Das Altpapier am 5. Dezember 2018 Kunst hat keine Hausmacht

Nicht wenige Journalisten wissen möglicherweise nicht, was Denunziation bedeutet. Ein Gewinner der CDU-Bundesvorsitzendenwahl könnte die Bild-Zeitung sein. Im Raum Stuttgart häckselt ein Konzern Lokalzeitungen klein. Ein Altpapier von René Martens.

Wer sich heute in Berlin in der Nähe des Bundesratsgebäudes aufhält und dort ekstatische Schreie vernimmt - dann könnten’s die Ministerpräsidenten sein, jedenfalls, falls die sich bei ihrem letzten Treffen in diesem Jahr (siehe auch Altpapier von Montag) darauf verständigt haben sollten, "ab dem Jahr 2023", wie die Medienkorrespondenz prognostiziert, den Rundfunkbeitrag nach einem Indexmodell ermitteln zu lassen.

Dass es dieses Modell auch mit sich bringt, dass die öffentlich-rechtlichen Sender flexibler darüber entscheiden können, welche Programme sie anbieten, findet nicht jeder unproblematisch.

"Wohin sich ein Sender entwickelt, läge (…) künftig entscheidend bei den Gremien. Das sind oft Politiker, Funktionäre gesellschaftlicher Gruppen, aber auch ehrenamtlich Tätige. Wären sie mit der Verantwortung überfordert?"

fragt Claudia Tieschky heute auf der SZ-Medienseite.

Lorenz Wolf, der Chef der ARD-Gremienvorsitzendenkonferenz, scheint’s so zu sehen. Tieschky schreibt:

"Der wundert sich dieser Tage. Er sagte, die Politik mache nach seiner Wahrnehmung Anstalten, den Auftrag den Gremien zuzuschieben, 'aber das ist nicht unsere Aufgabe. Die öffentlich-rechtlichen Sender seien plötzlich konfrontiert damit, 'dass wir behandelt werden wie ein Konzern'."

Hört Volker die Signale?

Volker Herres und Rainald Becker, die Führungsfiguren dieses in diesem Sinne Noch-Nicht-Konzerns ARD, werden wohl heute gebannt abwarten, was in Berlin entschieden wird. Hoffentlich bleibt ihnen da noch genügend Muße, einen Blick auf einen unter anderem an sie gerichteten und unter anderem von Blickpunkt Film verbreiteten Offenen Brief zu werfen, den die Regisseurin Annette Baumeister und die Hauptdarstellerinnen des von ihr gedrehten Doku-Dramas "Die Hälfte der Welt gehört uns" verfasst haben. Es geht um den Ausstrahlungstermin des Films, den das Erste Programm am Montag voriger Woche in einer Langfassung zeigte:

"Selten hat ein Jubiläum den Herzschlag des Landes so bestimmt wie in den letzten Wochen der 100. Jahrestag der Einführung des Frauenwahlrechts. Der Bundestag erinnerte mit einem Festakt daran. Zeitungen machten damit auf und druckten Sonderbeilagen. Museen, Verbände, Vereine und auch Unternehmen widmen sich seit Monaten diesem Thema. Und was macht das Erste Deutsche Fernsehen? Es versteckt einen hochwertig produzierten und von der Presse gelobten Film zu diesem Thema im Nachtprogramm um 23:30 Uhr."

Wichtiger fand man bei der ARD dagegen jüngst "Filme über Supermarktgründer und Immobilienbetrüger", die "zur Primetime ausgestrahlt werden", wie die Briefeschreiberinnen schnippisch bemerken. Ob Volker die Signale hören wird? Ich gehe mal davon aus, dass er und der Kollege Becker sich gern Filme über Supermarktgründer und Immobilienbetrüger anschauen, ihnen beim Thema Frauenwahlrecht aber die Füße einschlafen. Ist selbstverständlich bloß ein Bauchgefühl!

Von einem "von der Presse gelobten Film" zu sprechen, ist - abgesehen davon, dass die Rezension der kürzeren Arte-Fassung in der FR nur bedingt wohlwollend war -, mit Blick auf eine allgemeinere Diskussion im übrigen nicht zielführend, denn der Großteil der relevanten und guten Spätprogramm-Filme wird "von der Presse" nicht nur nicht gelobt, sondern gar nicht wahrgenommen.

Des Weiteren schreiben die Briefautorinnnen:

"Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich an seinem Anspruch messen lassen, Frauen im Programm sichtbar zu machen und von Stereotypen befreit darzustellen. Leider hat er mit dem späten Sendetermin den Zuschauerinnen und Zuschauern keine Chance gegeben, sich informieren, ermutigen und inspirieren zu lassen."

Die Wahlgewinnchancen der Bild-Zeitung

Für mindestens ähnlich aufregend wie die Frage, auf was es heute bei der oben erwähnten Ministerpräsidentenkonferenz hinaus läuft, dürfte der eine oder andere Altpapier-Leser die Wahl der/des neuen CDU-Bundesvorsitzenden Ende dieser Woche halten. Zur Einstimmung bietet es sich an, auf einen taz-Text vom vergangenen Wochenende zurückzublicken, der deutlich macht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Bild-Zeitung gewinnt, nicht ganz gering ist:

"Bei der Wahl zum neuen CDU-Vorsitzenden kann für sie wenig schiefgehen – solange es nur nicht Annegret Kramp-Karrenbauer wird",

meinen Anne Fromm und Martin Kaul. Schließlich hat das Friedrich-Merz-Fanzine auch einen "engen Draht" zu Jens Spahn:

"Es ist kein Geheimnis, dass sich Julian Reichelt und Jens Spahn seit vielen Jahren duzen und einander schätzen. Beide hegen die gemeinsame Bekanntschaft zu dem umstrittenen US-Botschafter Richard Grenell (Linksetzung von mir - RM) oder mit Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, auch er ein Duzfreund Reichelts. Spahns Sprecher im Gesundheitsministerium ist der frühere Bild-Redakteur Hanno Kautz. Zwei Wochen bevor er im Frühjahr ­seinen Job bei Spahn antrat, schrieb Kautz über Spahn noch: 'Spahn-Sinn – was der alles ändern will!'"

Was möglicherweise nicht unbedingt mit Blick aufs kommende Wochenende, aber generell gut zu wissen ist:

"Ähnlich gut ist das Verhältnis zu CSU-Bundesverkehrsminister ­Andreas Scheuer. Auch dessen Sprecher, Wolfgang Ainetter, wechselte in diesem Sommer aus der Bild-Redaktion in das Ministerium. Scheuer persönlich hatte Reichelt gefragt, ob er Ainetter abwerben könne. Scheuer selbst ist oft in der Bild-Zentrale zu Gast und im Blatt präsent. Dafür ist sich der Minister dann auch nicht zu schade, an der Bild-Hotline die Fragen von Dieselgeschädigten zu beantworten (…)"

Die frischen Politikbetriebsnudeln Ainetter und Kautz waren in der vergangenen Woche bereits Thema in Ulrike Simons Spiegel+-Medienkolumne:

"Je wieder zu Bild zurückkehren zu dürfen, können sie sich (…) abschminken, jedenfalls solange der Chefredakteur Julian Reichelt heißt und wenn man seinen Worten glauben darf. 'Zwischen Journalismus und PR ist keine Drehtür', sagt Reichelt, 'hier muss man sich entscheiden."

Was natürlich lustig ist, weil das, was Bild und ganz Springerhausen derzeit in Sachen Merz veranstalten, sich von PR nicht leicht unterscheiden lässt.

Schlingensief-Revival

Zur Berichterstattung über die insgesamt ein "großes Hallo" (Altpapier gestern) auslösende antifaschistische Kunstaktion des Zentrums für politische Schönheit (ZPS) äußert sich dessen Frontfigur Philipp Ruch im Interview mit Katja Thorwarth von der Frankfurter Rundschau - unter anderem zum "falsch verwendeten Begriff der Denunziation", wie es im Vorspann heißt.

"Denunziation ist ein Begriff, der ohne staatliche Gewalt keinen Sinn ergibt. Die Soko Chemnitz bietet zwar der sächsischen Polizei eine Kooperation an, aber darauf gehen die zu unserer großen Überraschung nicht ein. Kunst verfügt über keine Hausmacht, außer vielleicht die Macht der Poesie und Doppelbödigkeit. Wir sind kein diktatorischer Staat, der seine Bürger drangsaliert. Wir sind vielleicht eine NGO, die etwas kompromissloser für die Menschenrechte kämpft als die großen Player in diesem Land. Was will man denn bei uns denunzieren? Wo ist unsere Zwangsgewalt? 'Denunziation' gewinnt erst seine schreckliche Bedeutung vor der Möglichkeit der Gnadenlosigkeit totalitärer Gewalt."

Der erste Satz der folgenden Passage wird vermutlich ein Aufjaulen bei der ein oder anderen feuilletonistischen Spitzenkraft auslösen:

"Ich habe gelernt: Wo der Staat versagt, muss die Zivilgesellschaft ran. Bei der Aufarbeitung von Chemnitz hat der Staat versagt. Nicht nur politisch, wenn der Ministerpräsident Kretschmer eine städtische Bevölkerung eher zögerlich fragt, ob man sich darauf einigen könne, dass Hitlergrüße 'schon nicht okay' seien und Rechtsradikalität bewusst gesellschaftsfähig halten will."

Henrik Merker war fürs Neue Deutschland in Chemnitz, um sich das von der ZPS angemietete Büro anzuschauen, das die Polizei gestern fachmännisch aufgebrochen hat. Merker schreibt:

"Wegen der erwarteten Gewalt aus rechtsextremen Kreisen hatte vom ZPS selbst noch niemand einen Fuß in das Büro gesetzt. Die Aktivisten beobachten aus der Ferne, wie ihre Provokation Früchte trägt und drehen die Eskalation weiter."

Das Zwischenfazit Merkers, der kurz noch den Namen Christoph Schlingensief einwirft, "an dessen Aktionskunst sich das ZPS anlehnt":

"Die Inszenierung ist noch nicht an ihrem Ende angelangt."

Kalte Sanierung

Im Raum Stuttgart findet schon seit einiger Zeit ein "großes Fressen" statt, bemerkt die Wochenzeitung Kontext in ihrer neuen Ausgabe. Der Fressende: der Medienkonzern SWMH. Der "kauft kleinere Verlage und macht sie Stück für Stück platt. Auf der Strecke bleiben die Beschäftigten – und die zweite Meinung", schreibt Josef-Otto Freudenreich. Er geht in dem Zusammenhang unter anderem auf die Kreiszeitung Böblinger Bote ein:

"Im März 2018 gibt der neue, von der SWMH eingesetzte Geschäftsführer Bodo Kurz bekannt, dass in einer ersten Welle 33 Beschäftigte gekündigt werden. Druckerei und Versand sind überflüssig, in Möhringen sind genügend Kapazitäten vorhanden, auch für die Amts- und Kirchenblätter der umliegenden Gemeinden, die zum Ärger des einen oder anderen Pfarrers jetzt eben verspätet eintreffen. Mit Rausschmissen hat Kurz Erfahrung. Als kalter Sanierer hat er ein Jahr zuvor Massenentlassungen beim Nordbayerischen Kurier in Bayreuth durchgesetzt, gegen den breiten Protest einer Bürgergesellschaft – den es in Böblingen, bis dato zumindest, nicht gibt.

Im Herbst dieses Jahres folgt die zweite Welle. 34 MitarbeiterInnen, beschäftigt in der Druckvorstufe, in der Buchhaltung, in Geschäftsstellen und in der Redaktion, müssen gehen. Dagegen protestieren sie vor dem Verlag, und niemand berichtet darüber im SWMH-Land. Niemanden scheint es zu interessieren, wenn eine Zeitung nach allen Regeln der Betriebswirtschaft kleingehäckselt wird. Wenn aus einem Traditionsblatt eine Geschäftsstelle mit angehängter Redaktion wird, von 114 Beschäftigten noch 47 übrig bleiben."

Zum 1. Januar 2019 werde sich die SWMH nun an der Bietigheimer Zeitung beteiligen. Freudenreich dazu:

"Man muss kein Prophet sein, um die nächsten Übernahmekandidaten am Horizont zu sehen. Es sind die kränkelnden Lokalblätter Sindelfinger Zeitung und der Herrenberger Gäubote, die jeweils 10 000 Auflage haben. Und man kann sich die Nervosität der jeweiligen Verlegerfamilien vorstellen, die sich in ihren Villen fragen, ob die Renditen noch lange für den Unterhalt der Haushaltshilfe reichen? Oder ob es nicht besser wäre, zu verkaufen, so lange es noch Geld gibt. Zum Wohle aller, versteht sich."


Altpapierkorb (Internationale Recherchekooperationen, Tumblr vs. Nacktheit, Tagesspiegel vs. Maaßen 1:0, Unwort Familiendrama, Aenne Burda)

+++ Internationale Recherchekooperationen - und zwar offenbar die eher kleinen, verglichen jedenfalls mit jenen, in deren Projektnamen die Begriffe Files, Leaks und Papers vorkommen - waren unlängst Thema beim Mediengipfel in Vorarlberg/Lech (ein Medienkongress, den ich bisher nicht auf dem Schirm hatte, aber das kann ja an mir liegen). @mediasres berichtet."Wir haben Recherchekooperationen gemacht mit ungarischen, polnischen, italienischen, deutschen und französischen Kollegen, und bringen jetzt jeden Monat ein europäisches Thema über die Politik der Rechten", sagte demnach dort Florian Klenk vom Falter. Der deutsche Partner bei diesem mit Blick auf die Europawahl 2019 gestarteten Projekt ist die taz, und der erste Text erschien bereits im Oktober ("Wie Europas RechtspopulistInnen versuchen, mithilfe der Medien ihre Macht auszubauen – und dabei voneinander lernen"). Siehe dazu auch taz-Hausblog.

+++ Ein wichtiges netzpolitisches Thema in diesen Tagen: Tumblrs Ankündigung, künftig keinen sog. Adult Content mehr zuzulassen. Markus Reuter konstatiert bei netzpolitik.org, "dass die Verbannung von Erwachseneninhalten ausgerechnet marginalisierte Communities besonders trifft. So zum Beispiel die LGBTQ-Community, sagt Kitty Stryker, eine queere Pornaktivistin (…): 'Für viele war Tumblr der einzige Platz, an dem wir Pornografie finden konnten, die uns repräsentierte. Tumblr sei ein Ort gewesen, wo Inhalte existieren konnten, die abseits einer frauenfeindlichen und männerdominierten Industrie entstanden seien". Spiegel Online schreibt: "Spekuliert wird, dass die Entscheidung mit dem 16. November zusammenhängt. An jenem Tag entfernte Apple die Tumblr-App aus dem App Store, nachdem darin Darstellungen von Kindesmissbrauch zu finden waren, die Tumblrs Filter nicht entdeckt hatten." Und Andrea Diener (FAZ) kommentiert: "Seit einigen Monaten gehört Tumblr zu Verizon/Oath. Unter den neuen Besitzern, die erst kürzlich die defizitäre Bilderplattform Flickr verkauften, soll das Pornoparadies anscheinend wieder zu dem familienfreundlichen Ort werden, der es nie war."

+++ "Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) muss über bisher vertraulich gehaltene Treffen des früheren Präsidenten Hans-Georg Maaßen mit AfD-Politikern Rechenschaft ablegen. Das Verwaltungsgericht Köln hat die Behörde nach einer Tagesspiegel-Klage verpflichtet, die Kontakte unter anderem zu Parteichef Alexander Gauland und der früheren Bundessprecherin Frauke Petry offen zu legen (…)", berichtet der Tagesspiegel in eigener Sache. Autor Jost Müller-Neuhof hofft: "Mit dem Gerichtsbeschluss könnte die Praxis vertraulicher Treffen von BfV-Chefs mit Politikern künftig ein Ende haben." Auch Legal Tribune Online berichtet.

+++ Wie lukrativ das Fernsehkabelnetz-Geschäft ist, dröselt Spiegel Online angesichts des bevorstehenden Verkaufs des deutsche Kabelnetzbetreibers Unitymedia an Vodafone auf. Der bisherige Eigentümer Liberty Global rechne damit, "Unitymedia mit einem Plus von rund 7,2 Milliarden Euro abzugeben, wenn der Deal wie erwartet im kommenden Jahr abgeschlossen wird. Auf diese Summe erwartet Liberty nach eigenen Angaben keinerlei Steuerzahlungen".

+++ Michael Hanfeld (FAZ) möchte in der Berichterstattung über Tötungsdelikte künftig nicht mehr die Begriffe "Beziehungstat" und "Familiendrama" lesen oder hören, weil sie die Verbrechen "verharmlosen".

+++ "Manchmal schrammt der Film nah an der Schmonzette vorbei, Kameras gleiten über grüne Schwarzwaldlandschaften, in Italien wird viel gekocht, geliebt und Vespa gefahren, auch gerät der Schluss, der nicht verraten werden soll, aber auch nicht zu überraschend ist, sehr casablancahaft", schreibt Claudia Fromme in der SZ über den Zweiteiler "Aenne Burda – Die Wirtschaftswunderfrau", und einzuwenden hätte ich (siehe auch taz) da lediglich, dass "manchmal" eine kolossale Untertreibung ist. Schön zusammengefasst hat’s Oliver Jungen (FAZ). Er spricht von "altbackenem Gefühlsfernsehen".

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.