Das Altpapier am 10. April 2019 Rühmliche und unrühmliche Momente

Das Diversity-Plädoyer in der taz verdient Applaus. Das Pro und Contra über private Seenotrettung aus der ZEIT ist doch nicht mehr für den Theodor-Wolff-Preis nominiert. Und der Presserat hat im vergangenen Jahr 28 Rügen verteilt. Ein Altpapier von Kathrin Hollmer.

Schön, wenn man eine Premiere – dies ist meine allererste Altpapier-Kolumne – mit einem Lob beginnen kann. In der taz (von gestern, heute online) ist unter dem Titel Wir gehören dazu ein Plädoyer für mehr Diversität in Redaktionen erschienen, das vor allem auf Twitter viel Zuspruch bekommt. Ein Viertel der deutschen Bevölkerung hat eine Migrationsgeschichte, aber nur fünf Prozent der Journalistinnen und Journalisten in Redaktionen, schreiben Eser Aktay, Ronya Othmann und Beliban-zu-Stolberg, und nehmen das zum Anlass, ihre Erfahrungen im Journalismus zu teilen: Dort fehle es "an neuen Perspektiven und Geschichten, die unsere Gesellschaft bewegen." Wie sie das spüren, beschreiben sie ziemlich anschaulich:

"Wenn deine Themenvorschläge als "Nischenthemen" abgetan werden, weil sie nichts mit der Lebensrealität der überwiegend weißen Redaktionsmitglieder zu tun haben. Wenn du deinen Text abgibst und für dein einwandfreies Deutsch gelobt wirst, weil du Mehmet oder Leyla heißt. Wenn du es auf die Journalistenschule geschafft hast – und deine Kommilitonen sagen, du hättest deine Bewerbung genauso gut leer abgeben können, denn Menschen mit "Migrationshintergrund" würden ja jetzt gesucht."

Außer um Migrationsgeschichte geht es den Autoren noch um Arbeiterkinder, die in der Branche ebenfalls unterrepräsentiert sind (und in der Politik, in der Wirtschaft und und und). Im Journalismus betrifft Diversität auch nicht nur die Besetzung von Redaktionen (und besonders von Führungspositionen), sondern auch die Protagonisten, die in Artikeln, Radio- und Fernsehsendungen in Deutschland zu Wort kommen dürfen. Spoiler: mehr Menschen ohne Migrationsgeschichte als mit, mehr Akademiker als Arbeiter, mehr Männer als Frauen und so weiter. Und wenn dann beispielsweise, vielleicht sogar eine Frau mit Migrationsgeschichte in der Talkshow oder dem Podium etwas sagen darf, dann darüber, dass sie Migrationshintergrund hat oder eine Frau ist.

Sehr schön im taz-Plädoyer:

"Wir wollen Partizipation, wir wollen schreiben, unsere Arbeit machen. Wir wollen den Diskurs mitbestimmen. Die Vielfalt unserer Stimmen ist nicht nur dann wichtig, wenn wir über Islam, Integration und unsere traurigen Familiengeschichten schreiben, sondern auch wenn wir von Umweltschutz, klassischen Musikkonzerten und den neuesten Modetrends berichten."

Auch reicht nicht eine Perspektive, warum sollte sie auch? Beim Spiegel dürfen ja auch mehrere weiße Männer kolumnieren, da, schreiben Eser Aktay, Ronya Othmann und Beliban-zu-Stolberg, würden Haltung und Tonfall wahrgenommen, anders als Mirna Funk, die als "die jüdische Kolumnistin", oder Ferda Ataman "die migrantische" gelesen werde: "Als ob das alles wäre." Weiter heißt es:

"Repräsentation ist wichtig, Diversity ist wichtig. Aber nicht nur ein bisschen, fürs gute Gefühl. Eine Özlem Topçu reicht nicht. Es braucht auch eine Canan Topçu, eine Mely Kiyak. Es braucht eine Vanessa Vu, einen Hasnain Kazim. Wir sind viele, und wir werden gebraucht."

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht, was @GesaCTeichert twittert:

"Unter der Überschrift 'Diversity in den Medien' hätte ich mir gewünscht, dass es eine wirklich intersektionale Perspektive gibt, queere, sehr junge und Menschen mit Behinderung sind ebenso marginal."

Es gibt immer was zu tun.

Oder soll man die Nominierung lassen?

Das Thema Pro und Contra (private) Seenotrettung von Flüchtlingen ist noch nicht abgeschlossen. Vergangene Woche wurde bekannt, dass der umstrittene Zeit-Artikel von Caterina Lobenstein und Mariam Lau vom Juli 2018 mit dem zynischen Titel "Oder soll man es lassen?" (siehe Altpapier) für den Theodor-Wolff-Preis nominiert ist.

Im vergangenen Jahr stand vor allem Mariam Lau in der Kritik, die die Contra-Position vertrat und sich gegen die private Seenotrettung, nicht die (Seenot)Rettung von Flüchtlingen allgemein, aussprach. Für die reißerische Aufmachung entschuldigte sich die Zeit später.

Auf Twitter wurde die Nominierung in einzelnen Kommentaren kritisiert, auch die Frage, ob die Nominierung in Hinsicht auf die Biografie des namensgebenden Publizisten (der 1933 selbst vor den Nazis fliehen musste) angemessen ist, kam auf. Ansonsten blieb die große Aufregung aus.

Nun wurde, der Titel des umstrittenen Artikels ist immer noch Programm, der Text wieder aus der Shortlist genommen. In einem "Nachtrag vom 8. April" auf der Startseite des Journalistenpreises heißt es:

"In der Kategorie Meinung überregional hatte die Jury ursprünglich auch Caterina Lobenstein (Pro) und Mariam Lau (Contra) für den in 'Die Zeit' veröffentlichten Kommentar 'Oder soll man es lassen?' nominiert. Dieser Beitrag war ohne Wissen und Zustimmung von Frau Lobenstein durch einen Leser eingereicht worden. Die Autorin hat uns heute mitgeteilt, dass sie für diesen Beitrag nicht nominiert werden möchte. Die Jury hat sich daraufhin entschlossen, das Pro und Contra aus der Wertung zu nehmen."

Auf Meedia zitiert Chefredakteur Georg Altrogge eine Stellungnahme Lobensteins dazu:

"Überschrift, Foto und Texte erwecken im Gesamtklang den Eindruck, die generelle Pflicht zur Rettung von Menschenleben sei verhandelbar. Von dieser Darstellung möchte ich mich distanzieren und daraus keinen persönlichen Nutzen ziehen."

Meedia hat erfahren, dass Mariam Lau die Jury entscheiden lassen wollte, diese soll abgestimmt haben, ob "ein 'halber' Beitrag überhaupt final gewertet werden sollte", zwei Drittel der Juroren soll dagegen gestimmt haben. In der Jury solle es nun "rumoren":

"Zum einen sehen einige Juroren Mariam Lau nach der aus ihrer Sicht überzogenen und unfairen Kritik an der Zeit-Autorin im vergangenen Sommer nun erneut gedemütigt, zum anderen sei die Tatsache, dass der Beitrag auch nach so langer Zeit derart polarisiere, doch geradezu ein Indiz dafür, dass dieser einen Nerv getroffen sowie den Kern einer großen Debatte abgebildet habe."

"Dem unrühmlichen Kapitel wurde nun eine weitere Episode hinzugefügt", schreibt Altrogge. "Hoffentlich die letzte." Wir werden sehen.

28 Rügen durch den Presserat

Am Dienstag veröffentlichte der Presserat seinen Jahresbericht 2018. Im vergangenen Jahr haben sich demnach 2038 Leserinnen und Leser an das Gremium gewandt, nur 2015 gab es mehr Beschwerden. Insgesamt wurden 28 Rügen erteilt, die schärfste Maßnahme, die das Gremium aussprechen kann. Die meisten, heißt es in dem Bericht, beziehen sich auf Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes und die Vermischung von Werbung und Redaktion.

Etlichen Beschwerden sei "ein grundsätzlich medienkritischer Unterton gemeinsam", heißt es in dem Bericht, zahlreiche Beschwerden habe es zu den Themen Migration und Rechtsradikalismus gegeben, beispielsweise zur Berichterstattung über die Ausschreitungen im Sommer 2018 in Chemnitz. Einige Leserinnen und Leser haben bezweifelt, das es dort zu Hetzjagden gekommen ist. "Der Presserat wies diese Beschwerden als unbegründet ab", heißt es in dem Bericht. "Es ist unstrittig, dass in Chemnitz Menschen andere Menschen gejagt haben." Darum ist es auch offiziell okay, dass der Tagesspiegel dazu mit dem Buzzword titelt: "Keine 'Hetzjagden' in Chemnitz? Doch, sagt der Presserat".

Die Süddeutsche, die auf der Medienseite etwas ausführlicher berichtet, zitiert den Sprecher des Rats, Volker Stennei:

"Als Freiwillige Selbstkontrolle entscheiden wir nicht über verschiedene Deutungen eines Geschehens, solange die Deutungen auf korrekten Fakten beruhen. (...) Der verantwortungsvolle Umgang mit Informationen ist Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der ethisch gebundenen Presse."

Dem Bericht zufolge gab es weniger Beschwerden über die Herkunftsnennung von Straftätern. Seit 2017 braucht es der neuen Richtlinie zufolge ein "begründetes öffentliches Interesse", um in der Berichterstattung die Herkunft von Tätern oder Verdächtigen zu erwähnen.

65 Prozent der Beschwerden richten sich übrigens gegen Artikel im Internet.

"Das bedeutet nicht, dass Online-Redaktionen schlechter arbeiten als Printredaktionen: Einerseits spiegelt sich hier das allgemeine Leseverhalten wider, andererseits ist es einfacher, dem Presserat einen Link zu mailen anstatt einen Print-Artikel einzuscannen oder ihn per Post zu schicken."

Altpapierkorb (Gecastete Realität, Namensnennung von Tätern, Politikerumfragen und "Weiberzeitungen")

+++ Nach der Debatte um gecastete Protagonisten in journalistischen Formaten (Altpapier dazu) wirft Adrian Lobe auf der SZ-Medienseite ein, dass heute teilweise die Realität selbst inszeniert ist – prominentestes Beispiel (der jüngeren Vergangenheit!) ist wohl Trump, der seine Präsidentschaftskandidatur vor einer bezahlten Menschenmenge verkündet hat.

+++ Sollen Medien die Namen von Attentätern nennen? Bietet man ihnen damit eine weitere Bühne? Oder ist es ein unangebrachter Schutz für die Täter, wenn man ihre Namen nicht nennt? Weil die Öffentlichkeit ein Informationsinteresse daran hat? Der Tagesspiegel hat unter anderem bei Claus Kleber, Journalistik-Professor Volker Lilienthal und Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Deutschen Presserats, nachgefragt.

+++ Nochmal Diversity: Deutschlandfunk Kultur hat als Reaktion auf den Kinofilm "Die Goldfische" (Trailer) die besten Filme über Rollstuhlfahrer gesammelt. Leidmedien hat dazu sehr passend getwittert: "Hätten wir 1 Wunsch frei, würden wir gerne den Artikel lesen: 'Die 5 besten Rollen von rollstuhlfahrenden Schauspieler*innen in Filmen, in denen die Behinderung kein Thema ist'."

+++ Dem ZDF-Politikbarometer zufolge ist Robert Habeck der wichtigste Politiker Deutschlands, beim Kantar Public landet er auf Platz 15. Warum Politikerumfragen oft widersprüchlich wirken, erklärt Cordula Meyer im Spiegel. ()

+++ Gute Nachrichten von der Jahrespressekonferenz des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger: Meedia berichtet, dass fast jeder zweite Verlag in diesem Jahr neue Printprodukte plant, nur fast jeder vierte will neue digitale journalistische Produkte angehen.

+++ Medienpolitik.net hat mit ZDF-Intendant Thomas Bellut über eine europaweite Plattform für Inhalte und eine Vernetzung der Mediatheken gesprochen.

+++ Nachschlag zu Mark Zuckerbergs Wunsch nach einer Regulierung des Internets (Altpapier dazu): In einem Gastbeitrag in der FAZ () schreibt Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, dass es bereits gemeinsame Standards – Gesetze – gibt, die Zuckerberg gefordert hat - deren Einhaltung allerdings auch verfolgt werden muss.

+++ Bereits am Dienstag beschäftigte sich Hilmar Klute im SZ Panorama über Thomas Gottschalks Aussage in seiner Sendung auf Bayern 1, die "Leser irgendwelcher Weiberzeitungen" würden ihm "wirklich am Arsch vorbei" gehen, und feuilletonierte über das "Weib als historische Figur". Gottschalk bezog sich auf die Spekulationen nach der Trennung von seiner Frau. Vergangene Woche trat er übrigens als Gast-Coach in (der "Weibersendung"?) Germany’s Next Topmodel auf.

 Ein neues Altpapier gibt’s am Donnerstag.