Absturz in die Barbarei oder Merkels europäische Lösung, das war die Alternative, mit der das ZDF seine Zuschauer entließ",

schreibt Fleischhauer. Tatsächlich berichtete das "Heute Journal" zunächst über den Unionsstreit und direkt danach, auch mit Reportage-Elementen, über die vor einer Woche geübte Praxis in den USA, zuwandernde Familien zu trennen, wenn sie ohne Papiere die Grenze in die USA übertreten.

Was fällt an dieser Medienkritik auf? Zunächst einmal, dass sie, wenn auch erheblich schärfer, fünf Tage zuvor schon bei cicero.de zu lesen war: Alexander Kissler hat dort dieselbe Sendung kritisiert, zum Teil in den gleichen Worten. Die "Barbarei oder Merkel"-Passage lautete bei ihm: "Merkel oder Barbarei. So lautet die Alternative, die uns an vielen Stellen präsentiert wird in Zeitungen, im Radio, im Fernsehen."

Dass ein Journalist sich von einem anderen inspirieren lässt, ist kein Grund zur Aufregung. Ich frage mich nur: Hat Fleischhauer die kritisierte Sendung selbst gesehen, bevor er sie als – abgesehen von einem Tweet – einzigen Beleg für seine Einseitigkeitsthese in seine Kolumne stellte? Kisslers Kritik ist jedenfalls stellenweise abenteuerlich:

"Keinen Neuigkeitswert und keinen aktuellen Anlass hatte der Korrespondentenbeitrag" aus den USA, behauptete er, bevor er raunte: "Er wurde vermutlich deshalb an diesem Tag an dieser Stelle gebracht, um genau diese Verbindung herstellen zu können: Von Seehofers 'Masterplan' zu den amerikanischen Mauerbauplänen sollte eine direkte Linie gezogen werden".

Wie kommt man auf so etwas? Am Freitag hatte die US-Regierung trotz stärker werdenden Gegenwinds angekündigt, an der Praxis festzuhalten; auch die deutschen Nachrichtenagenturen berichteten über die US-Debatte, die an den folgenden Tagen von sehr vielen deutschen Politikressorts aufgegriffen wurde. Die Bilder weinender Müttern und Kinder hatten schon insofern Nachrichtenwert, als sie für die Entwicklung der Diskussion in den USA eine entscheidende Rolle spielten. Und was hätte man sonst zeigen sollen, was wäre der Sache angemessen gewesen: Trump im Oval Office?

Für Kissler ist das keine Frage. Er kritisiert, dass der Beitrag überhaupt ausgestrahlt wurde:

"Diesen Beitrag unmittelbar auf die Berliner Innenpolitik folgen zu lassen – statt etwa über den Kölner Sprengstofffund im Islamisten- und Flüchtlingsmilieu zu berichten, was komplett unterblieb – und beide Beiträge redaktionell zu verfugen, bedeutet: Wir sehen dasselbe Stück in neuer Besetzung."

Die Berichterstattung über den besagten Sprengstofffund ist allerdings im ZDF keineswegs unterblieben: Ein Ausflug in die Mediathek zeigt, dass er im "Heute Journal" zwei und drei Tage zuvor Thema war. Man stelle sich vor, was los gewesen wäre, hätte das ZDF tatsächlich erst am Samstag darüber berichtet.

Und was die "redaktionelle Verfugung" der Beiträge über die deutsche Innenpolitik und die US-Migrationspolitik angeht: Sie besteht laut Kissler im überleitenden Satz von Marietta Slomka, "auch in den USA wird über Migrationspolitik heftig diskutiert." Ihm missfällt hier das Wort "auch": "Am 'auch' hängt eine Weltanschauung."

Ich habe den Verdacht, die Weltanschauung hängt eher am Satz "Am 'auch' hängt eine Weltanschauung."


Wie sieht Journalismus denn dann aus?

Diese "Heute Journal"-Ausgabe ist ein zentrales Dokument der Kritik, "die" Öffentlich-Rechtlichen seien pro Merkel. Und sonst so? Hier eine sicher unvollständige Liste weiterer Beispiele, die mir als Belege für die große These untergekommen sind:

  • ein Wirtschaftsgespräch im Deutschlandfunk, in dem, so Jasper von Altenbockum bei Twitter, "unvermittelt CSU-Bashing" betrieben worden sei. Tatsächlich gab es hier recht plötzlich einen Ausflug von nüchtern zu persönlicher Einschätzung.
  • die These von Thomas Walde in Nachrichtenformaten des ZDF, die Erklärung von Merkel und Emmanuel Macron lese sich "wie eine Kampfansage an die Trumps und Söders dieser Welt". Daran wurde kritisiert, dass Trump und Söder in einen Topf geworfen würden. Worauf Walde erwiderte, die Verbindung bestehe in ihrer Zuwendung zum Unilateralismus.
  • Und Bild-Chef Julian Reichelt kritisierte auf Grundlage eines überdrehten Tweets eines ARD-Mitarbeiters, "die Öffentlich-Rechtlichen haben keinen Weltbild-Umerziehungsauftrag".

Der andere Beleg neben der besagten "Heute Journal"-Sendung aber, der nicht nur bei Twitter ausgebreitet wird, sind tatsächlich: Tweets, vor allem jene von Mitarbeiterinnen der ARD, Anja Reschke, Tina Hassel und Sonia Mikich.

Michael Hanfeld schlug in der FAZ unter Rückgriff auf Meedia von ihnen aus den Bogen zur angeblichen generellen Einseitigkeit der Öffentlich-Rechtlichen: Die ARD-Vertreterinnen würden auf Twitter "politische Meinungen vertreten, von denen man denken könnte, sie herrschten im öffentlich-rechtlichen Journalismus derart vor, dass man dort konträre Positionen mit der Lupe suchen muss".

Sagt die Kritik, die hier geübt wird – auch an einer Praxis der angeblichen "Bevormundung" (Hanfeld) – aber wirklich so viel über "die Öffentlich-Rechtlichen"? Oder sagt sie vielleicht eher etwas über Twitter? Oder sagt sie vor allem etwas über die Kritiker? Und: Falls es zutrifft, dass "die Öffentlich-Rechtlichen" über die CSU-Positionen, -Methoden und -Begrifflichkeiten dieser Tage recht kritisch berichten – wäre das dann zwangsläufig ein Beweis ihrer Merkel-Nähe, oder würde das vielleicht vor allem zeigen, dass sie ihren Job machen?

Die entscheidende Frage ist wohl diese in dieser einseitigen Einseitigkeitsdiskussion: Was ist denn eigentlich der Job?

Mikich und Reschke wurden von Michael Hanfeld etwa gerügt für ihre Hinweise, dass mit Begriffen Politik gemacht wird. Mikich empfahl, Seehofers Masterplan einen sogenannten zu nennen; Reschke kritisierte den Gebrauch des Worts "Asyltourismus" und befand, dass Zitate, die an Journalisten aus "Kreisen", durchgestochen werden, nicht ohne Einordnung einfach weitererzählt werden sollten.

"Journalismus sieht anders aus", hieß es in der Unterzeile des FAZ-Texts. Nur, wie sieht denn Journalismus dann aus?

Ist in diesem sogenannten Asylstreit nicht die Interpretation der anspruchsvolle Teil der Arbeit, für den Journalistinnen und Journalisten tatsächlich gebraucht werden? Welche Nachricht wäre neutral? Unhinterfragt von "Asyltourismus" zu sprechen, nur weil Markus Söder es tut, und die Kunde von Horst Seehofers sogenanntem Masterplan wie eine eingetragene Marke zu verbreiten – wäre das Journalismus? Handelt es sich um Journalismus, Donald Trumps falsche Behauptung unkommentiert zu retweeten, die Kriminalität in Deutschland sei durch die Ankunft von Geflüchteten gestiegen?


Verrutschen die Verhältnisse Richtung Trump?

Und wenn der Bundesinnenminister in einem Interview, das am Freitag in der Rhein-Neckar Zeitung und in der Passauer Neuen Presse (frei lesbar nach Preisgabe der Mailadresse) erschienen ist, deutschen Medien tatsächlich vorwirft, sie würden Fake News produzieren: Wäre es Ausweis von Einseitigkeit, Seehofer dafür zu kritisieren? Oder sollte man ihm der Ausgewogenheit halber lieber einfach mal recht geben?

Seehofer im Wortlaut:

"Leider werden Nachrichten heute selbst im Qualitätsjournalismus nicht mehr überprüft. Es gibt immer mehr Falschmeldungen. Die Medien sind in einer Krise. Wir reden immer über die Gefahren russischer Einflussnahme über Fake News. Wir müssen nicht nach Russland schauen. Die meisten Fake News werden in Deutschland produziert, von Medien wie von Politikern."

Fake News, wir erinnern uns, bezeichnet mit Manipulationsabsicht verbreitete Falschnachrichten. Der Deutsche Journalisten-Verband hat sich, einer Interessenvertretung für Journalistinnen und Journalisten angemessen, über Seehofers Behauptung entsprechend empört. Und der Journalistik-Professor Klaus Meier hat ebenfalls die eine oder andere Anmerkung:

"Horst Seehofer befeuert das Misstrauen und die Ängste von etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen in Deutschland, die der Propaganda der Rechten aufsitzen und denken, sie würden permanent manipuliert."

Das klingt natürlich sehr einseitig öffentlich-rechtlich. Steht aber im Donaukurier. Ein großes, düsteres Bild zeichnet Constanze Kurz in der FAZ:


"Wir sind wohl auch in Deutschland endgültig in Richtung Trump verrutscht, der dieses Jahr bereits unzählige Mal von 'Fake News' schwadronierte und allein diesen Juni schon mehr als zwanzigmal von der 'Hexenjagd' gegen ihn twitterte. Es gereicht hier wie dort aber nicht mehr zum Skandal, Seehofer wird seine Aussage wohl eher wiederholen, als sich für sie zu entschuldigen."

Verrutschen die Verhältnisse Richtung Trump? Seehofers Zitat, aber auch die Kritik an der vermeintlichen Einseitigkeit der Öffentlich-Rechtlichen lassen es irgendwie befürchten: Am Nasenring werden Medien – auch wenn Markus Söder von einer "Belehrungsdemokratie" spricht – in die politische Arena gezogen. Sie haben die Wahl, entweder als Stenographen der Macht zu arbeiten, wie es Jay Rosen nennt (bei Wolfram Eilenberger, am Sonntag im Tagesspiegel, heißt das papageienhaft), und sich dadurch mit einer Seite gemein zu machen. Oder sie machen sich nicht mit dieser Seite gemein und müssen sich dafür vorwerfen lassen, sie würden auf der politischen Gegenseite stehen. Zumindest ein leichter Gout US-amerikanischer Verhältnisse ist wahrnehmbar.


Altpapierkorb

+++ Altpapier-Kollege René Martens kritisiert in der taz die Personalisierung des Unionsstreits: Merkel gegen Seehofer, das erinnere an Boxberichterstattung. "Die Berichterstattung ist in eine Schieflage geraten – zum einen wegen der geradezu kindisch anmutenden Personalisierung politischer Vorgänge, zum anderen, weil der Eindruck erweckt wird, Änderungen des Prozederes an der bayerisch-österreichischen Grenze hätten Einfluss auf die globalen Flüchtlingsbewegungen."

+++ Der Tagesspiegel berichtet über einen Online-Kanal, der "wie ein Projekt der Rechten" gewirkt habe. Dahinter aber stecke, schreibt Matthias Meisner, die Bundeszentrale für politische Bildung: "Zum Schluss jedes Videos folgt der Aufruf: 'Lass Dir keinen Scheiß erzählen. Wer Wissen will, braucht Bildung. Mehr Informationen auf bpb.de/wahrewelle.'"

+++ Fußball-WM ist Medienkritik-WM: DWDL hat einen ersten 11-Tage-Überblick über die "WM in den Medien von A bis Z".

+++ Endlich was Ordentliches in der Glotze: In Großbritannien gibt es ein "Monarchisten-Netflix" mit Filmen nur über Königshäuser (SZ).

+++ Die Grimme-Online-Awards wurden verliehen. fr-online.de hat einen Überblick über Preisträgerinnen und Preisträger.

Frisches Altpapier gibt es am Dienstag.