Das Altpapier am 25. Juli 2018 Jetzt neu: Medienpolitik zum Mitmachen!

Gibt es bald Gesetze für "rundfunkähnliche Telemedien"? Das lässt sich noch verhindern. Was genau ist Suggestivkraft? Muss sogar Donald Trump den Coup anerkennen, der Mesut Özil auf Twitter gelang? In der Debatte um Rassismus, Ross und Reiter läuft trotz nicht weniger richtiger Argumente ungefähr alles schief. Außerdem: die deutsche Tradition des Regiefernsehens, die "weltweite Free-TV-Premiere" von "Babylon Berlin". Ein Altpapier von Christian Bartels.

Liebe "Bürgerinnen und Bürger sowie Medienschaffende", Sie sind herzlich eingeladen, und zwar mit dazu, "aus dem  Rundfunkstaatsvertrag einen Medienstaatsvertrag zu machen"!

Ansprechend gestaltet ist die im Namen der Rundfunkkommission der Bundesländer von der rheinland-pfälzischen Landesregierung ausgesprochene Einladung bzw. "Online-Beteiligung". Drüber prangt ein attraktives Symbolfoto mit Käsebroten und grünem Tee auf Holzdielen (also die Brote auf einem Teller, der Tee in einer Tasse) sowie selbstverständlich einem Laptop und einem Tablet. Cooler als das etwa von horizont.net zur Illustration derselben Meldung verwandte Foto ist es jedenfalls. Wichtiger ist der ins Netz gestellte Textkörper: eine 28-seitige PDF-Datei, die auf 26 Seiten zweispaltig alte Rundfunkstaatsvertrags-Paragraphen und Entwürfe zu neuen Medienstaatsvertrags-Paragraphen, die die alten ersetzen sollen, einander gegenüber stellt. 

Bis zum Einsendeschluss am 26. August dürfen übers Kontaktformular "Stellungnahmen, Anmerkungen und Feedback" eingereicht werden. Gewiss lässt sich fragen, wie das gehen soll, falls tatsächlich umfassende Anregungen eingehen, aber das neue Gesetz doch "spätestens Ende des Jahres ... angewendet werden" können soll, wie die Bremer Medienwächterin Cornelia Holsten (offizieller Titel: "Vorsitzende der Direktorenkonferenz der  Landesmedienanstalten") im Deutschlandfunk-Interview hofft. Für Schnelligkeit ist die Rundfunk- bzw. Medien-Gesetzgebung schließlich nicht bekannt, und in erster Linie müssen die 16 tendenziell immer noch zerstritteneren Bundesländer sich einig werden. Andererseits, die Einigung auf den Telemedien-Staatsvertrag (Altpapier) kam überraschend flott, und daran war mit Mathias Döpfner zumindest bereits ein medienschaffender Bürger beteiligt.

Und der Ansatz überzeugt. Es geht um Begriffe:

"Rundfunk ist heute mehr als Radio und Fernsehen: Smart-TVs, OTT, Streaming, Lets Plays oder user-generated-content sind nur einige Begriffe, die den Medienwandel beschreiben",

schreibt die Rundfunkkommission. Ich zum Beispiel wäre gleich dafür, den werblichen Hersteller-Begriff "Smart-TV" nicht zu verwenden (vgl. Stiftung Warentest: "Doch wo 'Smart' drauf­steht, gehen immer auch Daten raus"), und musste erst mal gucken, was denn "OTT" sein soll. "Neue nicht-infrastrukturgebundene Angebote", die, warum auch immer, mit "over the top" abgekürzt werden, meinen die Ministerialbeamten damit.

Andererseits: Eigene, noch wenig bekannte Wortschöpfungen aus dem Medienstaatsvertrags-Entwurf lauten "Bagatellrundfunk" (S. 11 des oben verlinkten PDFs), der immerhin den Vorzug besäße, dass niemand ihn werblich verwenden wird,  und "rundfunkähnliches Telemedium" (S. 5). Damit würde also der in den betroffenen Nischen hoch umstrittene Begriff "presseähnlich" in angrenzende, wenn nicht zusammenwachsende Gebiete fortgeschrieben. Was jedenfalls zeigt: Es ist eine gute Idee, vor der Verabschiedung öffentlich drüber zu diskutieren. Vielleicht kann das eine oder andere wirklichkeitsferne Begriffs-Ungetüm verhindert werden.

Ist Internet nicht suggestivkräftiger?

A propos "Schlüsselbegriffe des Rundfunkrechts": Da ist noch mal Hermann Rotermunds schon am Freitag hier erwähnter, weiterhin nicht online stehender epd medien-Artikel interessant. Außer nach vorne auf die "Entwicklungsgarantie als Innovationsauftrag" (Altpapier) blickt der Medienwissenschaftler auch zurück auf die Entwicklung von "Schlüsselbegriffen des Rundfunkrechts". Was nur geschieht: Auch Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts sieht er kritisch. Und schreibt etwa:

"Die Schlüsselbegriffe des Rundfunkrechts sind zwischen 1961 und 1994 eingeführt worden, der Blütezeit der Massenmedien. Für die Welt der Massenmedien und ihre spezielle Konfiguration in Deutschland lieferten sie auch zeitgemäße Orientierungen. Wie können aber unter den heutigen, durch Netzwerkmedien bestimmten Kommunikationsverhältnissen 'Vielfalt' und 'Integration' noch produktiv gemacht werden? Ein kleines Beispiel ist die Begriffstrias 'Aktualität, Breitenwirkung, Suggestivkraft'. Sie wurde erst 1994 vom Bundesverfassungsgericht eingeführt ..."

... und trifft die Gegenwart der späteren 10-er Jahre nicht mehr perfekt. Schließlich ist das Internet aktueller als der Rundfunk, "weist die gleiche Breitenwirkung und durch die Möglichkeiten der Anschlusskommunikation auf seinen Plattformen sogar größere Nachhaltigkeit auf." Und, äh, suggestivkräftiger als Fernsehen könnten "Computerspiele und interaktive Umgebungen im Internet" sein.

"Abgesehen davon bleibt es rätselhaft, wie dieser Begriff [Suggestivkraft], der keinerlei wissenschaftlichen oder empirischen Bezug hat, überhaupt in die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eindringen konnte."

"Rassismus", Ross und Reiter, Wurst und Speck (Özil-Debatte)

Was die Suggestivkraft des Internets aktuell leider beweist, freilich nicht im Sinne des Integrationsauftrags des Rundfunks: die unüberblickbare Debatte rund um Ex-Nationalspieler Mesut Özil (Altpapier gestern). Die Berichterstattung ist "nicht nur außerordentlich (vielleicht auch: übertrieben) intensiv, sondern auch vielfältig" (Siegfried Weischenberg), und sie geht immer noch weiter.

Mit geprägt wurde sie, worauf Max Dinkelaker bei 11freunde.de aufmerksam machte, auch durch einen "Übersetzungsfehler einer großen deutschen Nachrichtenagentur", des SID/ Sport-Informations-Diensts nämlich.

Als Top-Reizwort erwiesen hat sich, aus dem Englischen der Özil-Berater (denen Springers Welt nachspürt) korrekt übersetzt: "Rassismus". Der "Rassismus-Spin" (Bild-Zeitungs Julian Reichelt auf Twitter), den man auch "-Keule" (Michael-Wolffsohn-Kommentar ebd.) oder "-Karte" (Sophia Thomalla) nennen kann.

Gegenpositionen bezogen etwa einer der engagiertesten öffentlich-rechtlichen Power-Twitterer, und inzwischen auch Recep Tayyip Erdogan. (Wobei der auch dank Mesut Özils Hilfe bestätigte türkische Staatschef tagesaktuell sogar von "rassistischst" und "faschistischst" sprach, allerdings mit Bezug auf Israel).

"In der Forschung steht der Rassismus für eine Leerformel. Das ist ein sehr komplexer  Begriff, der in der Geschichte sehr unterschiedlich verwendet wurde",

sagte in einem weit gereisten Interview (Süddeutsche-Feuilleton, tageasanzeiger.ch) der Konstanzer Kulturwissenschaftler Özkan Ezli. Das ist vor allem der Begriffs-Kritik wegen lesenswert, bekam aber wegen seiner Überschrift:  "Özil ist Opfer, aber er ist auch Täter" ebenfalls contra:

"Die gesamte Situation, die mit der WM und dem Statements von Özil verbunden ist, ist sehr  komplex und nicht dazu geeignet, hier eindeutig von 'Opfern' und 'Tätern' zu sprechen.  Diese Zuschreibungen sind selbst Ausdruck einer unterkomplexen Herangehensweise",

schimpfte die Tübinger Medienethikerin Jessica Heesen im meedia.de-E-Mail-Interview (und im Rahmen einer auch alles andere als überkomplexen Argumentation).

Journalistengewerkschafter setzen traditionell auf die Integrationskraft älterer Sprichwörter- Redewendungen. Kaum, dass der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall Mesut Özil aufgefordert hat, wenn er "Rassismus in deutschen Zeitungsredaktionen am Werk sieht", gefälligst "Ross und Reiter" zu nennen, kommt sein Vorvorgänger Siegfried Weischenberg im selben Kontext mit einer noch älteren Redensart um die Ecke: "Mit der Wurst nach der Speckseite werfen" heißt sein SPON-Gastkommentar.

Dabei hätten SEO-Experten auch eine Überschrift mit Donald Trump draus machen können. Immerhin müsse laut Weischenberg "selbst Trump ... wohl neidlos anerkennen", dass "Özils PR-Leuten" ein "Coup gelungen" ist, indem sie "in ordentlichem Englisch ... die großen Themen Integration und Rassismus erfolgreich oben auf der Agenda platziert" haben. Interessant wird der Kommentar, wenn Weischenberg "den Fall jenes Reinhard Grindel", dessen Rücktritt als DFB-Präsident inzwischen kaum jemand mehr nicht fordert, zurück ins ZDF führt:

"Grindel ist von Haus aus Journalist - was von den Medien bisher meistens unterschlagen wird. Wahrscheinlich immer schon im Herzen Politiker oder Funktionär, tarnte er sich eine Zeit lang unter anderem als Leiter des ZDF-Büros in Brüssel. In dieser Zeit schrieb er dem damaligen Vorsitzenden des Deutschen Journalisten-Verbandes einen geharnischten Protestbrief und machte seinen Verbleib als Verbandsmitglied davon abhängig, dass dieser sofort zurücktrete. Schon seinerzeit hatte sich bei ihm also zum Mittelmaß der Größenwahn gesellt",

schreibt der ehemalige DJV-Vorsitzende. Und verbindet also – enorm exemplarisch – durchaus überzeugende Argumente mit dem späten Begleichen einer sehr alten eigenen Rechnung. Was auf die Argumente natürlich zurückwirkt.

Es ist eine, wie es die 11 Freunde formulieren: "vollkommen verhunzte" Debatte, deren Eigendynamik von den vielen zirkulierenden Argumenten kaum berührt wird, so dass inzwischen alle mindestens zwischen Horst Seehofer und den 11 Freunden von "Verlierern auf allen Seiten" sprechen können (wobei sie natürlich ausblenden, dass wahre Rassisten sowie Erdoganisten keineswegs verlieren). Wahrscheinlich sollte man es an dieser Stelle damit bewenden lassen. Doch ...

... es ist noch nicht genug mit Özil. Just kamen auf Twitter (und auf Facebook mit einem weiteren Zusammenfassungs-Text verknüpft) via Cordt Schnibben ältere Özil-Erdogan-Fotos aus den Jahren 2011, 2011, 2016 und 2017 neu ans Licht, die zumindest in weiten Teilen der laufenden Debatte noch gar nicht berücksichtigt wurden. Zu befürchten ist, dass es weitergeht.

Altpapierkorb (Kontrakt18, Führungskräfte-Tarifrecht, Gewerkschaften bei Arte, Lob (!) für Bundeswehr-Serie)

+++ Am gelungensten ist Integration, wenn sie gar nicht erwähnt zu werden braucht. Orkun Ertener, geboren 1966 in Istanbul, hat mit "KDD" eine der besten deutschen Fernsehserien in einer Zeit, in der es gute kaum gab, entwickelt. Aber Drehbuchautoren stehen eben nicht vor Kameras. Harald Keller hat ihn für medienkorrespondenz.de über die Autoren-Initiative "Kontrakt18" (Altpapier) interviewt. Kein Wort über die Türkei, keines über Fußball, stattdessen über Herbert Reinecker und "Autoren wie Stromberger, Fassbinder, Reitz". Doch sei hierzulande "die Tradition des Regiefernsehens und des Produzentenfernsehens bis heute etwas Ungebrochenes".

+++ Sehr schöne Antworten sammelte auch Deutschlandfunks "@mediasres" bei einer Umfrage unter den Sendeanstalten, ob deren höchstbezahlte Führungskräfte zu "mehr Zurückhaltung bei den Gehältern" bereit seien, wie sie der Top-Verdiener Tommy Buhrow zurückhaltend ins Spiel brachte. "Der Mitteldeutsche Rundfunk schreibt, dass bei Führungskräften in der Mehrzahl der Fälle das Tarifrecht greife. Demnach seien auch die Gewerkschaften zu befragen, 'ob sie in  den nächsten Tarifrunden freiwilligen Verzicht üben wollen'."

+++ "Der Deutsche hat in seiner Karriere das  Nachsehen" zitiert Daniel Bouhs in der taz ein "Verdi-Urgestein". Es geht um französisches und deutsches Arbeitsrecht am Sendersitz Straßburg und den Fall des "heftig erkrankten" Moderators Gerhard Manthey.

+++ Das Erste hat eine neue Fernseh-Programmidee entdeckt, das "Trödel-Genre", und zwar, äh, im Zweiten (dwdl.de).

+++ Es hat aber auch einen prima Spin gefunden, die Zweitverwertung der schon überall durch-gelobten Serie "Babylon Berlin" zu präsentieren: Es bietet die "weltweite Free-TV-Premiere", steht in der Ankündigung zum Produktionsstart der nächsten Staffel.

+++ "Erschreckend groß" seien die "Ähnlichkeiten zwischen dem fiktionalen Hamady-Clan um Toni und seinen Bruder ... und der realen Situation in Berlin", meint der Tagesspiegel zur im Oktober anlaufenden zweiten Staffel der auch nicht wenig gelobten Serie "4 Blocks".

+++ Auf der FAZ-Medienseite empfiehlt Oliver Jungen den Dokumentarfilm "Rabbi Wolff", der heute abend gar nicht so spät (22.45 Uhr) im Ersten läuft: "Verwundert reibt man sich die Augen, wie viel positive Lebensenergie in einem einzigen Menschen stecken kann. Gerade in Deutschland, wo auch die Gutwilligen gehemmt sind, wenn es um das Judentum geht, weil sie keine Fehler machen wollen, gerade hier ist jemand wie Rabbi Wolff, der einem ohne jede Scheu Einblicke in diese Religion gewährt, Gold wert."

+++ Auf der SZ-Medienseite empfiehlt, jawohl empfiehlt ("Doch machen die Bundeswehr-Filme ... aus den vielen Nöten eine Tugend") Bernd Graff die neueste Webserie der Bundeswehr.

+++ Falls es in der Funke-Mediengruppe der letzten Zeit mal nicht "rumort" haben sollte: Jetzt tut es das wieder, berichtet meedia.de.

+++ Was bei epd medien frisch online steht: Wie und warum noch mal Otto Waalkes wurde, was er immer noch ist.

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.