Das Altpapier am 20. Juli 2018 Entwicklungsgarantie als Innovationsauftrag

Sind Datschen Zweitwohnungen? Ist mehr "Bad Banks", weniger "Brisant" die Lösung? Wann kommt die personalisierte Mediathek? Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist Zeit für Diskussionen. Außerdem: Weiter Contra gegen das Contra der Wochenzeitung Die Zeit. Holocaust-Leugnen bei Facebook. Der WDR sendet doppelt. Hardy Prothmann soll zahlen. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.

Die kleinen Details und die großen Linien, für den Blick auf beides wurde Tag 2 nach einer Entscheidung erfunden.

Um Ersteres nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Rundfunkbeitrag (Altpapier gestern) rasch abzuschreiten: Nein, Sie können sich nicht einfach so von der GEZ abmelden. Auch nicht, wenn Focus Online das als Service anbietet, und das liegt nicht daran, dass es die GEZ seit 2013 nicht mehr gibt, erklärt Boris Rosenkranz bei Übermedien. Nur als Besitzer einer Zweitwohnung ist die Befreiung vom Beitrag eine Option, wobei allerdings noch geklärt werden muss, als was Datschen oder von Eltern bezahlte Studentenbutzen gelten (Kurt Sagatz mit dpa im Tagesspiegel).

Alles klar? Dann zoomen wir heraus und kommen zur Frage, was die öffentlich-rechtlichen Sender im Programm haben sollten? Zwar stand das in Karlsruhe gar nicht zur Debatte, doch mit der erneuten Bestätigung, dass alle dafür zahlen müssen, lässt sich dieser Evergreen gut spielen.

Das meint zumindest Claus Grewenig, Leiter des Bereichs Medienpolitik der Mediengruppe RTL im Gespräch mit Sebastian Wellendorf bei Deutschlandfunks "@mediasres" (Nachzuhören ab 16.20). Er wünscht sich, welch Wunder,

"die Unterhaltung, gerade, wenn sie kein öffentlich-rechtliches Profil hat, ein deutliches Stück zurückzufahren."

Statt Krimi-Flut sollten ARD und ZDF zur Prime Time auf Bildung, Kultur und Information setzen.

"Das bedeutet nicht, dass diese (unterhaltende, Anm. AP) Programminhalte gar nicht mehr stattfinden sollen, sondern es geht vor allem darum, wann und in welchem Umfang sie passieren."

Das Gegenargument hat Timo Niemeier bei DWDL, wo er ein wenig über die Frage des gesellschaftlichen Beitrags der Sender sinniert.

"Auch wenn 'Public Value' ein schwammiger Begriff ist, den man nicht konkret messen kann, ist klar, dass es Unterhaltung bei den Öffentlich-Rechtlichen immer gegeben hat – und immer geben wird. Alleine schon die vielen Film- und Serien-Eigenproduktionen tragen zur Stärkung des Kreativstandorts Deutschland bei. Anders als die Privaten, die hier erst wieder seit einiger Zeit investieren, haben ARD und ZDF schon seit Jahrzehnten viele fiktionale Eigenproduktionen im Programm. Auch das ist in gewisser Hinsicht Public Value, argumentierten die Öffentlich-Rechtlichen."

Wer möchte, kann aus beidem zusammenschweißen, dass die öffentlich-rechtlichen Sender weniger "Brisant", mehr "Bad Banks" produzieren sollten. Manch ermüdende Debatte über ihren Auftrag würden sie so sicher los. Anderseits folgt hier die private Anekdote, dass über 80-jährige Omas ganz gerne Mareile Höppner und Ross Antony singend Senf verkosten sehen, weil das eben nicht horizontal und vertikal erzählt und dabei so verdammt schnell geschnitten ist. Und über 80-jährige Omas, die übrigens auch Rundfunkbeitrag zahlen, gibt es – danke, demografischer Übergang – gerade ziemlich viele.

Ja, diese Kolumne erscheint – Offenlegung – bei mdr.de. Aber nein, diese Meinung wird ihnen nicht von Karola Wille präsentiert. Ich wollte nur kurz darauf hinweisen, dass ein von allen bezahltes Programm auch für alle etwas bieten sollte. Was nicht bedeutet, dass auf den öffentlich-rechtlichen Sendern nicht ausreichend Knallchargen-Shit zum sofortigen Austausch durch Reise-Dokus bereitsteht.

Über das Programm von ARD und ZDF zu streiten, ist nicht genug

Von der Debatte, was im Fernsehen läuft, kann man nicht nur noch weiter herauszoomen, man sollte es auch. Das meint zumindest der Medienwissenschaftler Hermann Rotermund in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe epd medien (derzeit nicht online).

"Der Programmauftrag gemeinschaftsfinanzierter Medienunternehmen kann in einer Gesellschaft, deren Kommunikationsmedien durch Computernetzwerke gesteuert werden, nicht auf die Verbreitung von Inhalten und deren Qualitätsbeschreibung beschränkt bleiben,

argumentiert er. Das Internet habe Personalisierung und den Dialog aller mit allen zum Alltag gemacht; das müsse sich im Auftrag wiederfinden – auch, um die Akzeptanz beim zahlenden Publikum zu erhalten bzw. wiederzugewinnen.

"Angesichts des Medienwandels und der Verschiebungen auf den Publikumsmärkten muss daher die Entwicklungsgarantie als Innovationsauftrag verstanden werden. Funktionen des herkömmlichen Rundfunks werden inzwischen von Diensten übernommen, die von ihrer Grundstruktur her keine linearen Verbreitungsmedien mehr sind. Unter diesen Umständen genügt es nicht, dem Rundfunk die technische und organisatorische Weiterentwicklung zu gewähren. (…) Es fehlt die Definition der eigenen aktiven Rolle im rapiden Transformationsprozess der Medien und die Orientierung an den legitimen Erwartungen des immer dialogbereiter werdenden Publikums."

Ganz ähnlich sieht das auch Frauke Gerlach, Chefin des Grimme-Instituts und gestern ebenfalls für "@mediasres" interviewt von Sebastian Wellendorf. Ganz besonders wichtig ist ihr, dass nötige Reformen nicht nur von Politikern ausbaldowert werden:

"Wir sind nicht mehr in einer Demokratie, wo wir eben davon ausgehen, dass alle Institutionen und die Politikerinnen und Politiker akzeptiert sind, auch wenn sie gewählt sind. Sondern Politik ist eben heute sehr viel stärker gefordert, für Vertrauen zu werben, also für Vertrauen in Entscheidungsbildungsprozesse. Und ich glaube, in der Rundfunkregulierung ist das mehr als überfällig."

Vielmehr wünscht Gerlach sich eine breite, gesellschaftliche Debatte, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk bieten solle und was nicht. Dazu gehöre auf Seiten der Redaktionen und Sender auch Kritikfähigkeit –

"dass Kritik produktiv auch aufgenommen wird, also dass die Zuschauerinnen und Zuschauer auch sehen: Es bringt auch was, wenn ich etwas sage. Also ein bisschen Demut auch vor den Beitragszahlerinnen und -zahlern ist ein ganz wichtiger Schritt, dass man wahrgenommen wird auch auf der anderen Seite."

In der Theorie klingt das alles ganz prima. Rein praktisch setzt es aber voraus, dass Sender, Verlage, Blogger, Facebook-Seiten-Betreiber und wer heutzutage sonst noch so Plattformen für gesellschaftliche Debatten bereitstellt, hinter den so sorgsam kultivierten Barrikaden hervorkriechen und zu einer fairen Debatte beitragen, die mehr zum Ziel hat als die eigene ökonomische Zukunft. Das vorzustellen fällt mir gerade schwer. Dabei ist es, wenn man wie Gerlach nonchalant in einem Nebensatz unterbringen kann, dass gewählte Politiker sich keiner breiten Akzeptanz mehr sicher sind, dafür allerhöchste Zeit.

Die Wochenzeitung Die Zeit öffnet Fenster nach rechts

Hat hier jemand Zeit gesagt? Dann machen wir doch mit der gleichnamigen Wochenzeitung weiter, die mit ihrer Ausgabe aus der vergangenen Woche zudem manches über den aktuellen Zeitgeist ausgesagt hat.

Ganz recht, es geht noch einmal um das Pro und Contra zur privaten Seenotrettung (zuletzt Thema im Altpapier am Mittwoch). Auf der Titelseite der seit gestern aktuellen Ausgabe nimmt nun die Chefredaktion Stellung:

"Wir hatten es also gut gemeint – was aber bekanntlich oft das Gegenteil von gut ist. (…) Tatsächlich vertritt niemand in der ZEIT – auch nicht die Autorin des Contra-Artikels – die Auffassung, dass man Menschen ertrinken lassen sollte, um andere abzuschrecken. Solche Art inhumaner Logik lehnen wir ab. Dass ein anderer Eindruck entstehen konnte, tut uns von Herzen leid."

Für Anja Maier von der taz ist der Fall damit erledigt, auch wenn das Internet (TM) sich weiter echauffiert, etwa über fehlende Autoren-Namen der oben zitierten Erklärung.

"In jeder Zeitung, in jedem Medium verrutscht mal der Ton, werden Fakten verkürzt, wird nicht lange genug diskutiert. Es werden falsche Entscheidungen getroffen. Dies aussprechen zu können, ohne dass es von der pu­blizistischen Konkurrenz als Einladung zum Draufschlagen verstanden wird – diese Möglichkeit sollte sich die Branche nicht abkaufen lassen."

Ganz anders sieht das Thomas Knüwer.

"'Die Zeit' scheint nicht zu realisieren, dass sie Teil eines größeren Problems ist: Sie öffnet rechtsextremen Gedanken den Weg ins Bildungsbürgertum – und genau das wurde von den Rechten so kalkuliert",

schreibt er in seinem Blog. Dann folgt eine längere Erklärung des Phänomens Overton-Fenster, welches einen wandernden Rahmen definiert, innerhalb dessen geäußerte Meinungen gesellschaftlich akzeptiert sind – oder eben nicht. Genauere Informationen liefert natürlich Wikipedia, aber auch ein sehenswertes Video der amerikanischen Nachrichtenseite Vox.com.

Diese hat bereits Ende des vergangenen Jahres herausgearbeitet, wie sich unter der Präsidentschaft Donald Trumps das Sagbare immer weiter Richtung rechts verschiebt. Auf Die Zeit gemünzt ergibt sich daraus laut Knüwer:

"Solche Meinungen dürfen gern im Hallraum der rechten Filterblase, von Tichys Einblick bis Kopp-Verlag versanden. Wer ihnen Raum gibt, der macht sie gesellschaftsfähig und unterstützt sie dadurch."

Facebook und die Leugnung des Holocausts

Von der Frage, was öffentlich gesagt werden darf und sollte, ist es nur ein Katzensprung bis zum beliebten Vorwurf der Zensur. Zu einer solchen Debatte hat aktuell Zuckerbergs Mark seinen Beitrag geleistet, als er im Interview mit der Tech-Site Recode sagte:

"I’m Jewish, and there’s a set of people who deny that the Holocaust happened. I find that deeply offensive. But at the end of the day, I don’t believe that our platform should take that down because I think there are things that different people get wrong. I don’t think that they’re intentionally getting it wrong".

Bähm! Oder?

Nun muss man wissen, dass die US-Amerikaner die Leugnung des Holocausts anders als die Deutschen nicht als Straftatbestand, sondern unter Meinungsfreiheit verbuchen. Dennoch lässt sich aus dieser Aussage einiges lernen.

Zum ersten scheint Zuckerberg entweder sehr naiv oder extrem verharmlosend unterwegs zu sein, was man sich beides nicht für einen Mann in seiner Position wünscht, und was Patrick Schlereth in der Frankfurter Rundschau schön auf den Punkt bringt, wenn er schreibt:

"Mal eben ganz aus Versehen den Holocaust geleugnet, wer kennt das nicht?"

Zum anderen sagt es viel aus darüber, was Facebook wirklich um- und antreibt, wie Simon Hurtz bei Sueddeutsche.de dokumentiert:

"Aus Facebooks Sicht ergibt das auch wirtschaftlich Sinn: Statt emotionale Inhalte, die viele Menschen teilen und liken, zu löschen, will Zuckerberg, dass andersdenkende Nutzer in den Kommentaren antworten – und damit noch mehr Interaktion auslösen."

Allerdings verweist er auch darauf, dass Hass mit dem Löschen aus dem Netz nicht aus den Köpfen verschwände. "Facebook macht nur für alle sichtbar, was viele Menschen denken." Mit dieser Argumentation könnte man jedoch auch zur Diskussion stellen, ob Kannibalismus, Kinderprostitution oder Sex mit Haustieren nicht mehr Akzeptanz in der Gesellschaft verdienen. Anhänger der drei Praktiken gibt es schließlich genug.

Sie ahnen, woraus das hinausläuft: Manches für unsagbar zu erklären ist nicht das Gleiche wie Zensur. Und Holocaustleugnung weder Meinung noch Versehen.

Altpapierkorb (Doppelte WDR-Doku, Rheinneckarblog, Cumhuriyet)

+++ "Der Sender hat eine Reportage zu ein und demselben Thema doppelt in Auftrag gegeben" – und zwar ausgerechnet zu der gestrigen Breaking-News mit den wissenschaftlichen Veröffentlichungen in nicht ganz so wissenschaftlichen Publikationen, kolumniert Kai-Hinrich Renner über den WDR im Hamburger Abendblatt.

+++ Die vermeintlich Fake-News enttarnende Falschmeldung über den "bisher größten Terroranschlag in Westeuropa" (Altpapier) wird für Hardy Prothmann vom Rheinneckarblog teuer: das Amtsgericht Mannheim hat eine Geldstrafe von 9.000 Euro verhängt, meldet die dpa via faz.net. "Es wurde Widerspruch eingelegt. Interessant: Zahlreiche Medien berichten bereits und geben einen Dreck auf die journalistische Sorgfaltspflicht. Nur zwei Redaktionen haben bislang eine Stellungnahme angefragt", schreibt Prothmann selbst.

+++ Ein aufgehobener Ausnahmezustand macht noch keinen Schlussstrich unter die Verurteilung von Journalisten: In Ankara ist eine Cumhuriyet-Mitarbeiterin zu über zwei Jahren Haft verurteilt worden (Der Standard, Zeit Online).

+++ "Es wäre sinnvoll und gut, den Trump-Anteil in deutschen Nachrichtensendungen zurückzufahren, argumentiert Altpapier-Kollege Christian Bartels in seiner Kolumne bei evangelisch.de.

+++ Rundumschlag zu den Problemen des Sportjournalismus gefällig? Medienwissenschaftler Thomas Horky bietet das im Interview mit Christian Woop bei Spiegel Online.

+++ Wie es dem provinziellen Ableger der Münchner Abendzeitung in Landshut ergeht, hat Andreas Glas für die Medienseite der SZ beim Redaktionsbesuch herausgefunden.

+++ Auf der Medienseite der FAZ steht heute, was ab Ende August bei EntertainTV und später bei TNT ("Arthurs Gesetz", eine tragischkomische Serie mit Martina Gedeck und Jan-Josef Liefers), ab Montag bei Sky ("Succession", eine HBO-Serie über den Abgang eines Medienmoguls) und heute Abend bei Arte (die Doku "Prince – Sexy Mother F*") zu sehen ist (derzeit alles nicht frei online).

Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende allerseits!