Das Altpapier am 16. November 2018 Deep News und Deep Fakes

Julian Reichelt kann Wahrheit fühlen. Horst Seehofer lässt sich zum Rücktritt bewegen (mit entsprechender Technik). Facebook setzt falsche Nachrichten in die Welt, löscht aber auch welche. Die lächerlichen Honorare freier Journalisten sind gar nicht lustig. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.

Für die Schülerzeitung namens Go des Gymnasiums Othmarschen war gestern ein großer Tag. Aber darauf war die Redaktion vorbereitet. Nur für einen Artikel hatte die auf Print (Junge Menschen! Gedrucktes! Stoppt selbige Pressen!) spezialisierte Publikation extra eine Website aufgesetzt und Chefredakteur Johann Aschenbrenner seinen im Juni eröffneten Twitter-Account aktiviert (Junger Journalist ohne Twitter! Diese Jugend wird ja immer obskurer!), was sich bei späterem Praktikumsbedarf angesichts der neuen Follower mit einer trauten Einigkeit aus Paul Ronzheimer, Bildblog und diversen Spiegel-Leute gelohnt haben dürfte. Und dann trat ein, worauf die Hamburger Schüler spekuliert hatten:

"Schülerzeitung entlockt Julian Reichelt 'tiefe innere Wahrheit'" (Bildblog)

"'Nehmt euch ein Bier, spielt Playstation' – eine Schülerzeitung bringt das beste Interview mit Bild-Chef Julian Reichelt seit langem" (Meedia)

"Brillantes Schülerinterview mit Bild-Chef Reichelt" (W&V)

Tatsächlich ist das ganze Interview mit dem einstigen Mitschüler (oder heißt es Vorschüler, wenn selbiger die Schule längst verlassen hat?) sehr lesenswert und ticket alle Boxen, die man in einem Gespräch mit diesem Bild-Chefredakteur getickt haben möchte ("Wir sind da, wo die 'Post' (The Washington Post, Anm. d. Red.) oder die 'New York Times' sind, oder umgekehrt: Die sind da, wo wir sind." / "Wer in einem freien Land Gewalt ausübt und dabei fotografiert wird, muss damit rechnen, dass das Foto dann auch in der Zeitung erscheint." / "Ich glaube nicht, dass eine Schlagzeile an sich Stimmung macht, nur weil sie jemandem nicht gefällt. (…) Aber, ich glaube, alle diese Schlagzeilen haben eine tiefe innere Wahrheit und Berechtigung."). Lesen Sie es daher ruhig in seiner Gänze.

Neben dem Selbstbewusstsein, das die drei Interviewer Johann Aschenbrenner, Arvid Bachmann und Emma Brakel beim Besuch im Springer-Hochhaus durch Ansprechen aller heiklen Punkte an den Tag legen, finde ich den Einblick in Julian Reichelts Weltbild bemerkenswert. Alles, was er sagt, widerstrebt mir persönlich, ist aber in sich konsistent - und das finde ich das Verstörendste: Man gewinnt den Eindruck, als sei er wirklich überzeugt davon.

Falls Sie das Konzept von "Deutschland spricht" interessant finden und eher das Gegenteil der Bild-Zeitung bevorzugen, empfiehlt sich die Lektüre also auch.

Journalisten und Endverbraucher müssen die Demokratie retten

Auf ein Reichelt-Zitat lohnt es sich an dieser Stelle noch einmal genauer einzugehen - und sei es nur, weil gelungene Übergänge uns in dieser Kolumne sehr wichtig sind. Es ist das mit der tiefen, inneren Wahrheit, die er den Schlagzeilen seiner Zeitung bescheinigt, was auch die einschließt, die es mit der Faktenlage nicht so genau nehmen.

Im Kommentar zum Interview schreibt Go-Chefredakteur Aschenbrenner:

"Wenn eine Schlagzeile eine 'tiefe innere Wahrheit' hat (vielleicht könnte man auch sagen: eine gefühlte?), dann genügt das, dann ist die tatsächliche Wahrheit, die vielleicht nicht mit der 'inneren' Wahrheit übereinstimmt, nicht mehr vonnöten. Denn die 'tiefe innere Wahrheit' ist in diesem Fall schlichtweg nicht wahr, das zeigt sich zum Beispiel, wenn man dem angeblichen 'Islam-Rabatt' auf den Grund geht".

(Was er dann tut, falls Sie im Original weiterlesen mögen.)

Facebook allein ist also nicht schuld, wenn sich Wahrnehmungen verschieben und von der Faktenlage entkoppeln. Wenn Zeitungen da mitmischen, ist das aus zwei Gründen besonders problematisch.

Zum einen gibt es bereits so ausreichend aus welchen Gründen auch immer motivierte Faktenmanipulateure, die mit technischer Hilfe die unglaublichsten Dinge zu vollbringen vermögen. Nachlesen lässt sich das aktuell beim Nieman Lab, wo Francesco Marconi and Till Daldrup vom Wall Street Journal über den Umgang ihrer Zeitung mit sogenannten Deepfakes, also manipulierten Bildern und Videos berichten.

Für ziemliche Aufregung sorgte in der vergangenen Woche schon das Video, in dem mit leichter Veränderung der Laufgeschwindigkeit der Eindruck erweckt wurde, der mittlerweile weltbekannte CNN-Reporter Jim Acosta habe einer Praktikantin des Weißen Hauses auf den Arm geschlagen, als diese versuchte, ihm das Mikrofon zu entziehen (Altpapier). Das ist aber gar nichts gegen die Möglichkeiten, mit Hilfe künstlicher Intelligenz Personen eine neue Mimik und Gestik zu verpassen und so etwa Horst Seehofer im Bewegtbild seinen Rücktritt als Innenminister verkünden zu lassen, auch wenn er selbst diesen nicht mal in Erwägung zieht.

"Despite the current uncertainty, newsrooms can and should follow the evolution of this threat by conducting research, by partnering with academic institutions, and by training their journalists how to leverage new tools",

schreiben die Autoren. In anderen Worten: Journalisten sollten genug damit zu tun haben, Falschnachrichten zu entlarven, um selbst welche in die Welt zu setzen.

Zum anderen verändern diese Verschiebungen Richtung "Ich fühle, also habe ich recht" die Gesellschaft auf allen Ebenen und damit auch für alle. Oliver Bilger erklärt das in der Stuttgarter Zeitung am Beispiel US-amerikanischer Lokalzeitungen. In Columbia im Bundesstaat Missouri hat er dafür u.a. mit Charles L. Westmoreland, Chef der Columbia Daily Tribune, gesprochen.

"Sobald jemandem nicht gefalle, was in der Zeitung steht, etwas nicht ins eigene Bild passe oder etwas einfach nicht wahr sein solle, werde der Vorwurf Fake-News geäußert, sagt er. Der Präsident ist das Vorbild, dem andere, oft republikanische Politiker, nacheifern. Es liegt der Schluss nahe, dass Trump mit seinem Auftreten andere legitimiert, sich ebenso zu verhalten. So sickert die Wortwahl Fake-News genau wie die sogenannten alternativen Fakten oder Verschwörungstheorien aus dem Weißen Haus in alle Schichten des Landes. (…)

Deshalb ist Westmoreland überzeugt: Lokalmedien werden gebraucht. Doch fürchtet der 39-Jährige, dass Fake-News zu einem gängigen Ausdruck werden. Niemand stimme allem immer zu, sagt der Chefredakteur und warnt doch: 'Wenn es keinen glaubwürdigen Journalismus mehr gibt, weil niemand mehr irgendetwas glauben möchte, dann schadet das der Demokratie.'"

Da man als Journalist ein gewisses Interesse am Erhalt selbiger haben sollte, scheint es also angemessen, nicht selbst noch zur Verbreitung gefühlter Wahrheiten / alternativer Fakten / Falschnachrichten / ach, sagen wir doch einfach: Lügen beizutragen. Und wer seinen Beruf derzeit nicht mit "Journalist" angibt, aber dennoch Demokratie-Fan ist, kann auch etwas machen, erklärt Marina Weisband in ihrer Kolumne bei "@mediasres" im Deutschlandfunk.

"Erstens muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie, wenn sie auf Facebook oder anderen Plattformen schon mal was geteilt haben, kein Endverbraucher sind. Dann sind Sie wiederum Quelle für Ihre Freunde und Leser. Und damit sind Sie auch ein kleines bisschen Journalist – auch wenn Journalismus und Publizismus nicht dasselbe sind. Sie tragen auch die Verantwortung dafür. Und umso wichtiger ist es, den Informationsgehalt eines Artikels auf seine Echtheit zu prüfen, bevor man ihn teilt."

Ein paar Tipps, wie auch Otto und Erna Endverbaucher das schaffen, hat sie natürlich auch.

Facebooks Kampf um sein Image

Noch ein Longread zum Wochenende gefällig? Dann sei hiermit, falls Sie es nicht längst gelesen haben, "Delay, Deny and Deflect: How Facebook's Leaders Fought Through Crisis" der New York Times empfohlen. Diese hat in einer umfangreichen Recherche aufgedeckt, wie Facebook mit Hilfe einer PR-Agentur namens Definers aus dem Cambridge-Analytica-Jahr das Beste zu machen versuchte (für sich und sein Image, selbstredend).

Eine deutsche Kurzfassung hat Simon Hurtz für den Wirtschaftsteil der SZ geschrieben; Facebooks "So schlimm ist es gar nicht" liegt auch schon vor. Eine andere Meinung dazu hat Michael Hanfeld auf der Medienseite der FAZ:

"Was die 'Definers' machen, nennt sich offiziell Öffentlichkeitsarbeit oder PR, dem Wesen nach, das die 'Times' beschreibt, ist es jedoch Propaganda. Man könnte auch von 'Fake News' sprechen, also dem Phänomen, dem sich Facebook nach den Worten des Gründers Mark Zuckerberg und der Geschäftsführerin Sheryl Sandberg mit aller Macht entgegenstemmen will. Die Wahrheit scheint aber zu sein, das Facebook Fake News nicht nur nicht ausfindig macht und unterbindet, sondern selbst sogar produziert."


Altpapierkorb (Facebook löscht, RBB baut, freie Journalisten darben)

+++ Um beim Thema zu bleiben: "We're not only getting better at finding bad content, we're also taking more of it down." Bescheinigt Facebook sich selbst in der Pressemitteilung zu seinem zweiten "Community Standards Enforcement Report". Zudem bzw. trotzdem hat der Laden angekündigt, ein externes Kommittee gründen zu wollen, das übernehmen soll, wenn Beschwerden gegen Löschungen eingehen, meldet Techcrunch.

+++ Im Fall des ermordeten, aber bis heute verschwundenen Journalisten Jamal Khashoggi hat die saudi-arabische Staatsanwaltschaft elf Männer angeklagt; für fünf fordert sie die Todesstrafe (Spiegel Online, Tagesschau.de).

+++ Die Fox-News-Rückendeckung für CNN und Jim Acosta (Altpapierkorb gestern) ist Christian Zaschkes Thema auf der SZ-Medienseite.

+++ "Wir arbeiten mit einer Gruppe von Medienwissenschaftlern und -praktikern daran, das Konzept eines European Public Open Spaces namens EPOS zu entwickeln, das den ganzen europäischen Reichtum audiovisueller und textbasierter Inhalte vereint. Das ist sicher Zukunftsmusik, aber an die Klänge sollten wir uns schon einmal gewöhnen." Berichtet die Bochumer Medienwissenschaftlerin Barbara Thomaß in der aktuellen Ausgabe epd medien (derzeit nicht online).

+++ Der RBB baut sich ein "Medienhaus der Zukunft", und für Spiegel+ war Ulrike Simon mit Intendantin Patricia Schlesinger auf der zukünftigen Baustelle unterwegs.

+++ Sat1 möchte statt von der Landesmedienanstalt Rheinland-Pfalz lieber von der in Hamburg/Schleswig-Holstein beaufsichtigt und lizensiert werden. In den seit Jahren laufenden Rechtsstreit kommt nun Bewegung, schreibt Volker Nünning in der Medienkorrespondenz.

+++ Auch Wissenschaftler sehen sozialmediale Empörungskurven als Problem an. Ein Patentrezept dagegen haben sie aber auch nicht, schreibt Altpapier-Kollege Christian Bartels in seiner evangelisch.de-Kolumne.

+++ Selbst Insta-Influencer müssen ihre Werbebotschaften kennzeichnen. Damit sie nicht sagen können, sie wüssten nicht, wie, haben die Landesmedienanstalten nun den dazugehörigen Leitfaden aktualisiert.

+++ Über die ridiküle Entlohnung freier Journalisten (sie nennen es Honorar) berichtete bereits am Mittwoch "Zapp".

Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!