Das Altpapier am 28. Juni 2018 Artikelreiche Sprachlosigkeit

Verlieren ist zwar für Fußballfans bitter, doch deutsche Online-Journalisten wissen das Beste (na gut: viel) aus dem WM-Aus des DFB-Teams zu machen. Der Prozess gegen Deniz Yücel beginnt ohne Deniz Yücel. Fordert der DJV Zensur? Ein Scheintoter spricht. Wie Matthias Matussek wurde, was er ist. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.

Elf Texte, wenn ich nichts übersehen habe – das ist nur einer weniger als nach dem WM-Sieg im Jahr 2014 (s. Altpapier damals). Auch bei Focus Online kommt man noch auf zehn Artikel, hat aber auch schon wieder Platz, Sonnencremes zu testen (Vergleich 2014: ebenfalls zehn). Bei sueddeutsche.de sind es sieben WM-Aus-Texte plus zwei zu anderen WM-Spielen (2014: 12), bei faz.net neun plus eins (2014: 9).

Rein quantitativ gleicht also ein Titelgewinn einem überraschenden Aus, zumindest im Online-Journalismus. Und auch auf den Print-Titelseiten gibt es Parallelen, was die ebenfalls überraschende Einfallslosigkeit angeht (zur Erinnerung: SZ und Bild-Zeitung entschieden sich 2014 für "Weltmeister", die FAZ für "Deutschland ist Fußball-Weltmeister").

Und heute?

"Aus und vorbei" (Die Welt)

"Aus, Aus, Aus" (Berliner Zeitung)

Die Bild-Zeitung hat sich für "Ohne Worte" entschieden, die taz für einen kryptisch-wortreichen Vergleich zwischen Fußball- und Europapolitikkommentar. FAZ und SZ haben den Fußball ins Aufmacherbild verschoben und lassen anderen Schlagzeilen den Vorrang.

Joa. Wenn die Mannschaft, sorry: DIE MANNSCHAFT *TM nicht so kreativ auftritt, müssen Journalisten sich auch nicht überanstrengen. Oder der Überraschungsmoment war am gestrigen Abend um kurz vor sechs einfach zu groß.

Kasan oder Baden-Baden, Hauptsache was mit Fußball

Dafür spricht auch, dass sich auf der SZ-Medienseite () erst heute ein Text findet, der direkt aus dem öffentlich-rechtlichen Sparprogramm in Form eines gemeinsamen WM-Sendezentrums in Baden-Baden berichtet, und der, so wirkt es zumindest, erst auf den allerletzten Drücker um ein paar Hinweise auf ein "The show must go on" ergänzt wurde.

"Der technische Fortschritt macht es möglich, die Sparzwänge der Öffentlich-Rechtlichen machen es nötig, dass sich ein rund 250 Personen starker Tross für die WM-Übertragung nicht auf den Weg nach Moskau gemacht hat, sondern vier Wochen im Schwarzwald verbringt, während das deutsche Team aus Reportern und Kommentatoren vor Ort rund um die Stadien erheblich kleiner ist als bislang",

schreibt Christoph Fuchs, woraufhin man noch lernt, dass die Reporter auch sonst nicht in Kasan, sondern in Moskau gesessen hätten, und dass das Modell deutsche Provinz durchaus Zukunft haben könnte:

"Beide Sender sagen, sie werden am Ende jeweils einen siebenstelligen Betrag gespart haben. Muss man dann jemals wieder mit dem Tross zu einem Turnier fahren? 'Wenn der günstigste Preis das einzige Kriterium wäre, dann wären wir hier festgelegt', sagt ZDF-Teamchef Fuhrmann, aber das sei zum Glück nicht der Fall, man werde beim ZDF jedes internationale Großereignis prüfen. (…) Der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm erklärte am Dienstag dagegen, ein ständiges nationales Sendezentrum für beide Anstalten sei 'ein Ziel, das sich durchaus lohnen würde, verfolgt zu werden'. Derzeit verdichten sich die Hinweise, dass so ein Sendezentrum auf dem Gelände des WDR in Köln-Böcklemünd stehen könnte."

Ebenfalls nicht unbedingt zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Turnier hätte man mit der Analyse des DLF-Sportreporters Matthias Friebe gerechnet, der im Gespräch mit Sebastian Wellendorf von "@mediasres" über das seltsame Verhältnis des DFB zum Journalismus informiert (offenbar nimmt man beim Deutschlandfunk den noch gar nicht final abgesegneten Rundfunkänderungsstaatsvertrag sehr ernst und reduziert die Zahl der Texte auf der Website. Aber wenn sie den Regler hier auf noch zu verbleibende 18.27 Minuten stellen, können Sie das Gespräch nachhören).

"Ich finde nur bemerkenswert, wenn ein Spieler sagt, 'Wir sollten alle an einem Strang ziehen', und damit explizit auch die Journalisten meint, dann ist etwas vom Verständnis der Aufgabe, die hier auch die Kollegen, die im DFB-Quartier dabei sind, erfüllen, einfach nicht gegeben",

meint Friebe, um sich dann ausführlich über nur per WhatsApp verkündete Einladungen zu Pressekonferenzen, nicht beantwortete Presseanfragen und die neue Praxis zu wundern, die traditionell den Journalisten offenstehende erste Viertelstunde des Trainings nur zum Warmlaufen zu nutzen.

"Man lebt da beim DFB in seiner eigenen Wagenburg. (…) Das trägt alles zu einer Entfremdung mit bei. (…) Es geschieht aus einem Gefühl heraus, dass man es nicht nötig hat."

Jetzt wäre doch ein schöner Zeitpunkt, sich als Journalist zu überlegen, ob man es nicht genau so sieht.

Was nun alles Aufmerksamkeit verdient #freedeniz #SaveYourInternet

Auf der Positivseite bleibt, dass Sie nun Zeit haben, ihren Fokus auf andere Termine zu lenken. Heute beginnt etwa in Istanbul der Prozess gegen Deniz Yücel – in Abwesenheit Yücels, wie Der Standard aus Österreich mit Agenturen meldet.

"In der nur drei Seiten umfassenden Anklageschrift wird ihm 'Propaganda für eine Terrororganisation' und 'Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit' vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert 18 Jahre Haft",

informieren die Reporter ohne Grenzen, deren Geschäftsführer Christian Mihr meint:

"Der Prozess gegen Deniz Yücel ist wie viele andere Prozesse gegen Journalisten in der Türkei eine Farce. Alles andere als ein Freispruch wäre unerträglich".

Für die kommende Woche können Sie sich zudem schon einmal den Donnerstagmittag vormerken. Da wird laut der Piraten-Abgeordneten Julia Reda das EU-Parlament über die umstrittene EU-Urheberrechtsreform (Altpapier) abstimmen, die Ihnen aufgrund der Schlagworte "Uploadfilter" und "EU-Leistungsschutzrecht" bekannt vorkommen könnte.

Die verschiedenen Positionen und Vorbehalte gegen die Pläne dröselt Friedhelm Greis bei golem.de auseinander – inklusive einer Analyse der seltsamen Rolle, die der DJV in der Sache spielt. Neben BDZV, VG Wort, Vaunet und Gema unterstützt dieser nämlich offiziell den Entwurf mit einem öffentlichen Appell – und fordert damit "den Aufbau einer Zensurinfrastruktur in Europa, die mit den verpflichtenden Uploadfilter zweifellos einhergeht", meint Greis.

Der DJV verteidigt sein Engagement bei Twitter:

"Der Beschluss umfasst deutlich mehr Punkte, als LSR u Uploadfilter. Wir sprechen uns für beides so nicht aus. Uns geht es darum, auf dieser Basis im Konsultationsprozess mit der EU-Komm. zu bleiben und im Ergebnis eine faire urheberrechtliche Lösung für alle Akteure zu erreichen."

Allerdings heißt es in besagtem Appell:

"Wir, die Verbände und Institutionen der Kultur- und Medienwirtschaft, unterstützen die Beschlussempfehlungen des federführenden Rechtsausschusses des EU-Parlaments zum vorliegenden Richtlinienentwurf über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt".

Da steht nichts von "außer natürlich die Sache mit den Uploadfiltern".

Falls Sie nach der Lektüre und vor dem kommenden Donnerstag das Bedürfnis haben, sich gegen die Reform zu engagieren, hält Netzpolitik.org bereits seit ein paar Tagen Tipps bereit.

Altpapierkorb (Arkadi Babtschenko, Matthias Matussek, Sigmar Gabriel)

+++ Ab heute drohen erneut Streiks bei den Tageszeitungen, meldet die taz.

+++ Der Social-Media-Maulkorb für ORF-Mitarbeiter (Altpapier gestern) ist weiterhin Thema, für "@mediasres", Meedia, taz, Tagesspiegel und am Rande auch für Altpapier-Kollege Klaus Raab bei Übermedien, der sich zudem noch einmal der Frage annimmt, wie Merkel-freundlich öffentlich-rechtliche Sender wirklich berichten (Altpapier am Montag).

+++ Beim Deutschlandfunk Kultur ist heute Betriebsratsversammlung, und auf dem Programm steht Stunk, schreiben Markus Ehrenberg und Kurt Sagatz im Tagesspiegel. Es geht um "undurchsichtige Sparmaßnahmen, Kürzungen bei Personal und Inhalten, mithin die angekündigte Absetzung beliebter Sendungen wie 'Kakadu' sowie die offenbar schlechte Kommunikation zwischen Senderführung auf der einen und Personalrat und Redakteursausschuss auf der anderen Seite."

+++ Wie es ist, sich scheinermorden zu lassen, hat der russische Journalist Arkadi Babtschenko (bekannt etwa aus diesem Altpapier) Boris Reitschuster im Interview für die Medienseite der FAZ erzählt. "Mein altes Leben ist zerstört. Ich sitze jetzt in einem Bunker an einem geheimen Ort in der Ukraine und verstecke mich und meine Familie vor Auftragskillern des russischen Geheimdiensts FSB."

+++ Wie wurde aus dem rasenden Reporter Matthias Matussek ein gefeierter Autor der Rechten? In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit (€) geht Malte Henk der Frage nach.

+++ Die Bundesregierung hat Sigmar Gabriel erlaubt, als Autor bei der Holtzbrinck-Gruppe anzuheuern, meldet Spiegel Online. Aus Sicht der Politik ist es damit kein Problem, dass der einstige Wirtschaftsminister schon neue Jobs ergreift. Warum die Holtzbrincks unbedingt und unverzüglich einen Politiker zu den ihrigen zählen wollen, bleibt ihr Geheimnis.

Das nächste Altpapier erscheint morgen.