Das Altpapier am 29. Juni 2018 Was war das nochmal, dieser Journalismus?

Wie viel Trumpismus und Veronica-Ferres-Appeal brauchen deutsche Faktenchecker? Es gibt ein paar PR-Plattitüden aus Österreich und eine neue/alte Grundsatzdiskussion über die Haltung von Journalisten. Und besteht eigentlich ein Recht darauf, medial vergessen zu werden? Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Trumpismus als unfreiwilliger Trigger, den Ruf des Journalismus bzw. den Wert von und die Berufung auf klare Daten und Fakten zu retten: Mal eine positive Sicht der Dinge. Das war wohl auch eine Hoffnung, die Trump-Gegner nach der US-Wahl 2016 hatten, als man sich auf die Suche machte, nach positiven Aspekten dieser von manchen als Dystopie angesehenen, nun eingetretenen Realität.

Bei piqd.de freut sich Alexander Sängerlaub nun über folgendes:

"Selten war ein Debunking so erfolgreich. Dass es dafür ausgerechnet mal einen Lügen twitternden US-Präsidenten braucht, hätte sich wohl auch niemand träumen lassen."

Hört sich erstmal an, als hätten sich die Hoffnungen auf eventuelle, positive Nebenwirkungen des Trumpismus erfüllt. In einer Hinsicht trifft das jedenfalls zu, denn die Stiftung Neue Verantwortung hat den Umgang mit Trumps Twitter-Aussage, die Kriminalität sei in Deutschland nach der Aufnahme von Geflüchteten um zehn Prozent gestiegen, analysiert.

Promi-Queen of Debunking

Erfreuliches Ergebnis: "Viel Aufmerksamkeit, wenig Unterstützung". Das Debunking, also das Widerlegen der Falschaussage, habe in der deutschen digitalen Öffentlichkeit deutlich überwogen, ergibt eine Kurzanalyse der Stiftung gemeinsam mit dem Medienanalyse-Unternehmen Unicepta, bei der Daten zur Wirkung des Tweets ausgewertet wurden. Normalerweise sei das anders:

"Fake News verbreiten sich in der Regel sechsmal häufiger als wahre Nachrichten, meldete eine Studie des MIT im März diesen Jahres, in der über viereinhalb Millionen Tweets aus den letzten 12 Jahren untersucht wurden. Auch in unseren Untersuchungen während des Wahlkampfes zur Bundestagswahl letzten Jahres hatten es die Richtigstellungen von Fake News schwer, in der Öffentlichkeit Gehör und Reichweite zu finden."

Anders als bei den meisten zuvor untersuchten Fake News, hätten in diesem Fall die Faktenchecker dominiert und deutlich mehr Nutzerreaktionen generiert als die "Weiterverbreiter der Trump’schen Fake News" (darunter z.B. die üblichen Verdächtigen wie die AfD, ein Mann namens Reichelt, Junge Freiheit, Epoch Times).

Fun-Fact: Unter den einflussreichsten "Faktencheckern", die sich der Trump-Aussage entgegenstellten war u.a. auch Veronica Ferres. Braucht der Journalismus etwa mehr Unterstützung von Promis, um Tatsachen gegen gefühlte Wahrheiten und Hörensagen zu verteidigen?

Trotz des allgemein positiven Ergebnisses kritisiert die Stiftung auch den Umgang einiger Medien mit dem Tweet. Vor allem eine verkürzende Darstellung durch Social-Media-Redaktionen sei problematisch. Als Negativ-Beispiele werden die Facebook-Posts von Bild und "ZDF heute" genannt:

"Wer seine Nachrichten nur bei Facebook liest, könnte nach der Zusammenfassung von BILD meinen, dass die Aussage Trumps ein ernstzunehmender Hinweis auf ein mögliches Vergehen der deutschen Behörden sei. Der Hinweis auf die Fakten, also die Kriminalitätsstatistik fehlt auch beim ZDF."

Fazit:

"Vor allem in den sozialen Netzwerken, so drängt sich der Verdacht auf, müssten journalistische Standards stärker beachtet werden. Die verstellende Verkürzung droht sonst der Desinformation Vorschub zu leisten – vor allem da anhand wissenschaftlicher Studien bekannt ist, dass viele User sich nicht die Mühe machen, auf die Artikel zu klicken und damit auf die zumeist differenzierte Darstellung zu stoßen."

Vorbildliches, hintergründiges Fact Checking betreibt auch Stefan Braun, der heute in der SZ Fehlern, Mythen und Behauptungen rund um die deutsche Flüchtlingspolitik nachgeht. Er schreibt:

"Das Klima im Asylstreit wirkt zunehmend vergiftet. Vergiftet von Vorwürfen, die nicht alle falsch, aber auch längst nicht alle richtig sind. Ganz so, als würden auch in Deutschland die Grenzen zwischen Fakten und Fake News immer mehr verschwimmen."

Um dieses Bild wieder geradezurücken unterzieht Braun vier zentrale Behauptungen des Streits einem Faktencheck. Um Klarheit zu schaffen, erklärt er das Zustandekommen der Behauptungen, ordnet es ein und stellt ihnen juristische Fakten und politische Regeln gegenüber. Puh, geht also doch noch ohne Ferres‘ Promiunterstützung. Ab ins Fakten-Checker-Seminar mit dem Text.

Grundsatzdiskussion, anyone?

Ach ja, auch in Österreich wird ja grade auch viel über differenzierte Darstellungen, die Aufgabe von Journalisten, ihre Haltung und deren öffentliche Äußerung diskutiert (siehe Altpapier von Mittwoch). Anlass ist ein Entwurf von Social-Media-Richtlinien für ORF-Mitarbeiter/innen. Bis zum Jahresende solle die Regelung nun umgesetzt werden, berichtet der österreichische Standard.

Nach der Kritik, der Entwurf sei eine Art "Kniefall des amtierenden Generaldirektors vor den schwarz-blauen Wünschen und Diktaten gegenüber ORF-Journalisten" (ORF-Hörfunkredakteur Lukas Tagwerker) und offenbare ein "absolutes Unverständnis von Social Media" (NZZ-Frau Anita Zielina) ist ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz wohl wieder ein Stück zurückgerudert, oder hat sich jedenfalls weiter zu dem durchgesickerten Entwurf erklärt. Der Eindruck drängt sich jedenfalls beim Weiterlesen auf:

"Wrabetz zeigte sich offen für Veränderungen am Entwurf der Social-Media-Richtlinien. So sei offenbar eine Formulierung, wonach auch private Meinungen eingeschränkt werden sollen, missverstanden worden."

Und es gibt auch noch ein bisschen besänftigendes PR-Deutsch:

"Der Generaldirektor betonte, dass der ORF die Richtlinien nicht für die Regierung mache, sondern für die Mitarbeiter. 'Das höchste Gut, das es zu verteidigen gibt, ist die Glaubwürdigkeit', sagte Wrabetz. Hierfür wichtig sei das gemeinsame Verständnis der Mitarbeiter. Die Richtlinien sollen laufend evaluiert werden."

Zeitungsmeldungen, "dass durch diesen Entwurf der kritische, unabhängige öffentlich-rechtliche Journalismus im ORF eingeschränkt" werden sollten, seien "absurd und entbehren jeder Grundlage", zitiert der Standard aus einer Mail von Wrabetz an seine Führungskräfte.

Die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig kritisiert auf ihrem Blog z.B. konkret die Formulierung des Entwurfs ORF-Journalisten sollten keine "voreingenommene" oder "einseitige" Haltung zum Ausdruck bringen. Die Passage sei

"dermaßen schwammig, dass sie leicht von Parteien missbraucht werden kann. Gerade die Formulierung 'voreingenommen' lässt viel Interpretationsspielraum offen. Gerne werfen Politiker Journalisten vor, sie seien 'voreingenommen', wenn ihren deren Berichterstattung nicht behagt. Die Gefahr ist hier, dass selbst berechtigte Tweets oder Facebook-Posts plötzlich von einer Partei als 'voreingenommen' gewertet werden und damit Druck auf Redakteure ausgeübt wird."

In dem greift sie auch eine gerne falsch oder mindestens umgemodelt zitierte Aussage des ehemaligen "Tagesthemen"-Moderators Hanns Joachim Friedrichs auf (auch schon in diversen Altpapieren erwähnt, z.B. hier und hier):

"Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache."

Mal davon abgesehen, dass Friedrichs das gar nicht wortwörtlich so gesagt hat (siehe dieses Interview von Jürgen Leinemann und Cordt Schnibben in einer Spiegel-Ausgabe von 1995, in dem Friedrichs den Satz formuliert haben soll): Die Aussage, so Brodnig, werde "verkürzt und irreführend verwendet". In dem Spiegel-Interview sagte Friedrichs eigentlich:

"Das hab‘ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein."

Bezogen war die Aussage also eher auf emotional belastende Ereignisse, wie Nachrichten über Katastrophen und Tod. Hier sollten Journalistinnen und Journalisten Friedrichs zufolge nicht zu betroffen und emotionalisiert reagieren, auch wenn sie Zeugen grauenhafter Schicksale würden. (Schnibben erläutert die Aussage von Friedrichs übrigens in diesem Tweet weiter). Brodnig kritisiert nun, das Zitat werde in der aktuellen Diskussion über die Aktivitäten von Journalisten

"allerdings pervertiert und verwendet, um journalistische Berichterstattung – die auch Kritik äußert – zu diskreditieren. Das Zitat muss als Ausrede herhalten, einzufordern, dass Journalisten gar keine Haltung zeigen sollen, selbst wenn es um die Frage der Intaktheit unseres Rechtsstaates oder das Respektieren von Menschenrechten geht."

Und:

"Ich würde argumentieren: Journalisten als 'vierte Macht' im Staat haben die Aufgabe, auf den Rechtsstaat und Menschenrechte zu pochen und notfalls zu kritisieren, wenn neue Gesetze oder politische Äußerungen solche Grundrechte infrage stellen. Ein Journalismus, der keine Haltung pro Rechtsstaat und auch für Schwächere in unserer Gesellschaft einnehmen darf, der ist in meinen Augen wertlos und kein Journalismus mehr (sondern Hofberichterstattung)."

Amen. Naja, ganz so einfach ist es nicht, ansonsten wären wohl all die wissenschaftlichen Betrachtungen des journalistischen Auftrags (z.B. von den üblichen Verdächtigen wie Weischenberg, Ruß-Mohl, Löffelholz) überflüssig. Aber grundsätzlich kann ich persönlich mich darin mit meinem journalistischen Selbstverständnis schon wiederfinden.

Aus Brodnigs Ansatz könnte man wohl die Maxime formulieren: Journalistinnen und Journalisten stehen in der Verantwortung, sich für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Benachteiligte einzusetzen (was ja auch in diesem Zusammenhang viel diskutiert wurde).

Über die Grenzen und die genaue Ausgestaltung darf und wird sicherlich weiter diskutiert und gestritten werden. Wichtig ist es für uns Medienmenschen aber wohl vor allem, in Zeiten vermehrter Kritik über diverse Kanäle auch, unser eigenes Selbstverständnis für uns selbst klar zu definieren und vor Augen zu haben.

Altpapierkorb (Yücel, Annapolis, Hass bei Facebook, Recht auf Vergessen?)

+++ Kurzes Türkei Roundup: Deniz Yücels Prozess wurde auf den 20. Dezember vertagt. Schlechte Nachricht zuerst: Damit drohen dem deutschen Journalisten weiterhin 18 Jahre Haft. Ein Freispruch wurde abgelehnt. Gute Nachricht: Yücel muss nicht wieder in die Türkei, denn der Richter stimmte einer "Vernehmung am Wohnort" zu. Mehr Infos hat z.B. die Deutsche Welle und natürlich die Welt. Auch Deutschlandfunks "@mediasres", SpOn und die Deutsche Welle (anderer Artikel) verlieren die weiteren Ereignisse nach dem Wahlerfolg Erdogans nicht aus dem Blick.

+++ Im US-amerikanischen Annapolis (Maryland) hat es Schüsse auf die Redaktion der "Capital Gazette" gegeben. Einer der Redakteure twitterte kurz nach dem Angriff. Mindestens fünf Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Hintergründe sind (Stand 9 Uhr) noch unklar. Die Welt zitiert allerdings einen Polizeisprecher: "'Nach meinen Erkenntnissen war er verärgert über die Zeitung als Ganzes.' Der Mann habe nicht einzelne Reporter gezielt als Opfer ausgesucht. Der Sender NBC hatte zuvor berichtet, der Tatverdächtige habe vor Jahren einen Rechtsstreit mit dem Blatt ausgetragen – und diesen verloren."

+++ Die Mörder des Schauspielers Walter Sedlmayr haben kein Recht darauf, dass ihre Namen aus archivierten Onlinetexten entfernt werden, berichtet "@mediasres" über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. "Der Gerichtshof hat ihre Klage zwar abgewiesen, wie schon zuvor der Bundesgerichtshof. Doch es ist ein Urteil mit sehr viel Wenn und Aber", heißt es auf der SZ-Medienseite. "Um die Pressefreiheit nicht übermäßig einzuschränken, müsse hier der Persönlichkeitsschutz zurückstehen", schreibt die taz über die Begründung der Richter.

+++ Die österreichische Botschaft in Washington findet die Berichterstattung der Financial Times wohl nicht sonderlich dolle. Es habe eine Beschwerde wegen der Bezeichnung von Sebastian Kurz (ÖVP) als "far-right chancellor" gegeben, berichtet der ORF. Die Formulierung in der Online-Version des Artikels wurde mittlerweile geändert. Dort heißt es nun: "Austria’s chancellor Sebastian Kurz, who leads a coalition that includes the far right". Wir lassen das einfach mal so stehen. Möge sich jeder eine eigene Meinung bilden.

+++ Zu den "neuen, alten 'Super-'/ 'Riesen-Mediatheks'-Plänen" (Dienstag hier im Altpapier) hat Alexander Krei für dwdl.de verschiedenste potenzielle "Mitstreiter" angemorst und zusammengeschrieben, wie sie zu einer eventuellen Kooperation in Sachen VoD-Plattform stehen.

+++ Ein bisschen nerdy Medien-Schwarzbrot-Stuff: Nach dem Streit zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Kabelnetzbetreibern über die Einspeisegebühren (grob zusammengefasst: müssen ÖR die Betreiber der Kabelnetze für die Einspeisung ihres Programms bezahlen, oder sollten die Betreiber an die ÖR zahlen, weil sie ebenfalls Vorteile aus der Verbreitung ziehen? Ausgang: pro Kabelnetzbetreiber) fühlen sich nun die kleineren Kabelnetzbetreiber benachteiligt. "Nutzen Rundfunksender ihre Marktmacht aus?", fragt Axel Weidemann heute auf der FAZ-Medienseite. Denn in einer PM kritisiert der Fachverband für Rundfunk und Breitbandkommunikation (FRK), die Anstalten nutzten ihre Stellung, um "Antennengemeinschaften, mittelständischen und kleinen Kabelnetzbetreibern die Zahlung von Entgelten verwehren, die sie den beiden marktbeherrschenden Kabelnetzbetreibern (Anm. Altpapier: dabei handelt es sich um Vodafone und Unitymedia, die ja bald fusionieren werden) gewähren". Der Verband wolle "diese Ungleichbehandlung nun mit Unterstützung der Kanzlei Schalast vom Bundeskartellamt überprüfen lassen".

+++ Die Ergebnisse der gestern im Altpapier bereits an dieser Stelle angekündigten Betriebsratsversammlung beim Deutschlandfunk Kultur fasst Anne Burgmer beim Kölner Stadtanzeiger zusammen. Auch bei SpOn gibt’s Hintergrundinfos.

+++ Über die prekäre finanzielle Situation und das aktuell laufende Crowdfunding zur Finanzierung des feministischen Popkultur-Magazins "Missy" schreibt Julian Dörr auf der SZ-Medienseite: "Das ist, bei all den Nachrichten über eingestellte Printmagazine, eine hoffnungsvolle Idee: Dass man eben nicht mehr die ganz große Modeanzeige mit dem einschlägig problematischen Frauenbild einsammeln muss, um ein Heft zu finanzieren. Für ein unbequemes Medium, das Position bezieht in gesellschaftlichen Debatten – etwa der über ein Werbeverbot für Abtreibungen – sind Kampagnen wie diese offenbar eine Möglichkeit, Unabhängigkeit zu bewahren in einem Umfeld, das immer unwirtlicher wird."

+++ Seife kann ja durchaus auch mal in gesellschaftskritischer Funktion daherkommen (man denke an "Fight Club"). Seifig ist allerdings in TV-Kritiken eher kein lobendes Prädikat. So auch nicht in der FAZ-Kritik der Serie "Private Banking" von Heuke Hupertz: "In zweimal neunzig Minuten wird das Thema Schweizer Finanzkapitalismus ins familiär Seifige und Thrillermäßige versenkt." Von einem "Serienhammer" wie Christian Schwochows "Bad Banks" sei "Private Banking" damit "mindestens einen Vorstandsvorsitz weit entfernt".

+++ In seiner Medienkolumne bei evangelisch.de blickt Altpapier-Autor Christian Bartels auf die Medienbranche mit ihren "ganz guten, aber alten" Gesetzen und auf die "neuen, die bloß gut gemeint sind."

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