Das Altpapier am 11. Juli 2018 Traumschiff zum Traumhotel

... am Ende des NSU-Prozesses. Aber auch nächtliche Dokus und ein "Brennpunkt". Um die Posten im ZDF-Verwaltungsrat (in dem Horst Seehofer nicht mehr sitzt!) konkurrieren nicht mehr nur schwarze und rote Freundeskreise, sondern nun auch ein Grüner. Außerdem: Sollten Facebook und Youtube "Nutzer-Beiräte" zur freiwilligen Selbstkontrolle bekommen? Ist Twitter auch ein Datenkrake? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Gerade beginnt eine Woche wichtiger Gerichtsurteile. Am Vormittag ergeht in München das Urteil im NSU-Prozess. Die ARD ist live dabei, zwar nicht im Gerichtssaal (aus den im gestern bereits hier erwähnten SZ-Beitrag beschriebenen Gründen), aber auf Sendung. In genau einer Woche wird dann der wichtigste medienpolitische Gesetzgeber, den wir haben, das Bundesverfassungsgericht, zum Rundfunkbeitrag urteilen. Und am morgigen Donnerstag – dann tatsächlich live im Fernsehen, allerdings bloß bei Phoenix – das andere Karlsruher Höchstgericht zur sowohl sowieso als auch medial-digital brisanten Frage, ob "Eltern das Facebook-Konto ihres verstorbenen Kindes erben" können.

Alle Urteile, zumal die beiden erstgenannten, werden auf breites Interesse stoßen. Natürlich haben alle Medien schon viel vorbereitet, das zeitnah on air, online und in Druck gehen wird.

Einen guten Überblick über Fernsehsendungen zum NSU-Prozess-Ende hat der Standard. Aufschlussreich ist ja immer das Metadatum der (linearen) Sendezeit. Die Sendungen begannen bzw. beginnen um 22.30 Uhr ("Auf der Spur des rechten Terrors", heute im ZDF; der Film "fällt leider etwas unausgewogen aus", kritisiert die FAZ-Medienseite), um 23.30 Uhr ("Das Terrornetzwerk", gestern in der ARD) bzw. um 23.45 Uhr ("Heer, Stahl und Sturm – Wer Nazis verteidigt", heute nacht ebd.). Bzw. ist diese Doku tagesaktuell doch noch auf 0.05 Uhr, also kalendarisch den Donnerstag gerückt – allerdings aus gutem Grund: wegen des vorab eingerückten 20.15-Uhr-"Brennpunkts".

Ob die ARD dafür Lob verdient oder doch eher Kritik, weil das anschließende Eskapismus-Schmonzetten-Double Feature mit gleich zwei "Das Traumhotel"-Wiederholungen en suite die "Tagesthemen" auf 23.35 Uhr schiebt, so dass die aktuelle Doku halt nicht früher beginnen kann (und das an einem Abend, an dem das zweite öffentlich-rechtliche Hauptprogramm seine abendliche Hauptnachrichtensendung Fußball-halber auf neun Minuten ab circa 20.45 Uhr eindampft, und das bei einer nicht im geringsten Sommerloch-artigen Nachrichtenlage ...) – urteilen Sie selbst. Alle Urteile können gerne in die Kommentare zum Rundfunkbeitrags-Verfassungsgerichtsurteil nächste Woche einfließen.

Immerhin hat sich der WDR als Auftraggeber der heute nacht eingeplanten Doku etwas fürs Internet einfallen lassen und zeigt sie "online first ... bereits ab 20.15 Uhr in der Mediathek". Wenn das keine hübsche Idee ist: zur sog. besten Sendezeit des linearen Fernsehens zeitsouverän online gucken.

"Und deswegen empfinde ich die Berichterstattung, die ausdauernde Berichterstattung über diesen Prozess auch als journalistische Pflicht und Wiedergutmachung",

sagte übrigens Annette Ramelsberger von der Süddeutschen gestern in Deutschlandfunks "@mediasres".

Schwarz-rot-grüne Konkurrenz beim ZDF

Was Eskapismus-Schmonzetten-Double Features betrifft, darf das Programm des Ersten natürlich nicht isoliert vom, ähm, Wettbewerb betrachtet werden: Auf Augenhöhe sendet das Zweite, das sein Publikum gestern (gleich nach den "Rosenheim-Cops" im Werberahmenprogramm bis zum 23.15-Uhr-"heute journal" ...) mit einer "Traumschiff" und einer "Kreuzfahrt ins Glück" nacheinander erfreute.

Allerdings könnte sein, dass beim ZDF, das sozusagen ja der siebtgrößte deutsche Medienkonzern ist, gerade die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Zumindest sind in seinem wichtigsten Aufsichtsgremium, dem Verwaltungsrat, seit mehr als einem Vierteljahr zwei Sitze vakant. Das hat schon wieder mit Horst Seehofer zu tun und kam so:

Seit einem Jahr gilt der neue, in Folge des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 2014 geänderte  ZDF-Staatsvertrag. Seither dürfen im zwölfköpfigen Gremium nur noch vier aktive Politiker sitzen, und keine aus der Bundespolitik. Insofern schieden, als die aktuelle Bundesregierung endlich stand, Seehofer und Olaf Scholz aus. Die beiden waren als langjährige Bundesländer-Ministerpräsidenten in den Rat gelangt und mussten sich als frischgebackene Bundesminister zurückziehen. Nun herrscht an weiteren Ministerpräsidenten mit Interesse an den einflussreichen Posten (ältere Medienbeobachter erinnern sich: Der Verwaltungsrat trifft die wichtigen Personalentscheidungen; er war es auch, der anno 2009 Chefredakteur Nikolaus Brenders Vertrag nicht verlängerte, was zu Aufregung und schließlich dem Verfassungsgerichts-Urteil führte ... ) kein Mangel. Vielmehr ist das Gegenteil das Problem, berichtet Volker Nünning in der Medienkorrespondenz:

"Aktuell gibt es allerdings mehr Interessenten, als Plätze vorhanden sind. Neben Markus Söder (CSU) und Peter Tschentscher (SPD), den neuen Regierungschefs von Bayern und Hamburg, hat nach MK-Informationen auch der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) erklärt, Mitglied im ZDF-Verwaltungsrat werden zu wollen."

Wie genau solche Posten unter den Länder-Chefs vergeben werden, steht nur in ungeschriebenen Gesetzen. Dass das Dienstalter, bei dem Kretschmann die Nase vorn hat, eigentlich ein wichtiger Faktor ist, ist offensichtlich. Ein Grüner in den seit jeher von schwarzen und roten Freundeskreisen beherrschten Milieus? Das scheint im Kollegenkreis Irritationen auszulösen.

Die "Staatsferne" des ZDF-Verwaltungsrats ist trotz des Verfassungsgerichts-Urteils weiterhin eine Fiktion ungefähr auf "Traumhotel"-Niveau geblieben. Als eines der nominell "staatsfernen" Mitglieder gehört bekanntlich etwa auch Martin Stadelmaier, der medienpolitische Strippenzieher der vergangenen Jahrzehnte schlechthin, dem Gremium an. Was den Eindruck großer Bundesregierungsnähe angeht, den ARD und ZDF ja auch bei vielen erwecken, wäre ein Grüner dort aber nicht schlecht – zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl. Anschließend könnte, wenn es so weiter geht, ja nur noch eine schwarz-rot-grüne Groko groß genug für eine Mehrheit sein ...

"Nutzer-Beiräte" für Facebook und Youtube?

"Früher waren die Fronten klar. Kaiser und Kirche bestimmten, was zensiert werden musste. Heute haben wir es mit einem komplizierten Geflecht aus staatlichen und unternehmerischen Macht- und Entscheidungsstrukturen zu tun."

Da blickt jemand ausgeruht auf noch länger währende Zusammenhänge. Wolfgang Michal ist's der, unter der Überschrift "Wer zensiert wen?" in der aktuellen epd medien-Ausgabe die Geschichte der Zensur Revue passieren lässt – um schließlich die sehr gegenwärtige Forderung "Soziale Netzwerke brauchen Nutzer-Beiräte" abzuleiten. Wie häufig beim evangelischen Branchendienst steht der Artikel noch nicht frei online. Doch der ehemalige Vorwärts- und Geo-Redakteur Michal ist ja Blogger mit Leib und Seele und hat daher nun eine sogar noch wenige tausend Zeichen längere Version mit jeder Menge Links darin auf wolfgangmichal.de veröffentlicht.

Zensur ist ein schwieriger, häufig leichtfertig angewendeter Begriff, argumentiert Michal:

"Wir haben uns angewöhnt, mit dem Begriff der Zensur sehr locker oder besser: sehr verbissen umzugehen. Zensur ist praktisch alles, was irgendjemand irgendwo verhindert – sei es der Staat, sei es eine Redaktion, ein soziales Netzwerk oder ein Blogger, der seine Administratorrechte 'missbraucht'. Zensur kann demonstrativ auftreten oder beiläufig installiert werden. Das macht die Debatte so schwierig. Stets laufen die gleichen Empörungsrituale und Schuldzuweisungen ab: 'Zensur ist, wenn du unterdrückst, was ich gut finde'."

Über die gern auch "freiwillige Selbstkontrolle" genannte "innere Zensur" der Zeitungsverlage des 20. Jahrhunderts gelangt Michal dann in die Gegenwart mit dem NetzDG und anderen "Overblocking"-Vorwürfen, und zu einer pointierten These:

"Wie wir gesehen haben, übernehmen die sozialen Netzwerke im Zuge ihrer Annäherung an die Medien deren historische Errungenschaften – insbesondere die 'freiwillige Selbstkontrolle'. Das heißt, auch Netzwerke wie Facebook und Twitter wenden zunehmend die Maßnahmen der 'inneren Zensur' an. Sie können dabei großzügig verfahren oder engstirnig, kleingeistig oder edelmütig, prinzipienfest oder ängstlich, ganz wie die Eigentümer von Zeitungen. Diese Angleichung von Netzwerken und Medienunternehmen wird vom Gesetzgeber und von den Gerichten erzwungen. Sie ist darüber hinaus die logische Folge der gegenseitigen Verflechtung: Soziale Netzwerke verwandeln sich zum Teil in Medienkonzerne und Medienkonzerne verwandeln sich ein Stück weit in soziale Netzwerke. Die Mischformen, die so entstehen, konstituieren die Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts.

... Sind die 'Allgemeinen Geschäftsbedingungen' (AGBs), die Community-Standards und die Uploadfilter der sozialen Netzwerke letztlich doch nichts anderes als die politisch-weltanschaulichen Blattlinien der Presseerzeugnisse? Während Facebook, Twitter und YouTube Inhalte löschen und Accounts blockieren, die den 'Community-Standards' nicht entsprechen oder das Image der Firma beschädigen, lehnen Springer-Zeitungen Beiträge ab, die sich gegen die USA oder gegen Israel richten."

Und daher bräuchten Facebook, Youtube und Co "Nutzer-Beiräte" und die Öffentlichkeit einen "dem Presserat vergleichbaren Netzrat" und weitere "Statute, die ein Minimum an Mitsprache und Kontrolle gewährleisten". Was zumindest einer der besonnensten und konstruktivsten Diskussionsbeiträge des Jahres ist.

Zum Teil sind die sog. soz. Netzwerke längst ziemlich eindeutig Medien. Zum Teil sind sie's nicht, sondern (weil Facebook und Youtube quasi keine Mitbewerber mehr haben) Infrastruktur. Rein gesetzlich sind sie weder das eine noch das andere. Wer sich schleunig darum kümmern müsste, dass zumindest irgendwelche einheitlichen Gesetze für alle gelten, sind dummerweise die Ministerpräsidenten der Bundesländer, die aber alle Hände voll mit allem möglichem zu tun haben (und sich auch noch um die Posten im ZDF-Verwaltungsrat rangeln).

Altpapierkorb (144 Metadaten pro Tweet, Funke heftig, "Nachhaltigkeitsdesaster" Smartphone, "Löwengrube" bingewatchen, Fußballreporterinnen international)

+++ Twitter ist ein freundliches Vögelchen und keine Datenkrake? Na ja. Eine britische Studie, derzufolge das Unternehmen pro Tweet "144 pieces of metadata" generiert, die sich auch zu einem "privacy nightmare for users" zusammensetzen ließen (wired.co.uk), zieht ihre Kreise. Im deutschsprachigen Bereich etwa zu meedia.de und auf die heutige FAZ-Medienseite.

+++ "Youtube will gegen Fake News vorgehen" und "investiert" dafür, auch in Deutschland, was deutsche Partner der entsprechenden "News Initiativen" natürlich gern vermelden (Tagesspiegel).

+++ Bislang eher unbekannt: Die Mehrheit der nicht unberüchtigten Portals heftig.co und seiner erfolgreichen Ableger gehört der Funke- Mediengruppe (deutsche-startups.de).

+++ Die ARD-Landesrundfunkanstalten wollen "jeglicher Form von sexueller Gewalt, Missbrauch und sexualisierter Belästigung" durch neue Klauseln in ihren Produktionsverträgen entgegenwirken (verdi.de).

+++ Das "Nachhaltigkeitsdesaster", das sog. Smartphones schon allein dadurch, dass sie hergestellt werden, anrichten, hat der Techniksoziologe Felix Sühlmann-Faul für netzpolitik.org skizziert.

+++ "Man könne in der Lage billigerweise keinen Bericht erwarten, der aus der Perspektive danach geschrieben sei": Äußert sich da noch mal Kai Gniffke zu seinem Seehofer-Rücktritts-Kommentar? Nein, Springers Welt zu ihrer nun offiziell vom Presserat missbilligten Schlagzeile "Polizei verhindert Terroranschlag" (uebermedien.de).

+++ Reinhold Beckmann talkt wieder, auch mit den üblichsten Verdächtigen (Sarah Wagenknecht, Wolfgang Joop), bloß auf ungewohntem Sendeplatz. Claudia Tieschky von der SZ fand's irgendwie gut.

+++ Hätten Sie's gewusst? Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hat eine kultur- und medienpolitische Sprecherin, Elisabeth Motschmann, die so aufrüttelnde Sätze wie "Noch scheinen nicht alle Senderverantwortlichen gleichermaßen verstanden zu haben, dass die Akzeptanz der Öffentlich-Rechtlichen in der Gesellschaft heute nicht mehr von selbst gegeben ist, sondern mehr denn je verdient werden muss" sagt (dwdl.de).

+++ Der Tagesspiegel-Beitrag überrascht mit einem kleinen Wutausbruch über Wiederholungen im Fernseh-Sommerpogramm ausgerechnet aus Anlass der "Olsenbande" im RBB. +++ Die alte, aber gute "Löwengrube" in der BR-Mediathek bingezuwatchen, empfiehlt Sybille Simon-Zülch in epd medien.

+++ Und das Fußballspiel heute abend im ZDF kommentiert übrigens auch nicht Claudia Neumann (sondern Oliver Schmidt). Auf der FAZ-Medienseite schildert Elena Witzeck, was internationale Medien zwischen England ("Als die BBC-Journalistin Vicki Sparks vor drei Wochen ihren Einstand als WM-Kommentatorin gab, verkündete der ehemalige Kapitän der englischen Nationalmannschaft, John Terry, auf Instagram, er müsse das Spiel ohne Ton sehen ..."), Argentinien und Italien, "wo in WM-Jahren Fotogalerien der schönsten Sportreporterinnen (inklusive Bikinifotos) die Online-Angebote von Sportmedien schmücken" (FAZ).

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.