Das Altpapier am 11.03.2019 Schaut auf dieses Land!

Die Situation für Journalisten in der Türkei ist weiterhin mies. Die dortige Regierung gibt jedoch alles, damit das Ausland das nicht vergisst. CDU/CSU machen nun Nachrichten (nach AfD-Vorbild) selbst. Kai Gniffke möchte SWR-Intendant werden. Deutschlandfunk Kultur sendet für Susanne Wagner. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.

Irgendwie muss man der türkischen Regierung auch dankbar sein. In den vergangenen Monaten ist schließlich ein wenig in Vergessenheit geraten, wie sehr dort Meinungs- und Pressefreiheit weiterhin mit Füßen getreten werden. Meşale Tolu und Deniz Yücel sind wieder auf freiem Fuß und in Deutschland (wenn auch nicht weniger weiterhin angeklagt).

Darüber hat sich die begrenzte Aufmerksamkeit der Medien sowie ihrer Konsumenten verlagert. Irgendwo huscht schließlich immer ein Eichhörnchen, Einhorn oder ein alternder, nach rechts abgedrifteter Ex-Spiegel-Redakteur über den Bildschirm, der sich zum Geburtstag im Kreis von Erika Steinbach, Identitären und Spiegel-Redakteuren ein Ständchen von Reinhold Beckmann bringen lassen möchte, worüber Jan Böhmermann sich echauffiert und wovon Beckmann sich später distanziert. (Warum das Nachrichtenmagazin Der Spiegel als Arbeitgeber mancher Party-Gäste laut @janboem Stellung dazu nehmen soll, was seine Angestellten in ihrer Freizeit machen, verstehe ich zwar nicht so ganz. Andererseits mag ich in diesen Clusterfuck thematisch gar nicht tiefer einsteigen. Muss ja auch nicht. Das nächste “Oh, schau, ein gähnendes Faultier!“ kommt bestimmt.)

Was ich sagen wollte: die Türkei! Hat, wie bereits in der vergangenen Woche hier gemeldet, drei deutsche Journalisten ihre Akkreditierung nicht verlängert. Thomas Seibert vom Tagesspiegel und Jörg Brase vom ZDF sind daraufhin gestern ausgereist; Halil Gülbeyaz vom NDR kann zumindest in der Türkei bleiben, da er eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung besitzt (Quelle: Tagesspiegel am Sonntag). Die Zeitung ist hier heute Dauerquelle, aber sie ist ja auch betroffen.)

Warum diese Kollegen? Warum jetzt?

“Es mag viele Berichte geben, die das ZDF gemacht hat, die der türkischen Regierung nicht gefallen haben, aber das haben auch andere gemacht. Ich denke, es ging darum, ein Exempel zu statuieren, ich weiß nicht, ob es mit meiner Person zu tun hatte - weil man uns sagte, es hat nichts mit dem ZDF zu tun und auch nicht mit meiner Berichterstattung, womit sonst?“,

zitiert Marion Sendker aus dem Istanbuler ARD-Studio Brase in ihrem Beitrag für tagesschau.de. Das ZDF hat mittlerweile angekündigt, gegen die Ablehnung der Akkreditierung zu klagen, informiert aber auch, dass anderen ZDF-Kollegen eine neue Arbeitserlaubnis gewährt worden sei. “Die Korrespondenten sollen damit eingeschüchtert werden. Davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen“, so Intendant Thomas Bellut.

Auch dem Tagesspiegel hat man signalisiert, dass es nicht um generelle Berichterstattung, sondern konkrete Personen gehe. Was die Sache nicht besser macht, sondern nur die völlig verquere Vorstellungswelt der türkischen Regierung offenbart.

Tagesspiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron, noch einmal bei tagesschau.de:

“Der Presseattaché machte deutlich, dass es kein Schritt gegen den Tagesspiegel sei, dass wir das nicht missverstehen sollten, sondern allein eine Sache Seiberts. Und dann kam der Vorschlag, wir sollten ihn doch am besten auswechseln und jemand anderes schicken. Das mag man sich in Ankara so ausdenken, aber wo kommen wir denn dahin, wenn sich die Regierungen dieser Welt ihre Berichterstatter ausdenken können?"

Knast durch Facebook-Like: Alltag in der Türkei

Wie die deutsche Regierung sich das, andererseits, mit der Demokratie und der Pressefreiheit vorstellt, hat Außenminister Heiko Maas im Interview mit Hans Monath und Christoph von Marschall für den Tagesspiegel am Sonntag deutlich gemacht:

“Wenn Journalisten an der Arbeit gehindert werden, ist das mit unserem Verständnis von Pressefreiheit nicht vereinbar. Dass einige deutsche und andere europäische Korrespondenten ihrer Arbeit in der Türkei nicht frei nachgehen können, ist für uns nicht akzeptabel. Ohne kritische Presse keine freie Demokratie.“

In der Folge hat das Auswärtige Amt seine Reisewarnungen für die Türkei angepasst.

“Es kann insofern nicht ausgeschlossen werden, dass die türkische Regierung weitere Maßnahmen gegen Vertreter deutscher Medien sowie zivilgesellschaftlicher Einrichtungen ergreift. Äußerungen, die nach deutschem Rechtsverständnis von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, können in der Türkei zu berufsbeschränkenden Maßnahmen und Strafverfahren führen“,

heißt es da. Schon das Liken, Teilen oder nicht-öffentliche Kommentieren in sozialen Netzen könne zu mehrjährigen Haftstrafen führen, wenn dabei die Regierung kritisiert werde.

Ich wiederhole, weil man das einfach nicht akzeptieren kann bzw. sollte: Für einen Facebook-Like als Meinungsäußerung droht Knast.

Falls Sie gerade Ihren Sommerurlaub planen: In Kroatien und auf Rügen ist es sehr schön.

Allein aus wirtschaftlich-touristischer Perspektive ist die Strategie der türkischen Regierung zu diesem Zeitpunkt nicht die allerschlauste. Ein weiterer Faktor kommt hinzu, wie das Chefduo aus Lorenz Maroldt und Mathias Müller von Blumencron heute im Tagesspiegel schreibt:

“Für den Tagesspiegel ist der Rauswurf seines Kollegen Ansporn, seine Leser, darunter viele türkischstämmige Berliner, weiterhin sehr genau über die Entwicklungen in der Türkei ins Bild zu setzen. Wir werden fair bleiben, aber unser Misstrauen gegenüber den Herrschern in Ankara wächst weiter. Insofern ist das Vorgehen der Türkei nicht nur ein Akt der Willkür, es ist auch ein Akt der Dummheit.“

Woraus wir lernen: Recep Tayyip Erdoğan scheint Barbra-Streisand-Fan zu sein.

Thomas Seibert, der mittlerweile in Berlin gelandet ist, aber weiterhin über die Türkei berichten will, “von wo auch immer“ (Tagesspiegel heute), wirft in seiner Zeitung einen Blick zurück auf die vergangenen 22 Jahre seines Korrespondentendaseins in der Türkei. Das ist auch lesenswert, weil er darin die Arbeit und Herausforderung von und für Auslandsreporter deutlich macht, u.a.:

“Denn wenn ich für meine Leser zum Beispiel aufdröselte, warum Erdogan ist, wie er ist, und dass die Gründe für sein Verhalten in seiner Biografie und in der politischen Kultur seines Landes zu suchen sind, dann wurde ich hin und wieder als Apologet kritisiert. Wenn ich beschrieb, warum sich viele Kurden in der Türkei als Bürger zweiter Klasse fühlen und warum manche sogar die Waffe in die Hand nehmen, dann galt ich bei manchen als Freund der Terrororganisation PKK.“

Ich weiß, das ist eine ganz andere Baustelle. Aber der zweite Gedanke, der mir in den Sinn kam, als ich von der Ausweisung erfuhr, war: Der Tagesspiegel hat noch einen eigenen Korrespondenten in der Türkei?!

Natürlich arbeitet dieser laut seiner Twitter-Bio noch für andere Medien; eine Zeitung allein gönnt sich diesen Luxus des Experten vor Ort ja schon lange nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat sich etwa DuMont seiner Auslands-Kollegen komplett entledigt (Bericht bei Übermedien aus dem Herbst). Zur ganzen Wahrheit gehört, dass deutsche Medien, die gerade und mit Recht sehr viel Wirbel um die Entscheidungen der türkischen Regierung machen, diese Sparmaßnahmen still und heimlich abzuwickeln versuchen. Dabei macht, so meine Sicht, Seiberts Text klar, warum es wichtig ist, Leute vor Ort zu haben, die sich auskennen und zwischen den Welten vermitteln.

Davon sollten sie nicht durch RT Erdogan abgehalten werden! Aber auch nicht von deutschen Medienunternehmen selbst.

Exkurs Ende.

#freethemall


Altpapierkorb (CDU/CSU-Newsroom, SWR-Intendanz, ARD-Trailer-Pest)

+++ Nach der AfD entdeckt auch die Union die Möglichkeit, über einen eigenen “Newsroom“ selbst Nachrichten zu verbreiten, informiert Jens Schneider am Rande eines Textes über Social-Media-Aktivitäten deutscher Parteien auf der Medienseite der SZ.

+++ SWR-Landessenderdirektorin Stefanie Schneider und ARD-Aktuell-Chef Kai Gniffke möchten gerne Südwestrundfunks next Peter Boudgoust werden, berichtet Max Hägler ebenfalls in der SZ. Was Tom Buhrow kann, kann ein Kai Gniffke schließlich längst.

+++ Deutschlandfunk-Kultur-Mitarbeiter bekommen per Handbuch vermittelt, wie sie ihre Zielgruppe am besten ansprechen sollen, nämlich als fiktive Standard-Hörerin Susanne Wagner, enthüllt Joachim Huber im Tagesspiegel und schreit bei der Gelegenheit gleich “Framing-Manual“. Ich freu mich schon auf den Wutausbruch, wenn Huber von der Existenz von Sinus-Milieus und deren sehr genauer Studie durch Medienhäuser, sicher auch seines, erfährt.

+++ Der tägliche Facebook-Datenskandal, aktuelle Folge: Beobachtungslisten, auf denen Leute landen, sich sich gegenüber dem Unternehmen irgendwie bedrohlich geäußert haben. “Eingeräumt hat Facebook lediglich, dass der Konzern bei Bedarf den aktuellen Aufenthaltsort derjenigen ortet, deren Namen sich auf der Beobachtungsliste befinden (…). Allgemein bekannt ist, dass Facebook außerdem die Internet-Protokolladresse der Betreffenden tracken kann. (…) Facebook spricht uns gegenüber von 'branchenüblichen Maßnahmen’“, meldet zdf.de.

+++ Bei kress.de schreibt der ehemalige ARD-Sprecher und aktuelle MDR/MEDIEN360G-Kollege Steffen Grimberg ab sofort eine Medienkolumne, in deren erster Folge er exklusiv aus einem Papier zitiert, wie sich die Rundfunkkommission der Länder Auftrag und Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Zukunft vorstellt: ?

+++ Wie es war, in den 1960er Jahren beim Deutschlandfunk als “Alibi-Frau“  in eine Führungsposition zu kommen, ist nur eine Episode, die Marlies Hesse im Interview mit Simone Schmollack von der taz erzählt.

+++ In der Not frisst die Presse sogar die Option, sich vom Staat fördern zu lassen, kolumniert Rainer Stadler in der NZZ.

+++ “Wer noch weniger als gar nichts kann, der ist bei der ARD für Trailerplatzierung verantwortlich.“ Wie er zu dieser Meinung kam, belegt Hans Hoff ausführlich in seiner DWDL-Kolumne.

+++ Vertrauen. Verantwortung. Nachhaltigkeit. Auf der Medienseite der FAS () nimmt Oliver Georgie Politiker-Phrasen auseinander und bewirbt nebenher sein Buch “Und täglich grüßt das Phrasenschwein“, das in einer Woche erscheint.

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag!