Das Altpapier am 7. September 2018 Runter vom Hochsitz!

Erziehen Journalisten ihr Publikum? Und was hat Jay Rosen gemeint, als er schrieb, sie hätten den Leuten nicht zu sagen, was sie denken sollten? Schluss mit den aufgeheizten Diskussionen, fordert Cordt Schnibben. Was den Hochsitz vom Elfenbeinturm unterscheidet. Dunja Hayali redet in Chemnitz mit Leuten und jongliert im Studio mit Einspielfilmen. Und: warum Moral die sog. Normalität ersetzt. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Immer daran denken: "Nicht gleich an die Headline denken und den Drehschluss für das Skript, das schon vor Reiseantritt fertig war!"

Sie dürfen raten, wer so schreibt… Genau, Thomas Fischer ist wieder da, er hat ja jetzt eine Kolumne beim beliebten Branchendienst Meedia. Und man kann sagen, was man will: Journalismustreibenden weh tun, das kann er, und manchmal, so selten nicht, versteckt sich hinter der Polemik ein Punkt.

Im konkreten Fall, also der vorliegenden etwas erratisch geratenen Kolumne, die man lesen sollte wie Texte von Wolf Wondratschek – nicht immer nur nach dem Inhalt suchen, auch einfach mal Sätze auf sich wirken lassen –, gibt er unsereinem den oben genannten kleinen Rat, den wir wie folgt deuten: Wenn Rechercheergebnisse nur so ausfallen können, wie sie ausfallen sollen, weil alles andere von vornherein nicht vorstellbar ist, dann ist das eher suboptimal.

Sind Journalisten erzieherisch tätig?

Damit sind wir schon wieder mittendrin in der Debatte, die seit #Chemnitz– differenzierungshalber nicht zu verwechseln mit Chemnitz ohne Hashtag – kein Ende nimmt und die natürlich auch mit #Chemnitz gar nicht anfing, sondern nur nach oben ausschlug: Sagen Journalistinnen und Journalisten ihrem Publikum, was sie denken sollen, und vernachlässigen "die Wirklichkeit"? Sind sie erzieherisch tätig?

Das behaupten ja viele; man braucht nur in beliebige Kommentarspalten zu gucken, wenn man Beispiele sucht. Oder man kann in die Gespräche reinschauen, die die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali in Chemnitz geführt hat: "Ich mach’ die Nachrichten an, ob ‚heute‘, ob 'Tagesschau', egal was, nach 20.15 Uhr, 'Tatort', Sie werden vollbombardiert, das ist betreutes Denken." (Minute 36:00) Wer’s dringend braucht, kann sich auch bei Tichys Einblick das Brain washen lassen.

Oder man kann Jay Rosen nochmal nachlesen, der so etwas in einem "Brief an die deutschen Journalisten" in der FAZ kürzlich ebenfalls, sagen wir, angedeutet hat (Altpapier vom Dienstag):

"Als Journalisten haben Sie nicht die Aufgabe, den Leuten zu sagen, was sie denken sollen. Ihre Aufgabe ist es, sie auf Dinge aufmerksam zu machen, über die sie nachdenken sollten."

Allein, der deutsche Journalismus-Professor Klaus Meier ist nicht glücklich mit dieser Formulierung, wie er in einem Facebook-Posting schreibt:

"Als Journalisten haben Sie nicht die Aufgabe, den Leuten zu sagen, was sie denken sollen.‘ Das ist im Grunde schon richtig, aber (…) auch falsch: Journalismus muss immer und ohne Einschränkung für Demokratie und Menschenwürde eintreten – und hier muss Journalismus auch den Leuten sagen, dass sie Demokratie und Menschenwürde zu achten haben, dass sie das auch zu denken haben. Punkt. Das darf man nicht relativieren. (…) Ich glaube, dass Jay Rosen, das auch so meint. Aber insgesamt hätte er das unmissverständlicher herausarbeiten müssen."

Meier weist in seinem Posting auch auf ein vor Kurzem erschienenes Interview mit Rosen hin, in dem der zum erweiterten Thema tatsächlich anders klingt:

"Es gibt im Selbstverständnis deutscher Journalisten ein Element, das vielleicht ein wenig eingeschlafen ist, das in Zukunft aber sehr wichtig werden wird: die Selbstverpflichtung, Deutschland vor einem Rückfall in den Extremismus zu bewahren. Davon sprechen viele deutsche Journalisten, die ich getroffen habe. Diese Tradition haben wir in den Vereinigten Staaten nicht."

So. Und die Frage wäre nun natürlich, was wir jetzt machen mit diesen beiden Statements. Im Zweifel pickt sich jeder wohl am besten die Rosen-Aussage heraus, die der Findung der je eigenen Wahrheit am ehesten dient, und hält denen, die anders picken, ihre ideologische Verblendetheit vor. Das wäre zumindest der übliche Weg in diesen Tagen, da selbst Leuten, die sich bei Twitter gar nicht mehr auszuloggen scheinen, auffällt, dass der – auch medienbrancheninterne – Grundton bei Twitter einer der aggressiveren Sorte ist.

Wobei, wait – vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit. *Trommelwirbel*.

Der Unterschied zwischen Hochsitz und Elfenbeinturm

Cordt Schnibben:

"Einige Artikel, viele Wortmeldungen auf Facebook und Twitter in der Woche nach Chemnitz" – womit zweifellos #Chemnitz gemeint ist – "müssen all die alarmieren, die an einer rationalen, humanistischen, auf Verständigung zielenden Auseinandersetzung interessiert sind." Schreibt er bei Spiegel Online. "Wir, darunter viele Journalisten, sollten innehalten und darüber nachdenken, welches Schauspiel wir allen Leuten bieten, die an einer aufgehetzten, auf die Zerstörung der demokratischen Öffentlichkeit zielenden Entwicklung interessiert sind."

Bei Bernd Ulrich in der Zeit klingt die Bestandsaufnahme wie folgt:

"Mit gewaltigen moralischen Ansprüchen und gegenseitigen Vorwürfen werden öffentliche Debatten bestritten."

Aber zu Ulrich gleich. Zunächst noch Schnibben. Er schlägt im Folgenden vor, dass *wir* – und gewiss sind auch Journalistinnen und Journalisten gemeint, womit wir inhaltlich fast wieder beim Ausgangszitat von Thomas Fischer wären – unsere Prämissen checken.

"Wir blicken von drei verschiedenen Hochsitzen auf das Geschehen:

  • Die einen sehen sich nach jedem Verbrechen aufgefordert, es als singuläres Ereignis einzuordnen, das auch ohne neue Mitbürger aus anderen Kulturen und Ländern immer wieder passiert: Auch Deutsche vergewaltigen, töten, stehlen.
  • Die anderen fühlen sich bestätigt in ihren Warnungen und machen den unehrlichen Blick der anderen verantwortlich dafür, dass Deutsche – unverstanden, wütend – zu Protestbürgern werden.
  • Wieder andere glauben, durch die explizite Übernahme von AfD-Forderungen könne man solche Leute wieder ins demokratische Lager herüberziehen.

Wir müssen runter von diesen Hochsitzen."

Randbemerkung: Diese Hochsitze sind mit dem ulfposchardtschen Elfenbeinturm insofern nicht identisch, als dessen Bewohner vor allem "die anderen" sind, während auf den Hochsitzen auch jene sitzen, die Schnibben als "wir" bezeichnet: Den Hochsitz sieht man auch im Spiegel, den Elfenbeinturm nur mit dem Fernglas. Randbemerkung Ende.

Moral ist, "was früher Normalität war"

Nun ist Abrüstung das eine, die Beschäftigung mit der Debattenkultur wäre aber damit nicht beendet. Bernd Ulrichs schon erwähnter Text in der Zeit hat einen anderen Zungenschlag. Ihm geht es um die Ursachen des – so auch seine Diagnose – Moralüberschusses, der üblicherweise eher von Leuten "geistig rechts von Angela Merkel" beklagt werde.

"Kommunikativ war die Öffentlichkeit noch nie so egalitär wie heute. Allein damit ist schon mal mehr Moral im öffentlichen Raum." Der größte Effekt liege nun "darin, dass die herrschenden Verhältnisse ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Viel fliegen, männliche und weiße Privilegien, Millionen Tiere täglich töten und essen, aber auch linkes Tabu-Management – das brauchte alles jahrzehntelang kaum begründet zu werden, es war eingehüllt in Selbstverständlichkeit, die moralischen Urteile mussten als solche gar nicht hervortreten. Normalität ersetzte weithin Normativität." Nun aber werde, "was Normalität war, (…) plötzlich Moral".

Anders gesagt: Die Moral war schon immer da, sie tat aber so, als sei sie nicht verhandelbare Faktenlage.

Und wie war "Dunja Hayali"?

Kommen wir damit zurück nach Chemnitz bzw. #Chemnitz und zu Dunja Hayalis Vor-Ort-Gesprächen. Dass eine empfundene Normalität mit Neutralität verwechselt wird und ihre normative Aufladung gar nicht als solche bemerkt wird, kann man darin an einigen Beispielen studieren. "Ich würde mir erstens mal eine neutrale Presse wünschen" und "Ich wünschte mir, dass Sie klarer Partei nehmen für das Volk" sind zwei der Forderungen, die Hayali entgegengebracht wurden. Das zweitere ist allerdings ja nun eine Aufforderung, die zugleich gewünschte Neutralität zu verletzen und die Bedürfnisse jener Gruppe, die sich "das Volk" nennt, aber nur ein übersichtlicher Teil der Bevölkerung ist, über die anderer zu stellen.

Dennoch sind diese Gespräche für meine Begriffe aufschlussreicher als etwa das am Mittwoch in "Dunja Hayali" im ZDF gezeigte Streitgespräch zwischen Katrin Göring-Eckardt von den Grünen und Jörg Meuthen von der AfD. "Die beiden schenkten sich nichts. Sie bemühten sich vor allem darum, ihrer jeweiligen Anhängerschaft mitzuteilen, wo der politische Feind zu finden ist", fand der ehemalige Altpapier-Autor Frank Lübberding bei faz.net.

Damit hat auch ein anderer Rezensent ein Problem: "Die beiden Politiker bedienten ihre Lager", schreibt Joachim Huber im Tagesspiegel. Tatsächlich ist eine solche Konstellation wohl von vornherein so gut wie zum Scheitern verurteilt, und das könnte man nach vielen Talkshowjahren eigentlich auf dem Schirm haben. Es ist ein Wrestling-Setting, und ebenso gut könnte man zwei Felsen aufeinander hauen, um herauszufinden, ob sie sich darüber verflüssigen.

Der ehemalige Altpapier-Autor Matthias Dell geht bei Zeit Online allerdings am schärfsten mit der Sendung ins Gericht, aus anderen Gründen:

"Dunja Hayali ist durchformatiert bis zur Besinnungslosigkeit: die pseudodynamischen Gänge durchs Studio, die wechselnden Gesprächssituationen, die dramatisch-souverän angekündigten Einspielfilme", schreibt er. Im Grunde fließe "mehr Energie und Originalität in die Frage (…), wie man in Einspielfilmen Namen von Protagonisten geil einblenden kann (…), als in jede inhaltliche Beschäftigung mit dem Thema, um das es geht."

Vielleicht ist es in der Fernsehpraxis viel verlangt von einer solchen Gesprächssendung, dass sie gleichzeitig ein politisches Recherchemagazin sein soll, während sie doch gleichzeitig offensichtlich auch Nüsschenfernsehen sein muss. Aber weniger könnte sie natürlich schon sein: tief rein in ein Gespräch. Die Moral von der Geschichte: Vielleicht wäre das mehr.

Altpapierkorb (watson.de-Korrektur, Oliver Welke, Print- und Online-Spiegel, Putin im Staatsfernsehen)

+++ Bei watson.de ist ein Fehler passiert, der nun transparent korrigiert wurde – aber die Redaktionen betrachtet ihn selbst "als besonders schwerwiegend in einer Situation, in der große Mengen bewusster Falschmeldungen in den sozialen Medien verbreitet werden": Es geht um das Tattoo eines Chemnitzer Demonstranten: "Wir bezeichneten ein Bild als Fotomontage, auf dem ein RAF-Tattoo zu sehen ist, und zwar auf der Hand eines Mannes, der einen Hitlergruß zeigt. Wir hielten dabei das RAF-Tattoo für nicht echt. Das ist falsch." Meedia kommentiert: ein "Symptom der medialen Verunsicherung im Umgang mit Fakes und politischen Extremen".

+++ Es handelte sich wohl nicht um eine "bewusste Falschmeldung", daher nur am Rande passend dazu eine KNA-Meldung, etwa aus der FAZ: "Fast jeder dritte Deutsche (dreißig Prozent) ist der Überzeugung, häufig oder regelmäßig auf bewusste Falschmeldungen zu stoßen. (…) Zugleich sehen sich die Befragten in Deutschland (…) verhältnismäßig selten in der Lage, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden."

+++ Die FAZ interviewt Oliver Welke von der "heute show": "Ich bin dafür, dass man Sorgen aller möglichen Leute ernst nimmt. Aber wenn man feststellt, dass die Menschen ein völlig anderes Land wollen – deutlich autoritärer, Deutschland mit einem Zaun drum, ein Land, in dem Minderheiten schauen müs­sen, wo sie bleiben–, dann frage ich mich, wie viel ein Dialogangebot noch bringt."

+++"Nichts könnte dringlicher sein als die Anstrengung zur analytischen Durchdringung der Demokratiekrise. Nichts könnte dringlicher sein als die Diagnose von Ursachen und die Diskussion von Gegenstrategien." Schreibt Daniel Binswanger in der Schweizer Republik. Und sieht das Feuilleton in der Pflicht, und zwar keineswegs "das politische".

+++ Toller Kerl, der Präsident Putin: Im russischen Staatsfernsehen ist ihm eine schöne Sendung gewidmet, die die SZ gesehen hat.

+++ Die SZ berichtet zudem von zwei "auffälligen Ablösungen" in Österreichs Presse: Ihren Job los sind zwei Männer, die "immer wieder die Regierung des konservativen Kanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der radikal rechten FPÖ kritisiert" hätten.

+++ Und die taz schreibt: "Print-Mitarbeiter des 'Spiegel' waren bisher besser gestellt als Online­mitarbeiter. Nun soll sich das ändern, aber nur langsam."

Neues Altpapier: am Montag. Schönes Wochenende!