Das Altpapier am 27. August 2018 Spekulationen ≠ Journalismus

Bei der "Tagesschau" wird weiter jedes Milligramm der Berichterstattung genauestens ausgewogen – wenn es um Migration und Kriminalität geht. Aber ist dabei nicht die Frage viel wichtiger, warum die Diskrepanz zwischen dem, was in sozialen Medien herumgeistert und dem, was in "Tagesschau" & Co. berichtet wird, so sehr wächst? Die Polizei versucht’s bei der Causa Hutbürger mit mehr Diplomatie. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Stellen Sie sich vor, bei einem Stadtfest wird ein Mann um's Leben gebracht. Ein Mann ohne deutsche Staatsbürgerschaft wird in Verbindung damit festgenommen. Am Nachmittag sammeln sich an die 1.000 Menschen, darunter Rechte und Hooligans, und ziehen durch die Straßen, gehen teilweise auf Migranten und auch Polizisten los – und keine der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen berichtet darüber. Das ist so nicht passiert, aber in sozialen (?) Medien werden die Vorfälle in Chemnitz (#c2608 und #c2708) genutzt, um (Überraschung) Misstrauen gegen die Medien zu schüren.

Tatsächlich berichteten die beiden großen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenleuchttürme zunächst nicht. Bei der 19-Uhr-Ausgabe von "Heute" ging es um das Sommerinterview mit CSU-Innenminister Seehofer, die Ermittlungen gegen den italienischen Innenminister Salvini, die Ausreise der deutschen Journalistin Mesale Tolu aus der Türkei, den Tod des US-Republikaners John McCain und Waldbrände in Brandenburg.

In der "Tagesschau" um 20 Uhr waren die aktuelle Diskussion um Renten- und Sozialpolitik, SPD-Außenminister Maas zur US-Wirtschafts- und Außenpolitik, der Tod McCains, Mesale Tolus Ankunft in Deutschland, die Überprüfungen der Asylbescheide der Bremer BAMF-Außenstelle, Flüchtlinge in Italien und Familienzusammenführungen in Korea Thema. In den Tagesthemen kamen die Ereignisse in Chemnitz dann aber kurz vor. Bei regionalen Medien waren die Vorfälle hingegen ein größeres Thema, in sozialen Medien sowieso.

Die Tagesschau im Milligramm

Radio Chemnitz berichtete etwa bei Twitter von "Jagdszenen in der Innenstadt". Rechte Gruppierungen hätten versucht, die Polizei zu "überrennen". Die Lage sei allerdings "unübersichtlich". Auf der Website des Senders werden die Ereignisse detaillierter geschildert. Die Vorfälle sollen sich zwischen 15 und 17.45 ereignet haben.

Beim MDR (bei dem ja auch das Altpapier erscheint) hieß es:

"Ein Augenzeuge berichtete dem MDR, dass viele Besucher vom Abbruch des Festes nichts mitbekommen hatten und sich noch in der Innenstadt aufhielten, als der Demonstrationszug startete. Aus dem Zug hätten sich einzelne Gruppen gelöst und seien mit dem Ruf "Kanakenklatschen!" durch den Stadthallenpark gerannt. Eine Gruppe Migranten habe daraufhin die Flucht ergriffen. Dem Zeugen zufolge kam dabei mindestens ein Migrant zu Fall und wurde, am Boden liegend, von den Angreifern geschlagen und getreten. Die Polizei habe weitere Ausschreitungen verhindert."

Zumindest verstärkend auf die Aggressionen dürfte auch die Berichterstattung der Bild gewirkt haben. Die hatte nämlich (in rechte Narrative passend) berichtet, der Mann sei getötet worden, nachdem er einer Frau habe helfen wollen, die belästigt worden sei. Mittlerweile wurde der Text geändert. Im Twitter-Account der Chemnitzer Bild ist der Dreh aber noch gut zu erkennen.

SpOn berichtet stattdessen auch über den Aufruf der Polizei, zunächst die Ermittlungen abzuwarten:

"Kursierende Gerüchte, wonach dem Streit eine Belästigung von Frauen vorausgegangen sein soll, bestätigten sich nach ersten Ermittlungen der Polizei nicht. Die Polizei rief auf Twitter dazu auf, sich nicht an Spekulationen zu beteiligen."

In einer PM erklärte die Sächsische Polizei:

"Am frühen Sonntagmorgen, gegen 03.15 Uhr, war es in der Brückenstraße nach einem verbalen Disput zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen unterschiedlicher Nationalitäten gekommen. (…) Nach der Auseinandersetzung waren mehrere Personen vom Ort geflüchtet. Polizeibeamte konnten im Rahmen der Fahndungsmaßnahmen zwei Männer (22/23) stellen, die sich entfernt hatten. Ob diese in die Auseinandersetzung involviert waren, muss im Zuge der weiteren Ermittlungen geklärt werden."

Man habe die Ermittlungen aufgenommen. Auslöser des Streits mit tödlichen Folgen und dessen genauer Tatablauf müssten allerdings noch ermittelt werden.

Von einer Nachrichtenredaktion, die per Definition ja auf unerwartete Ereignisse eingestellt sein müsste, zu einer Anstalt mit Landes- und Regionalstudios in ganz Deutschland gehört und einen hohen Professionalitätsanspruch an sich selbst stellt, kann man erwarten, solche Ereignisse aufzugreifen. Das ist, wenn auch kurz, passiert. Über den Umfang und die Wortwahl im Einzelnen kann man sicher diskutieren.

Die Ereignisse in Chemnitz beschäftigen ganz Deutschland – rechts, links, mitte. Sie polarisieren und vertiefen die Gräben zwischen verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lagern. Gerade deshalb ist es sinnvoll, die Ereignisse aufzugreifen. Nun muss dem weiter nachgegangen und aufgeklärt werden, was sich genau ereignet hat.

Wichtig ist aber doch auch, sich nicht aus Angst vor Kritik der Zuschauer von journalistischen Standards zu verabschieden, Spekulationen zu verbreiten oder in die Welt zu setzen oder weiterzuverbreiten. In Zeiten des Internets scheint immer wieder in Vergessenheit zu geraten, dass die journalistische Arbeit zu einem großen Teil aus dem Filtern und Gewichten von Ereignissen besteht, statt immer sofort auf alles anzuspringen, was gerade so im Netz die Runde macht. Zeit für Recherchen und das Abwarten gesicherter Fakten sollte Redaktionen zugesprochen werden. Das heißt aber natürlich nicht, dass eine Kritik an der generellen Themenauswahl großer Nachrichtensendungen dabei ausgeschlossen werden soll.

Scheinbar wird aber die Diskrepanz zwischen dem, was in sozialen Medien herumgeistert und dem, was in "Tagesschau" & Co. berichtet wird, immer größer. Das sollte uns eher Grund zum Nachdenken geben, als jedes Mal erneut auf die Goldwaage zu legen, wie viel Milligramm welches Thema in welcher Sendung zu welcher Uhrzeit gewogen hat. Ansonsten vergessen wir bei aller Erbsenzählerei die Hintergründe und Ursachen der Kritik und des Misstrauens. Das ist aber sicher auch ein Problem, mit dem Nachrichtenredaktionen sich intensiv auseinandersetzen müssen, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit auf Dauer erhalten wollen. In dubio pro Transparenz (hier und dort im Altpapier) ist dabei weiterhin kein schlechter Leitsatz.

Ich hab Diplomatie

Das gilt auch für die Polizei, wenn es um den Umgang mit Journalisten geht. Und dazu wäre auch eine ordentliche Prise Wissen über das Presserecht unter Polizisten wünschenswert, vor allem nach der Causa Hutbürger in Dresden (siehe Altpapiere vergangener Woche).

Im Deutschlandfunk kritisierte Polizeiprofessor Rafael Behr am Wochenende Mängel in der Ausbildung von Polizisten, was den Umgang mit Journalisten und das Wissen über die juristischen Grundlagen angeht:

"Weniger stark ist das Wissen verbreitet, insbesondere an der Basis der Polizei, was Medien dürfen. Ich würde heute davon ausgehen, dass alle Polizeiverantwortlichen, die in Führungsfunktionen sind, darüber relativ gut informiert sind, aber die sind in der Regel nicht auf der Straße. Tatsächlich kann es sein, dass nicht jeder Einsatzpolizist über die Zuständigkeiten der Medien und deren Rechte genauestens informiert ist, sodass er zum Beispiel, wie wir es gewünscht hätten, in so einer Situation, wie jetzt im Fernsehen gezeigt wurde, souverän hätte auftreten können."

In der Polizistenausbildung würden häufig andere Schwerpunkte gesetzt. Das bewertet Behr nicht als "Totalversagen", allerdings sei

"tatsächlich die Lehre dessen, was anderen zusteht, geringer ausgeprägt als die Lehre von dem, was die Polizei darf und was sie nicht darf."

Sehr diplomatisch ausgedrückt.

"Tatsächlich ist es so, dass Polizisten aus dem Glauben heraus leben und in der Erfahrung leben, dass sie erst mal alles sicherstellen müssen, um den Prozess einer Strafanzeige, die möglicherweise auch noch kommt, erst mal in Gang zu setzen und das sicherzustellen. Insofern kann ich eigentlich von der Grundeinstellung schon verstehen, wie die Polizisten gehandelt haben. Möglicherweise war das tatsächlich zu diesem Zeitpunkt nicht geschickt und auch nicht angemessen."

Ebenfalls sehr diplomatisch ausgedrückt.  Das schaffte wohl auch der Dresdener Polizeipräsident Horst Kretzschmar, als er sich beim ZDF für das lange Festhalten bei der Pegida-Demo entschuldigte. Zeit Online schreibt dazu:

"Es sei ihm 'unerklärlich', dass die Kontrolle des Journalisten so lange gedauert habe. 'Ich habe zugesichert, dass wir dies in der Polizei aufarbeiten werden.' Zudem schrieb er: 'Wir haben als Polizei sicherzustellen, dass Meinungs- und Demonstrationsfreiheit und die freie Berichterstattung durch Medien über Demonstrationen und Versammlungen aller Art garantiert bleibt.'"

Dass solche Maschen von rechter Seite kein absoluter Einzelfall sind und auch die Polizei immer wieder bei der Behinderung journalistischer Arbeit mitwirkt, zeigen auch andere Fälle aus München. In der vergangenen Woche habe es dort mindestens drei Vorfälle gegeben, bei denen Polizisten Journalisten an ihrer Arbeit gehindert hätten, weil Pegida-Anhänger sich mit Verweis auf die DSGVO bei der Polizei gegen die (Bild-)Berichterstattung beschwert hätten, schreibt Martin Bernstein bei SZ.de. Der BJV findet das erwartungsgemäß nicht so dolle.

"'Das hat Methode', sagt Dennis Amour, Geschäftsführer des Bayerischen Journalisten-Verbands. Allerorten sei Ähnliches zu beobachten: Mit 'haltlosen Anschuldigungen' würden Journalisten an ihrer Arbeit gehindert."

Kurse zum Thema Presserecht können an Polizeiakademien also keineswegs schaden. Und, Achtung #Servicetweet: Auch wir Journalisten sollten unsere Rechte detailliert kennen und sicher argumentieren können, um uns möglichst schnell gegen pegidaeske Anschuldigungen zur Wehr setzen zu können. Wissenswertes dazu hat Benjamin Reibert ebenfalls bei SZ.de zusammengefasst.

Altpapierkorb (Tolu in Deutschland, Zeitungen als Fußvolk, BAMF, Hayali im "Sportstudio")

+++ Mesale Tolu ist zurück in Deutschland. Nachdem die deutsche Journalistin lange in der Türkei festgehalten wurde und die meiste Zeit davon im Gefängnis verbringen musste, durfte sie am Wochenende mit ihrem Sohn zurück nach Deutschland reisen. In der taz berichtet Jürgen Gottschlich: "Gegenüber wartenden Journalisten sagte Tolu: 'Es ist nicht so, dass ich mich wirklich über die Ausreise freue.' Denn die Repressionen seien dort in vollem Gange und über hundert Journalisten weiterhin in Haft." In der Süddeutschen schreibt Stefan Mayr heute, Tolu wolle auch künftig kritisch über die politischen Verhältnisse in der Türkei berichten und sich für alle Menschen einsetzen, die zu Unrecht inhaftiert sind. Ihre Ausreise sehe sie nicht als Veränderung in Richtung Demokratisierung. "Trotz der 'Willkürherrschaft' wolle sie bei dem Prozess dabei sein. 'Ich muss zwar an meinen Sohn denken, aber ich bin jetzt erst mal ein bisschen mutig.'" Auch bei FAZ und Zeit Online gibt es Meldungen.

+++ Die taz bzw. deren Medienredakteurin Anne Fromm hat ein großes Interview mit RND-Chefredakteur Wolfgang Büchner geführt. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (Madsack) soll künftig ja eine gemeinsame Hauptstadtredaktion mit DuMont aufbauen und die Titel beider Häuser mit Inhalten für den Mantelteil beliefern (siehe Altpapier x und y). Regionalzeitungen sollten seiner Meinung nach besser ihre (ehemals) glänzende Rüstung ausziehen und sich als Fußvolk zusammenschließen um zu überleben, findet der ehemalige Spiegel-Chef. "Ich finde es wertvoller, die Vielfalt von Regionalzeitungen überhaupt zu erhalten, als zuzuschauen, wie Zeitungen im Stolz sterben, weil sie versuchen, ihre Mantelredaktion aufrechtzuerhalten, was sich wirtschaftlich nicht rentiert. Dann ist es doch besser, wenn sich Lokalzeitungen auf das konzentrieren, was sie am besten können, nämlich die Berichterstattung über das Lokale und Regionale."

+++ Das es in den USA durchaus Solidarität mit Journalisten, in diesem Fall mit den erschossenen Reportern aus Annapolis (hier und hier im Altpapier) gibt, berichtet Martin Steinhagen bei der Frankfurter Rundschau.

+++ Das der "BAMF-Skandal" bei der Bremer Außenstelle medial ziemlich dramatisiert wurde (wie schon in diesem und jenem Altpapier kritisiert) belegt jetzt auch die offizielle Untersuchung der Bescheide. Es berichtet z.B. die Süddeutsche.

+++ Dunja Hayalis erster Streich im "Sportstudio" ist vollbracht. Die Begeisterung hält sich bisher in Grenzen. Bei FAZ.net schreibt Frank Lübberding, die Journalistin sei "mit großen Ansprüchen in ihre Premierensendung, um aber so zu enden, wie die Nationalmannschaft in Russland". Matthias Dell bei Zeit Online findet: "Die Sendung schwelgt im Selbstreferenziellen – auch der Versprecher fehlt nicht." Und auch beim Tagesspiegel ist Markus Ehrenberg nicht übermäßig begeistert: "Man muss dieses Magazin nicht neu erfinden, aber ein bisschen mehr Spirit hätte es schon sein können. Das in die Jahre gekommene 'Sportstudio' braucht frischen Wind."

+++ Über die Onlinepräsenz der öffentlich-rechtlichen Medien wird nicht nur in Deutschland gestritten. Auch in Österreich birgt das Thema Zunder.

+++ Die Österreicher sind nicht sonderlich begeistert von der Hochzeit ihrer FPÖ-Außenministerin Kneissl und der Einladung Russlands Präsident Putin. Für Diskussionen sorge aber auch die Tatsache, dass Russia Today die Bilder exklusiv verbreiten durfte, berichtet der Standard.

+++ Beim WDR-Blog Digitalistan wirft Dennis Horn schon mal einen Blick auf die IFA (startet am Freitag in Berlin) und prophezeit das "Hypethema" der Messe in diesem Jahr: künstliche Intelligenz und Sprachassistenten.

+++ Nachrufe auf Dieter Thomas Heck gibt’s z.B. beim Tagesspiegel, der taz und beim Spiegel.

+++ Fictional Crime mit Schüttelreim: Eine Tatort-Kritik gibt’s z.B. beim Hamburger Abendblatt von Frank Preuß: "Bei aller Küchenpoesie purzeln auch wieder ein paar schmerzhaft schlichte Kalauer übereinander. Doch der schwarze Humor behält meist die Oberhand. Und wenn bei einem hinreißend boshaft inszenierten Doppelvergiftungsversuch (Regie: Richard Huber) einer der beiden Täter zum Schüttelreim greift, um die Klöße nicht zu verwechseln, muss man gratulieren."

+++ Für einen persönlichen Rückblick auf 60 Jahre Abendschau hat Bernd Matthies beim Tagesspiegel tief in seinem Fernsehgedächtnis gekramt.

Neues Altpapier gibt’s wieder am Dienstag.