Das Altpapier am 15. März 2019 Wider die Gewöhnung

Wer hat den Mord am slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciák in Auftrag gegeben? Die Staatsanwaltschaft nennt endlich einen Namen. Damit Journalistenmorde nicht normalisiert werden, gibt es eine neue medienübergreifende Koalition, die über gefährdete Reporter*innen berichtet. Zum Beispiel über die philippinische Reporterin Maria Ressa. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Vor etwas mehr als einem Jahr sind der slowakische Investigativjournalist Ján Kuciák und seine Verlobte Martina Kušnírová ermordet worden. "Steuerhinterziehung und krumme Geschäfte zwischen Unternehmern sowie deren Verbindungen zur Politik, das waren Kuciaks Themen", hieß es damals, im Februar 2018, im Altpapier. "Die beiden ehemaligen Nachbarn Marián Kočner und Róbert Fico hatte er dabei besonders im Visier – Ersterer Unternehmer, Letzterer Ministerpräsident." 29 Artikel hat Kuciák allein 2017 Kočners Geschäften gewidmet, hieß es damals in der an dieser Stelle zitierten taz, 2018 seien "noch vier weitere erschienen".

"Darin warf Kuciak dem Immobilienspekulanten vor, in mafiaähnliche Strukturen eingebunden zu sein. Auch dank undurchsichtiger Geschäfte mit dem Staat soll Kočner zu seinem Reichtum gekommen sein. (…) Er werde Dreck über ihn und seine Familie herausfinden und veröffentlichen, hatte Kočner Kuciak schon im letzten Sommer gedroht. Die Bearbeitung der Strafanzeige, die er daraufhin gestellt hatte, ziehe sich verdächtig lange hin, meinte Kuciak dazu später."

Wer tatsächlich hinter dem Mord steckt, war damals nicht bekannt, auch das stand in den entsprechenden Artikeln. Vier Tatverdächtige gab es zwar schon, aber nicht den Namen des mutmaßlichen Hintermanns bzw. der Hinterleute. Noch im Februar stand in der SZ:

"Wer hat 70 000 Euro für zwei Menschenleben bezahlt? Als Auftraggeber kommt der Multimillionär Marián Kočner in Frage, den mehrere Verdächtige beschuldigen. Kočner sitzt wegen eines anderen Falls seit Sommer 2018 in Untersuchungshaft. Ihm werden Steuerhinterziehung, Erpressung, Geldwäsche und Verbindungen zum organisierten Verbrechen vorgeworfen."

Nun, knapp 385 Tage später, ist just dieser Marián Kočner angeklagt worden:

"Wie die Staatsanwaltschaft in Bratislava am Donnerstag mitteilte, war der Mord durch die Recherchen des Investigativ-Journalisten motiviert. Es gebe dafür einen objektiven Beweis, der derzeit aber nicht öffentlich gemacht werden dürfe. Gegen den 55-jährigen Kocner sei am 8. März Anklage erhoben worden", heißt es etwa drüben bei mdr.de.

Beim Handelsblatt online (Login notwendig) heißt es, hierin etwas genauer, es sei "eine formelle Anschuldigung erhoben" worden: "Das ist im slowakischen Strafrecht eine Vorstufe zur Anklage vor Gericht".

Dass die Süddeutsche Zeitung den Fall Kuciak im Lauf des Jahres immer wieder auf dem Radar hatte, könnte am Engagement von Bastian Obermayer liegen. Er taucht deshalb in so gut wie allen Altpapier-Texten auf, die seither zum Thema erschienen sind. Er wurde etwa als Berater der Investigativ-Redaktion "Forbidden Stories" tätig: "Reporter hinterlegen ihre Recherche an einem sicheren Ort, so dass andere Journalisten sie weiterführen können, wenn ihnen etwas zustößt" (Altpapier vom März 2018). Er war auch einer der beiden Autor*innen (mit Lena Kampf) einer Seite 3, die im Oktober erschienen ist (Altpapier).

Gewöhnungsgefahr

Nun hat die SZ wieder einen Text von Obermayer zum Thema im Blatt; er warnt darin vor "Gewöhnung": "Wieder ein toter Journalist, wieder eine inhaftierte Journalistin. Die Fälle verschwinden aus den Schlagzeilen, die Aufmerksamkeit wandert weiter." Schließlich gab es nicht nur den Mord an Kuciák, sondern auch die Morde an der maltesischen Investigativjournalistin Daphne Caruana Galizia und an Jamal Kashoggi, dem Kolumnisten der Washington Post. Erinnert sich jemand? Oder sind hier alle zu beschäftigt mit Verniedlichungen oder Verteidigungen von Greta Thunberg, dem ewigen Brexit und Leuten, die im "MoMa" herumpöbeln? Nee, also: Sicher eine richtige Einschätzung von Obermayer – noch ein paar Journalistenmorde, und sie gelten am Ende noch als norma…, huch, eine bizarre Meldung über Boris Becker!

Etwas unglücklich mutet es an, dass ausgerechnet dieser jüngste Text nicht auf dem neuesten Stand ist: "Weder in Malta, noch in der Slowakei und noch viel weniger in Saudi-Arabien wurden bislang die tatsächlichen Hintermänner zur Rechenschaft gezogen", heißt es darin, zumindest in der Onlineversion vom Donnerstagabend ohne Hinweis darauf, dass nun offensichtlich Bewegung in die Ermittlungen gekommen ist.

Was freilich aber eher von bleibender Bedeutung ist: dass es nach der "Forbidden Stories"-Initiative nun eine weitere gibt. Gegen den Gewöhnungseffekt, vor dem Obermayer warnt, wolle nun, schreibt er, "eine Koalition internationaler Medien kämpfen, und Monat für Monat eine Dringlichkeits-Liste von zehn Journalistinnen und Journalisten veröffentlichen, deren Freiheit oder gar Leben akut in Gefahr sind, oder deren Fälle aktuell Gerechtigkeit verlangen". Dieser "One-Free-Press-Coalition" gehören ihm zufolge Time Magazine, Forbes, Financial Times, die Nachrichtenagenturen Associated Press und Reuters sowie auch etwa die Süddeutsche an.

Ein erstes Beispiel, wie das Ergebnis aussehen könnte, gibt es auch gleich: Frederik Obermaier, der wie Obermayer zum Recherche-Team der SZ gehört, schreibt über die philippinische Reporterin Maria Ressa, "die dem autoritären Präsidenten ihres Landes, Rodrigo Duherte, die Stirn bietet" (Obermayer).

Kočner, Geschäftsmann und – Journalist

Mehr über Marián Kočner, den mutmaßlichen Hintermann der Tat, hat die New York Times – unter anderem steht dort, dass er selbst einst als Journalist gearbeitet hat: "he went on to study journalism at Comenius University in Bratislava. He worked for several years as a reporter for the broadcaster Slovak Television, but as the country transitioned to capitalism after the collapse of the Berlin Wall, he was drawn to the business world."

Kurzer Ausflug in die slowakische Politik, was mir hier mal angemessen scheint, weil der Kuciak-Mord zum Rücktritt des o.g. Ministerpräsidenten Róbert Fico führte (siehe etwa DWDL vom Donnerstag): Die taz (online steht die Printarchivversion) widmet der Menschenrechtsanwältin und Aktivistin Zuzana Čaputová ein Porträt, die bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag antritt und offensichtlich Chancen auf einen Wahlsieg hat. Čaputová sei "unbelastet von der hohen Politik. Besonders letzteres könnte in der Stichwahl am 30. März für Čaputová entscheidend sein. Denn seit dem Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová vor einem Jahr rumort es in der slowakischen Gesellschaft. Der brutale Tod des jungen Paares hat die Slowakei nicht nur bis ins Mark erschüttert. Er hat auch die oligarchischen Strukturen des 5-Millionen-Einwohnerlandes offengelegt. Und da mag Zuzana Čaputová vielen als eine Lichtgestalt erscheinen."

Angesichts der politischen Lage und des bevorstehenden Wahltags scheint der New York Times der Zeitpunkt, zu dem die formelle Anschuldigung Kočners öffentlich wurde, zumindest erwähnenswert: "The announcement of the charges came just two days before a presidential election, with the governing party’s candidate trailing badly in the polls. It was unclear what impact the charges would have on Saturday’s vote."


Altpapierkorb (SWR-Intendantenwahl, "Brecht", lineare Fernsehnutzung, Buchtitel, #Matussek, Jan Hofer, Sophie Passmann)

+++ Dass es "Ärger" gebe vor der bzw. rund um die SWR-Intendantenwahl am 23. Mai, schrieb Michael Hanfeld in der FAZ schon dieser Tage. Nun Nachschub von Rüdiger Soldt: Der SWR-Verwaltungsratschef weise die Kritik (Altpapier), es gebe zu wenige Kandidat*innen, zurück. "Es ist möglich", heißt es in der FAZ (derzeit nur Print), "dass der NDR-Fernsehchef Andreas Cichowicz, der SWR-Verwaltungsdirektor Jan Büttner oder der stellvertretende SWR-Landessenderdirektor Clemens Bratzler im Mai noch vorgeschlagen werden".

+++ Altpapier-Kollege René Martens hat für die taz über die tätlichen Angriffe auf die Filmemacherin Stefanie Appel beim Dreh in Bangladesch geschrieben. Wobei tätlich meint, dass sie "beinahe getötet" worden wäre. Es geht auch um die merkwürdig anmutenden Versuche der Deutschen Botschaft, das Ganze herunterzuspielen. Siehe dazu auch dieses Altpapier, in dem Martens bereits berichtete.

+++ Heinrich Breloers zweiteiliges ARD-Dokudrama "Brecht", von der Dachzeilenabteilung der Onliner als "Dokumentation" verkauft – liegt’s an SEO? –,  wird eine Woche vor der Ausstrahlung von der Zeit besprochen: "Nach heutigen Maßstäben ist b.b. gewissermaßen das prototypische Feindbild der  #MeToo-Bewegung, der den Ur-#aufschrei auslösende weiße alte Mann. (…) Jede Epoche bekommt genau den Brecht, den sie braucht."

+++ "Zum zweiten Mal in Folge besteht das epd medien-Tagebuch aus einem Nachruf, nach dem auf Peter Rüchel nun einem von Norbert Schneider, u.a. lange Medienwächter in Düsseldorf, auf Werner Schneyder", schrieb Christian Bartels an dieser Stelle kürzlich. Nun folgt der dritte Nachruf, diesmal von Manfred Riepe auf den Dokumentarfilmer und u.a. Grimme-Preisträger Thomas Bergmann. Der Text enthält, als es um einen von u.a. Bergmanns Filmen geht, einen programmgeschichtlichen Hinweis: "Ein unbequemer Film, der heute nicht einmal mehr auf ZDFinfo laufen würde. Damals aber, 1990, strahlte ihn die ARD um 20.15 Uhr aus."

+++ "Die lineare Fernsehnutzung wird abnehmen, die Nutzung von Streamingdiensten enorm wachsen, erklärt Bert Habets, CEO der RTL Group": Thomas Lückerath von DWDL war beim Presse-Dinner.

+++ Formel 1 goes Bundesliga? Die neue Saison startet, und "so viele TV-Optionen", die Rennen zu verfolgen, "gab es noch nie" (Tagesspiegel).

+++ Österreichs Regierung derweil will den Fußball zurück ins Free-TV holen" (Süddeutsche).

+++ Jan Fleischhauer widmet seine SpOn-Kolumne diesmal: sich. Beziehungsweise der Kritik, die sein Besuch bei Matthias Matusseks Geburtstagsparty ausgelöst hat, weil dummerweise halt auch mindestens ein Rechtsextremer anwesend war (Altpapier). "Kontaktschuld" ist sein Stichwort.

+++ Alexander Kissler vom Cicero, ebenfalls Gast der Matussek-Party, und Alice Weidel von der AfD haben je ein Buch geschrieben. Die Titel sind identisch, was irgendwie… lustig ist. Bei SpOn geht es um die juristischen Fragen – Klage oder nicht Klage? –, die nun von den Verlagen wohl gewälzt werden.

+++ Der New Yorker hat diese Woche einen – oder den? – großen Artikel über Fox News  und Rupert Murdoch veröffentlicht: "Trump became famous, in no small part, because of Rupert Murdoch."

+++ Sophie Passmann moniert im Interview mit dem Magazin taz.FuturZwei eine Männerförderung beim ZDF: "Letztes Jahr hat, glaube ich, ZDF neo zwei neue Late-Night-Shows pilotiert, beide mit weißen Männern. Da sage ich: Davon haben wir genug. Männer profitieren von dieser Förderung und in der Erziehung mit Sicherheit davon, dass sie eher auf laut sein und lustig sein getrimmt werden als Mädchen."

 +++ Wer hätte bezweifeln wollen, dass das ZDF auch 2019 wieder die "Helene Fischer Show" auflegt, wie DWDL schreibt? Jetzt wissen wir’s jedenfalls.

+++ Bei der Berliner Morgenpost behandelt man Homöopathie-Mythen unter Umständen mit Globuli (Übermedien).

+++ Ganz gute News: "Tagesschau"-Sprecher Jan Hofer geht es wieder besser, nachdem er am Donnerstag die 20-Uhr-Sendung "nicht wie gewohnt zu Ende führen" konnte (tagesschau.de). Andere wissen weniger, berichten aber mehr. Meedia verweist auf Quelle: Bild. Bei DWDL ist man ins Archiv gestiegen und berichtet, dass Hofer schon mal schlecht war.

Frisches Altpapier gibt es am Montag. Schönes Wochenende!