Das Altpapier am 4. September 2018 Wer zweifellos ein Arschloch ist

#Wirsindmehr hat funktioniert und mindestens ausgeglichen im Kampf der Bilder. Feine Sahne Fischfilet haben die Aufmerksamkeit, die sie bekommen haben, auch verdient. Haben Fische das Wasser erfunden? Jedenfalls hat Jay Rosen, bevor er heimflog, noch einen Brief an die deutschen Journalisten geschrieben. Und Mesale Tolu hat trotz allem Lust, wieder weiter als solche zu arbeiten. Außerdem: Supernova-"Leftstyle"; Neues über Newsletter. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Vermutlich suchen zurzeit nicht Dutzende Redaktionen händeringend nach Journalisten. Gerade Auslandsberichterstatter dürften zurzeit sogar viele auf dem Markt sein, nachdem die ehemals renommierte Mediengruppe Dumont ihr Korrespondenten-Netzwerk diesem auf die längst gewohnt schnöde Weise (vgl. Ulrike Simons am Freitag hier schon verlinkte Spiegel-Daily-Kolumne "Die Welt ist mehr als Washington") weitgehend zur Verfügung stellte. Dieses Stellengesuch verdient dennoch Erwähnung: Mesale Tolu ist "auf Jobsuche"

Gestern gastierte die durch "mehr als sieben Monate in Untersuchungshaft" bekannt gewordene Journalistin im Berliner Reporter ohne Grenzen-Sitz.

"Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit ihrer Rückkehr nach Deutschland vor mehr als einer Woche betonte Tolu, dass sie nun auf Jobsuche sei. Gerne wolle sie weiter als Journalistin oder Übersetzerin arbeiten. Vor allem wolle sie sich aber für die Pressefreiheit in der Türkei einsetzen. Zugleich bekräftigte Tolu, zu ihrem Prozess im Oktober in die Türkei zurückreisen zu wollen. ... Sie wolle ihre Unschuld beweisen. Zugleich räumte sie ein, dass ihr als Urteil eine Haftstrafe in der Türkei drohen könnte",

berichtet der epd. Da dieser Prozess aber, wie all die vielen türkischen Prozesse gegen Journalisten, noch lange dauern werde, rechnet Tolu ebenfalls damit, nach dem nächsten Prozesstag problemlos zurückreisen zu können. Bislang habe sie nur Angebote bekommen, Bücher zu schreiben. Sie hätte nach ihrer Zeit im Gefängnis aber gerne die Routine einer Redaktion, sagte sie. (Und äußerte auch auf Nachfrage kein schlechtes Wort über die bisherige deutsche Berichterstattung über die Türkei; wichtig sei bloß, dass sie "beständig" bleibe). Einen weiteren Bericht bietet der Standard.

Was Journalisten nicht sollten (Leuten sagen, was sie denken sollen)

Die USA sind der deutschen Entwicklung in vielem voraus und bieten schöne Chancen, ihr am besten nicht in jeder Hinsicht zu folgen. Journalismusforscher Jay Rosen aus New York und seine Ratschläge wurden an dieser Stelle schon häufig erwähnt, außer im Altpapier "Rosens Räuberleiter" etwa auch hier und hier. Da darf natürlich sein "Brief an die deutschen Journalisten", den er zum Abschluss seines Deutschland-Aufenthalts noch schrieb, nicht fehlen. Er erschien am Samstag in der FAZ.

"Auf Einladung der Robert Bosch Stiftung habe ich mich drei Monate in Deutschland aufgehalten" geht es los (und diese Bosch-Stiftung wird sich seehr gefreut haben, wie oft ihr Name im Rosen-Kontext genannt wurde; das dürfte der Maßstab sein, an dem künftige Journalismusprofessor-Sponsoren ihr Engagement messen werden). Zunächst mag der Text ein bisschen redundant und kryptisch ("Wir wissen nicht, wer das Wasser erfunden hat, ein Fisch war es jedenfalls nicht") erscheinen. "Mit Blick auf die wachsende Kluft zwischen Journalisten und Öffentlichkeit ..., die weit über die Anhänger von AfD und Pegida hinausgeht", gewinnt er dann an Wucht. Rosens wichtigster Ratschlag an die deutschen Journalisten:

"Als Journalisten haben Sie nicht die Aufgabe, den Leuten zu sagen, was sie denken sollen. Ihre Aufgabe ist es, sie auf Dinge aufmerksam zu machen, über die sie nachdenken sollten. In der Sozialwissenschaft wird das als 'Agenda-Setting' bezeichnet. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben von Journalisten. Es reicht aber nicht, wenn die Themen von der jeweiligen Redaktion bestimmt werden. Es reicht auch nicht, die Agenda von den Regierenden zu übernehmen. Was, wenn die nicht zuhören? Ihre Agenda darf sich auch nicht nach dem Unterhaltungswert richten oder sich von Sensationen und Tabubrüchen bestimmen lassen. Auch in diesem Bereich braucht es neue Wege – und Transparenz. Ich werde derjenigen deutschen Redaktion eine Goldmedaille verleihen, die als erste ihre Schwerpunkte in der Berichterstattung öffentlich macht."

Trifft so was zum Beispiel Reporter, die jeder Chemnitzerin, die nach tagelanger Berichterstattung immer noch in eine Fernsehkamera zu sagen wagt, sie wolle "keine Angst haben" müssen, "wenn man vom Spätdienst kommt", erstens mit Statistiken kontert, dass die Kriminalität doch zurückgegangen sei, und zweitens mit Experten aus der Wissenschaft, die ihr noch sonst was für "Zukunftängste" bescheinigen, den Rest gibt? (Stammt aus den ARD-"Tagesthemen" gestern, gleich vom Anfang ...)

Vielleicht auch nicht. Jedenfalls haben auf meedia.de-Umfrage viele Redaktionsleitungen Rosen freundlich für die in der Theorie ungemein wertvollen Ratschläge gedankt, die sie in der Praxis schon läängst umgesetzt hätten.

Und inzwischen sind auch völlig andere Chemnitz-Bilder in der Welt – und werden es bleiben.

#Wirsindmehr (und wer ohne jeden Zweifel ein Arschloch ist)

Rasch zum Spielstand gestern am frühen Nachmittag. Da sah es, der Reporter ohne Grenzen Österreich-Präsidentin zufolge, klar "1:0 für den Nachahmungseffekt der Fake-News-Strategie". Im Zusammenhang schrieb Rubina Möhring im Standard:

"Niemand kann auch Folgen und Nachspiele erahnen. Eines steht jedenfalls fest: Derzeit ist Chemnitz weltweit Deutschlands Symbolstadt rechtsradikaler Mobs, rechtsradikaler politischer Bewegungen. Schuld sind, so heißt es, die Medien, wie auch immer in Chemnitz das Match zwischen ultrarechtsnationalen 'Heimat'-Kämpfern und überzeugten Demokratieverteidigern ausgehen wird. Das ist ein klares 1:0 für den Nachahmungseffekt der Fake-News-Strategie des US-Präsidenten Donald Trump."

Nun, inzwischen steht es 1:1, mindestens. #Wirsindmehr hat funktioniert. Die Bilder sind in der Welt und werden bleiben. Das viereinhalbstündige Konzert, das kaum ein deutsches Nachrichtenportal gestern nicht gestreamt hat, steht auf Youtube und geht auf die erste Million Abrufe zu.

Falls sie das Konzert lieber nachlesen wollen: die lokale Freie Presse hatte wieder einen Liveticker/-Blog aufgesetzt ("21.05 Uhr: 'You‘ll never walk alone' - Gänsehaut!!" – 21.07 Uhr: Das Konzert ist vorbei. 'Wir sind mehr!'-Rufe."). Wobei bis 23.40 Uhr gebloggt wurde. Im Umfeld der Veranstaltung war es mindestens so spannend.

Beim inhaltlich Beurteilen herrschte schönste Meinungsvielfalt, nicht nur, weil nicht mal die Erfolgs-Rockpopper Tote Hosen ganz jedermanns Geschmack treffen, sondern zum Beispiel auch wegen "fehlender weiblicher Repräsentation", wie am ausführlichsten das Neue Deutschland monierte (bei dem ja "die ABOkalypse!" droht; auf "Jetzt nicht, ich will weiterlesen*/ *Ich bezahle später, versprochen. Doch! Ehrlich!" zu klicken, hilft ...).

Besondere Aufmerksamkeit erhielt durch bundespräsidentielle Empfehlung, Verfassungsschutz-Beobachtung sowie tagespolitische Kombination beider Umstände die Band Feine Sahne Fischfilet (siehe zuletzt dieses Altpapier), und verdiente sie auch. So machte Sänger Monchi eine Aussage, die, wäre sie früher und öfter mal gefallen, allerhand gesellschaftliche Spaltung hätte verhindern können (auch, weil sie außer die Täter der, äh... Tötung von Chemnitz, im Prinzip auch den ganz vielleicht zum Tatzeitpunkt minderjährig gewesenen Mörder trifft, der – was immer man sonst vom Landauer Urteil hält – jetzt auch so genannt werden darf ...). Was Monchi sagte, im Viereinhalb-Stunden-Video bei 1:08:18, schriftlich via Twitter:

"Um eins klarzustellen: Jeder, der glaubt, ein Messer zücken zu müssen, ist ein verficktes Arschloch."

Solche Einschätzungen könnten, womöglich in gewählteren Worten, durchaus Journalisten öfter äußern, ohne dafür sehr lange der mangelnden Trennung zwischen Berichten und Meinung kritisiert zu werden. Vielleicht ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie das so empfinden, unter Berichterstattungsroutinen verschwunden. Vielleicht könnte das dazu beitragen, die "wachsende Kluft" (Jay Rosen) zwischen ihnen und wachsenden Teilen der Öffentlichkeit, wieder ein bisschen zu schließen.

Altpapierkorb (Polizeischutz für Journalisten? Helmut Merker. Supernova-"Leftstyle". Netzpolitik.org stockt auf. Neues vom "Checkpoint")

+++ Müssen Journalisten, die von Demonstrationen berichten, besser als bisher geschützt werden? Das fordern Journalistengewerkschaften nach Ereignissen in Chemnitz (Tagesspiegel, Verdi/ dju). Ja, "die Sicherheitskräfte" müssen "entsprechend aufgestockt und ausgebildet werden", und bezahlt werden könnte das aus dem "historischen Haushaltsüberschuss" der Bundesländer, meint Hans-Peter Siebenhaar vom Handelsblatt im meedia.de-Gastbeitrag. +++ Indes hat Stefan Fries für Deutschlandfunks "@mediasres" mit "bedrohten Journalisten" zwischen Richard Gutjahr und Patrick Gensing vom "Faktenfinder" gesprochen, die zumindest zum Teil "Solidarität" ihrer Redaktionen vermissen.

+++ "Helmut Merker, Mitarbeiter und lange Kopf der legendären Filmredaktion des Westdeutschen Rundfunks, hat bis zu Beginn seines Ruhestands im Jahr 2007 dem Film im Fernsehen von jenseits des Mainstreams einen großen Bahnhof bereitet und den Fernsehzuschauern Lust gemacht, vom Sofa aufzustehen und ins Kino zu laufen". Nun ist er gestorben. Die FAZ-Medienseite bringt einen Nachruf auf den "Kritikers und Kurator", dessen letzter Text vor kurzem erst im Tagesspiegel erschien.

+++ Was Deutschlands Chefredaktionen gerade in den vergangenen Wochen mit #Wirsindmehr gemeinsam haben? Mehr Publikum eher nicht, aber laute "mittelalte, weiße Männer", an die fast alle frei werdenden (und neuen) Posten vergeben werden. Das beklagt Anne Fromm in der taz.

+++ Wo es außerdem ums schon erwähnte Neue Deutschland geht: Das will mit einem seit zwei Jahren erarbeiteten "Online-Lifestyle-Magazin" junge Leser erreichen bzw. für "Leftstyle" begeistern. Supernova bzw. supernovamag.de soll es heißen.

+++ Wer aufstockt: netzpolitik.org mit Alexander Fanta als zumindest vorübergehendem Korrespondenten in Brüssel, wo ja immer mehr Netzpolitik gemacht wird. Doch: "Wir finanzieren uns fast vollständig aus Spenden, in letzter Zeit haben wir allerdings ein Minus gemacht. Ob wir nur für kurze Zeit oder etwas dauerhafter aus Brüssel berichten können, hängt von unseren Leserinnen und Lesern ab. Jede Spende hilft uns, unsere Arbeit fortzusetzen".

+++ Die schon erwähnten Reporter ohne Grenzen müssen weitere, ähnlich willkürliche wie langjährige Gerichtsurteile gegen Journalisten vermelden – nun aus Myanmar.

+++ Wohl jedes Medienressort beschrieb schon mal, wie und vor allem wann Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt seinen "Checkpoint" zu schreiben pflegt. Schließlich war der tägliche Frühmorgen-Newsletter eine echte Erfolgsgeschichte – und ist es immer noch. Daher beschreibt die SZ-Medienseite es heute mal wieder. Demnächst soll der ganze lange "Checkpoint" bald hinter eine Bezahlschranke und nur als "Kurzversion" kostenlos bleiben.

+++ Letzten Mittwoch ging es hier um den ARD-Mittwochstermin des Fernsehfilms, "weil praktisch nur noch er genre-offen ist". Heute lobt die SZ schon mal den morgigen Film "Alles Isy", der "von einer Vergewaltigung unter Teenagern" erzählt.

+++ "Vor 20 Jahren revolutionierte Google mit seinen Suchalgorithmen das Internet und verwandelte die globale Shopping Mall des World Wide Web in ein ernst zu nehmendes Medium mit kultureller Langzeitwirkung", heißt es heute von Bernd Graff im SZ-Feuilleton. Verhält es sich nicht mindestens ebenso genau umgekehrt?

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.