Das Altpapier am 3. September 2018 In der Arena

Wer einen Ballon zum Platzen bringen will, muss ihn erst einmal aufblasen: Warum Thilo Sarrazins neues Buch nicht einfach unter den Tisch fällt. Warum Patrick Bahners twittert. Wie seriöse Medienkritik an der Chemnitz-Berichterstattung von der AfD instrumentalisiert wurde. Was Dunya Hayali und andere Reporterinnen und Reporter in Chemnitz erlebten. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Es ist interessant, nachzulesen (zum Beispiel im Altpapier von damals), wie Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" vor acht Jahren medial verarztet wurde. Der Wirbel begann mit Vorabdrucken in Bild und, mehrseitig, im Spiegel. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung – das Schirrmacher-Feuilleton – legte es kurz danach auseinander, bevor sie eine größere Debatte aufzog, in deren Rahmen sie unter anderem Sarrazin interviewte, auf die Buchmesse begleitete und ihn schließlich nach Monaten noch einmal als Autor zu Wort kommen ließ. Er war rund um die Veröffentlichung zu Gast in so gut wie allen Talkshows, und am Vorabend des Erscheinens standen Beiträge darüber zum Beispiel bei sueddeutsche.de, welt.de, berliner-zeitung.de oder taz.de ganz oben.

Sarrazin war überall. Die Frage, ob er seinerzeit von Medien groß gemacht wurde, dürfte sich jedenfalls erübrigen; ihren Scherf haben sie beigetragen.

Acht Jahre später sind wir aber zum Glück alle ein bisschen klü…, haha, kleiner Scherz: Sarrazins neues Buch ist wieder überall. (Außer im ARD-Fernsehen: Sucht man in der Mediathek nach dem Titel des Buchs, "Feindliche Übernahme", findet man einen Film, der am Sonntagnachmittag lief: Ruth Drexel und Uschi Glas, Regina und Antonia, wehren sich gegen den korrupten Bankdirektor Vorreiter und den käuflichen Bürgermeister Flohofer, die das "Kleine Hotel am großen See" schlucken wollen. – Aber keine Sorge, im Hörfunk gab es schon diverse Beiträge, und hier, im beim MDR erscheinenden Altpapier, ist er ja nun auch wieder Thema.)

Der Sarrazin-Ballon

Warum zum Schnorres wird über Sarrazin rauf und runter geschrieben? 2010 argumentierte der (damals) wirtschaftswissenschaftliche Doktorand Danyal Bayaz, der heute für die Grünen im Bundestag sitzt, in einem der FAZ-Sarrazin-Debattenbeiträge etwas proseminarig, aber nicht falsch:

"Je mehr (…) Nachrichtenwerte ein Ereignis erfüllt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass darüber ein öffentlicher Diskurs geführt wird. In diesem Fall werden gleich drei der wichtigsten Kriterien der Nachrichtenlogik erfüllt. Erstens Personalisierung: Die Debatte ist fest verbunden mit der Person Thilo Sarrazin. Zweitens Konflikt: Eben diese Person stützt ihre Argumente auf ein Menschenbild, welches dem ihrer Partei diametral gegenüber steht. Drittens Prominenz: Dass das Ganze noch aus der Feder eines Vorstandes einer der glaubwürdigsten Institutionen der Bundesrepublik stammt, macht das Schlüsselereignis perfekt."

2018, heute also, gilt einiges davon allerdings nicht mehr: Dass Sarrazin nicht für die SPD spricht, ist mittlerweile bekannt. Und er schreibt auch nicht mehr als unter Glaubwürdigkeitsverdacht stehender Bundesbankvorstand, sondern als einer der umstrittensten deutschsprachigen Buchautoren. Sein Buch wird in Rezensionen als fachlich nicht auf dem Stand, als simpel, als polarisierend bezeichnet. Es segelt offensichtlich deutlich unter dem Niveau durch, das ein Sachbuch üblicherweise haben muss, damit sich Redaktionen damit beschäftigen.

Warum also befassen sie sich trotzdem damit? Klickgeilheit usw. gehen als Begründungsreflexe zwar immer. Aber versuchen wir es mal etwas eleganter, etwa mit Christoph Kappes bei Twitter:

"Ich lese hier ständig Kritik, man solle Sarrazins Buch ignorieren. So funktioniert Öffentlichkeit nicht: wer einmal durch mehr als Zufall Publikum hat, hat auf dieses Einfluss. Ändern kann sich das nur durch stete Kritik, auch wenn sie selbstverständlich scheint und wehtut."

Oder so: Man kann gerade den größten Mist nicht einfach so stehen lassen, wenn man weiß, dass ihn Tausende (plus großes X) lesen und ernstnehmen werden.

Oder so: Kaum eine Redaktion kann ein Thema, zu dem alle anderen veröffentlichen, konsequent nicht behandeln, wenn sie sich nicht vorwerfen lassen will, sie habe als einzige nichts zu sagen.

Oder aber so: Man kann nur zeigen, "dass man den Bluff durchschaut", wenn man darüber schreibt. Die Formulierung ist dem Übermedien-Interview mit FAZ-Redakteur Patrick Bahners entnommen, in dem es nicht um Sarrazin geht, aber sie passt hier gerade so schön. Bahners begründet so, warum er etwa die Sami-A.-Kampagne von Bild nicht einfach wegzunicken bereit ist, sondern darüber twittert. "Millionenfach verbreitete Propaganda kann man so einfach nicht unschädlich machen", sagt er. Aber "(d)ann und wann kann man einen Ballon platzen lassen".

Wer einen Ballon zum Platzen bringen will, muss ihn aber wohl erst einmal aufblasen. Aus der Nummer kommt man im Journalismus manchmal schwer raus.

Gibt es den Sarrazin-Effekt?

Wobei man über den "Sarrazin-Effekt" separat reden muss. Kausalzusammenhänge werden in der Medienwirkungsforschung aus guten Gründen ungern hergestellt. Sarrazin-Präsenz in den Medien bedeutet nicht unbedingt Einstellungsänderungen beim Publikum. Dass sein 2010er Buch den Effekt gehabt hätte, "die Einstellungen der Deutschen zu Migration" zu verändern, wird bei Zeit Online von einer Soziologin denn auch bestritten: "Die Debatte hat laut unserer Ergebnisse nicht viel verändert." Zusammengefasst: "Wer ohnehin fremdenfeindliche Einstellungen hat, fühlt sich dann durch rechte Aussagen in seinen Ansichten oft bestätigt. Und wer kaum fremdenfeindliche Einstellungen vorweist, der steht nach solchen Debatten noch unverbrüchlicher zur offenen Gesellschaft."

Dass mit Sarrazin tatsächlich "Themen und Begriffe, die bislang in der äußersten Rechten zirkulierten", die ganze Gesellschaft erreicht haben, wie Volker Weiß in seinem Buch "Die autoritäre Revolte" schreibt, ist durch die bei Zeit Online zitierten Studien allerdings nicht widerlegt. Und Hinweise darauf, "dass der Sarrazin-Effekt zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen hat", gebe es sehr wohl.

"In die Arena steigen"…

Und da sind wir nun, acht Jahre später: "Wir leben in einer Republik, in der die Polarisierung viel stärker geworden ist", sagt Patrick Bahners im bereits zitierten Übermedien-Interview mit Stefan Niggemeier, das um die Twitternutzung kreist. Und was tun wir? Bahners:

"Ich wünsche mir nicht, dass das ewig so weitergeht, aber man muss es erst einmal hinnehmen. Denn ich glaube, dass die Demokratie Konflikte nur durch Streit regulieren kann. Der Bundespräsident soll ruhig mahnen, aber er ist eben auch der Bundespräsident. Wir anderen sollten eher in die Arena steigen."

… aber Helm aufsetzen

Nun ist die Arena aber nicht nur Twitter, sondern sie steht auch in Chemnitz. Und da wird nicht mehr nur gestritten, da brauchen Journalistinnen und Journalisten mittlerweile Helme. Die freie ZDF-Mitarbeiterin Dunya Hayali hat sich am Wochenende nach – nennen wir es – Begegnungen desillusioniert zu Wort gemeldet:

"bin aber auch etwas angefaßt, nach all dem hass, der wut, den beschimpfungen, unterstellungen, der häme u einiges mehr. verbale prügel sind nicht ohne. traurig alles #chemnitz"

Sie war aber nur eine von mehreren Journalistinnen und Journalisten, die in Chemnitz eine Verhärtung der Lage, eine besonders medienfeindliche Stimmung beobachtet haben. Eine Zusammenfassung gibt es bei spiegel.de. Bei welt.de geht es um einen körperlichen Angriff auf ein MDR-Team. (Wobei es dazu hier in den Drunter-Tweets einige Fragezeichen gibt, wie die Situation zu bewerten ist.)

"Die Stunden, in denen sich mehrere Hundert Neonazis durch die Straßen der Stadt wälzten, gehören zu dem Bedrohlichsten, was ich in meiner Zeit als Reporter erlebt habe", kommentiert Raphael Thelen in einem weiteren Text bei Spiegel Online (und verwahrt sich gegen den Zimperlichkeitsvorwurf, den kürzlich Jan Fleischhauer erhoben hat).

Und eine Frage, die angesichts der Aufladung natürlich auch diskutiert wird, ist: Wird, was in Chemnitz geschehen ist, korrekt dargestellt? Das wird am Beispiel des Begriffs "Hetzjagd" diskutiert. Seine vermeintlich unangemessene Verwendung genügt denen, die es darauf anlegen, die gesamte Berichterstattung infrage zu stellen.

"Hetzjagd" oder "Jagdszenen"?

"Es gab aus der Demonstration heraus Angriffe auf Migranten, Linke und Polizisten. So wurde Menschen über kurze Distanz nachgestellt. Insofern wäre der Begriff 'Jagdszene' noch gerechtfertigt. Eine 'Hetzjagd', in dem Sinne, dass Menschen andere Menschen über längere Zeit und Distanz vor sich hertreiben, haben wir aber nicht beobachtet. Wir kennen auch kein Video, das solch eine Szene dokumentiert."

Deshalb verwende seine Zeitung den Begriff, anders als andere Medien und etwa der Regierungssprecher, nicht. Schrieb der Chefredakteur der "Freien Presse" in Chemnitz, Torsten Kleditzsch.

Michael Hanfeld heißt das in der FAZ gut, und Kleditzsch' Wunsch nach Präzision ist völlig nachvollziehbar: "Der offen zu Tage getretene Hass, der die Proteste auf den Straßen in Chemnitz am Sonntag begleitet hat, war schrecklich genug. Er bedarf keiner Dramatisierung."

Boris Rosenkranz fragt bei Übermedien allerdings, ob es sich wirklich um eine Dramatisierung handle: "Wie viele Minuten und Meter ein Mensch mindestens gejagt werden muss, damit man von einer 'Hetzjagd' sprechen kann", stehe nicht im Duden.

Wobei: "Es spricht momentan wenig dafür, das es in Chemnitz 'Hetzjagden' im Sinne einer längeren Verfolgung gegeben hat" – das war Kleditzsch' Definition. "Dass Politiker und Medien trotzdem vorschnell davon sprachen, kann man also durchaus kritisieren. Doch bei aller sprachlichen Präzision, die Medien und Politiker an den Tag legen sollten: Was ist das für eine Diskussion, bei der es darum geht, ob Menschen eher viel oder eher wenig Zeit brauchen, ihren Angreifern zu entkommen? Ob sie lange um ihre körperliche Unversehrtheit laufen oder nur kurz?"

Aber Kleditzsch' "leise Medienkritik" (Rosenkranz) wurde umgehend instrumentalisiert: "Größter Medienskandal seit Jahrzehnten?", postete die AfD. Noch größer als der von 2007, der im Spiegel (S. 17) Erwähnung findet? Das muss wohl fürs Erste als ungeklärt gelten:

"2007 griff im sächsischen Mügeln ein rechtsextremer Mob eine Gruppe Inder an. Die Behörden mochten keinen rechtsextremistischen Hintergrund erkennen, (Sachsens damaliger Ministerpräsident Georg; d.Red.) Milbradt sorgte sich um das Image. Es habe keine Hetzjagd in Mügeln, sondern 'eine Hetzjagd auf Mügeln' gegeben."

Altpapierkorb (Frauen in Chefredaktionen, Village Voice, neue ARD-Mediathek, "Arthurs Gesetz")

+++ Die taz hat die Meldungen über Chefredaktionsneubesetzungen verfolgt. Und stellt fest: "Zwar tragen viele Medienhäuser die Schlagworte Frauenförderung und Diversity vor sich her, verfolgt man aber, wer wo Chef ist und wird, so sind das immer noch vor allem Männer."

+++ "Qualität, Auffindbarkeit und Wirtschaftlichkeit", fordert Heike Raab, Koordinatorin der Rundfunkkommission der Länder, im Tagesspiegel von den Öffentlich-Rechtlichen.

+++ Einen brauchbaren Vorschlag zur Lösung des ewigen "Brennpunkt"-/Kein-"Brennpunkt"-Problems hat am Freitag an dieser Stelle Juliane Wiedemeier gemacht: "Wenn die Anberaumung eines 'Brennpunkts' so eine riesige Sache ist: Warum lässt die ARD es nicht einfach sein und verlängert alternativ je nach Bedarf die 'Tagesschau', die die Ressourcen und fähiges Personal für die (…) erforderliche Spontanität hat und mit deren Inhalten sich die ollen 'Brennpunkte' eh immer doppeln?" Joachim Huber hat im Tagesspiegel einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet: "Ist es undenkbar, dass die 'Tagesschau' um 20 Uhr zu einem Nachrichtenmagazin von einer halben Stunde, wenn nicht 45 Minuten mutiert?"

+++ Ebenfalls im Tagesspiegel: ein erster Test der neuen ARD-Mediathek.

+++ Village Voice gibt endgültig auf. Die SZ hält fest: "Am vorigen Freitag kündigte der Eigentümer Peter Barbey die von vielen Mitarbeitern schon lange befürchtete Entscheidung an, mit Euphemismen, die es verdienen, festgehalten zu werden: 'Wie viele im Verlagsgeschäft waren wir optimistisch, dass hinter der nächsten Ecke Rettung naht. Wir wissen noch nicht, wo es Stabilität für unser Geschäft geben wird. Klar ist jetzt nur, dass wir den Punkt noch nicht erreicht haben.'"

+++ "Zeitungs- und Zeitschriftenverlage sind keine Selbstbedienungsläden!", steht oben auf einer ganzseitigen Anzeige von BDZV und VDZ, die in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist. Unten steht: "Wir appellieren gemeinsam an die Mitglieder des Europäischen Parlaments: Geben Sie dem Qualitätsjournalismus im Internet eine Chance! Sagen sie Ja zum europäischen Verlegerrecht!" Da die Anzeige über Google leider nicht zu finden ist, helfen wir mit der Seitenzahl: 28.

+++ Die TNT-Serie "Arthurs Gesetz" bespricht die taz, und Zeit Online interviewt Martina Gedeck: "Wenn man das normale Fernsehprogramm ansieht, wird einem schlecht. Es fehlt an Lebensnähe und auch an Fantasie. Es ist kaum auszuhalten, wie eindimensional Frauen – und übrigens auch Männer! – oft dargestellt werden."

Frisches Altpapier gibt es am Dienstag.