Episoden-Cover: "Akte: Raubkunst? Ahnenschädel" 42 min
Bildrechte: ARD Kultur / Good Point Podcasts
42 min

Deutsche sammelten und raubten in der Kolonialzeit nicht nur Kunstschätze sondern auch menschliche Gebeine. Ein besonderer Fall sind Ahnenschädel, mit denen Menschen in Papua-Neuguinea mit Toten in Verbindung blieben.

Do 01.09.2022 10:23Uhr 41:59 min

Audio herunterladen [MP3 | 38,4 MB | 128 kbit/s] Audio herunterladen [MP4 | 77,6 MB | AAC | 256 kbit/s] https://www.mdr.de/ard-kultur/audio/podcast/akte-raubkunst/akte-raubkunst-ahnenschaedel100.html

  Akte: Raubkunst? | Episode 5

Ahnenschädel im Bremer Überseemuseum

Michael Mel: The time that the first Europeans arrived here, they came with guns, and when they fired a gun, it scared the daylights out of people.

(Übersetzung: Als die ersten Europäer hierherkamen, hatten sie Gewehre dabei, und wenn sie schossen, hatten die Leute tierische Angst)

Wiebke Ahrndt: Die Ahnenschädel sind das berührendste Sammlungsgut, das wir bei uns in unserem Hause haben. Denn sich zu vergegenwärtigen, dass… dass sie beseelt sind, dass ich also nicht lediglich einen Knochen vor mir habe.

In den Depots und Kellern von deutschen Museen lagern menschliche Überreste aus fast allen Teilen der Erde. Haare, Knochen, Schädel und Skelette. Ich finde es eine ziemlich furchtbare Vorstellung, dass sie bis vor kurzem noch neben Tontöpfen und Werkzeugen ausgestellt wurden, als wären das irgendwelche Gebrauchsgegenstände, die man sich halt mal so anschaut.

Mückler: Wir wenn wir das ausgehenden 19. Jahrhundert betrachten, dann können wir fast von einer Schädel-Manie in Europa sprechen.

…sagt der Ethnologe Hermann Mückler. Die Schädel wurden in Europa vermessen um sogenannte Völkerkunde zu betreiben. Dadurch wollten Forscher damals ihre rassistischen Annahmen über ihre angebliche eigene Überlegenheit pseudowissenschaftlich belegen. Mittlerweile setzen sich einige Museen kritisch mit menschlichen Überresten als Sammlungsgüter auseinander. Das liegt auch daran, dass Herkunftsgesellschaften über deren eigentliche Bedeutung aufklären. Heute findet man Schädel nur noch selten in Glaskästen in Museen aber jahrzehntelang wurden sie ausgestellt wie Objekte. Trotzdem: viele menschliche Überreste befinden sich nach wie vor im vermeintlichen Besitz von Museen und stehen, in Kartons und Boxen verstaut, in den Archiven der Museen.

MUSIKBREAK

Ich bin Helen Fares, ihr hört Akte: Raubkunst? Der Podcast, in dem wir uns Objekte in deutschen Museen widmen, die eigentlich gar nicht hier sein sollten. Eigentlich ist es ja in vielen Teilen der Welt und auch in Europa klar, dass Verstorbene mit Respekt behandelt werden sollen - und dass menschliche Überreste keine Objekte sind. Aber in Papua Neuguinea gab es eine ganz besondere Kultur mit den Verstorbenen in Verbindung zu bleiben: Schädel wurden nachdem sie mit dem restlichen Körper für einige Zeit vergraben waren, ausgegraben, und anschließend mit Ton oder anderen Materialien bearbeitet. In Erinnerung an die verstorbene Person wurde das Gesicht nachmodelliert. Sie haben eine Nase, echte Haare, Muscheln als Augen. Es ist fast so, als würde man einem Menschen ins Gesicht schauen. Und genau solche Schädel sind in der Kolonialzeit auch in ein Museum in Bremen gebracht worden.

Hallo, Bettina von Briskorn

Hallo, mein Name ist Helen Fares. Schön, Sie kennenzulernen!

Bettina von Briskorn ist Provenienzforscherin. In der Provenienzforschung beschäftigen sich die Forschenden mit der Geschichte der Herkunft von Kunstwerken und Kulturgütern.  Ich treffe sie an ihrem Arbeitsplatz, dem Übersee-Museum Bremen.

Helen: Wir hatten gerade ein schönes Malleur im Taxi. Wir haben gesagt „Wir wollen ins Übersee-Museum“ und er hat nur verstanden „Wir wollen nach Übersee“.

Briskorn: Oh! Huch!

Helen: Also sind wir in die Übersee-Stadt gefahren.

Oh das ist natürlich…  / ...Einen kleinen Umweg gemacht.

Ich hab wahrscheinlich genuschelt, war auch noch recht früh am Morgen. Aber es ist tatsächlich interessant, dass das Museum und auch ein Stadtteil von Bremen so heißen. Übersee-Stadt sind die alten Hafengebiete in Bremen. Und da gibt es noch einige Spuren, die auf den deutschen Kolonialismus und den damaligen Überseehandel verweisen. Zum Beispiel die Lüderitzstraße, die an den Tabakhändler Adolf Lüderitz erinnert, der als erster Deutscher im heutigen Namibia Land erwarb und der mit dafür verantwortlich war, dass das Gebiet 1884 zur deutschen Kolonie wurde. Dort wurden von den Deutschen später schätzungsweise bis zu 100.000 Herero und Nama ermordert. In mehreren deutschen Städten wurden Lüderitz-Straßen inzwischen umbenannt, in Bremens Übersee-Stadt noch nicht.

 (Bettina von Briskorn schließt Büro auf)

Bettina von Briskorn führt uns durch das Museum, hoch in ihr Büro.

Bettina von Briskorn Gut dann würde ich einfach mal gerne ihnen zunächst einen Ahnenschädel zeigen.

125 sogenannte Ahnen-Schädel liegen im Bremer Übersee-Museum. 125 Menschen, die gestorben sind und deren Nachfahren ihre Schädel ausgegraben haben. Ihre Gesichter nachgebildet, sie verziert und geschmückt haben. Um sie in ihrem Alltag oder bei Ritualen bei sich zu haben.

Bettina von Briskorn: Und wir sehen also, wir sehen Haare, die wir vielleicht, wenn wir etwas salopp sprechen, als Dreads so ein bisschen bezeichnen könnten. Also längeres Haar, langes, schwarzes, dunkles Haar, begrenzt von einem von einem Streifen Kaurimuscheln.

Der ganze modellierte Kopf ist schwarz bemalt und darauf sind eingraviert oder gemalt - das kann ich nicht so ganz erkennen - wunderschöne wellenförmige Muster. An der Stelle wo die Augen sind, sind Muscheln eingelassen. Die Nase ist relativ groß im Vergleich zum restlichen Gesicht. Lippen sind auch geformt, eher schmal aber doch auffällig. Insgesamt sieht das für mich nicht so aus als wäre das ein Schädel oder menschliche Überreste.

Ich sehe den Ahnen-Schädel nur auf einem Foto - den echten darf mir Frau von Briskorn nicht zeigen, obwohl wir nur Audioaufnahmen machen. Sie sagt, die Ahnen-Schädel seien mit so viel Bedeutung aufgeladen, dass sie damit extrem vorsichtig umgehen müssen. Dazu kommen wir später noch. Ich find das gut so. Nicht, weil ich kein Interesse daran hätte die Ahnenschädel zu sehen, sondern einfach weil ich finde, dass ich als Journalistin, ohne persönlichen oder spirituellen Bezug zu diesen Schädeln kein Recht darauf habe sie zu sehen.

Um besser zu verstehen, was genau es mit den Ahnenschädeln auf sich hat, rufe ich Dr. Michael Mel an. Er ist Forscher und Künstler in Papua-Neuguinea.

Michael Mel: Hello.

Helen: Hello. Hi. Good morning.

Michael Mel: Good afternoon.

Michael Mel lebt gerade mit seiner Familie gemeinsam in Mount Hagen. Das ist die Hauptstadt der Provinz Western Highlands, im Inneren von Papua-Neuguinea. Die Stadt ist übrigens nach dem ehemaligen Landeshauptmann der deutschen Kolonie Neuguinea Curt von Hagen benannt.  Papua-Neuguinea liegt im Pazifik, oberhalb von Australien. Das Land umfasst den Osten der Insel Neuguinea und mehrere hunderte Inseln.

HelenWell, thank you very much for taking the time to talk to me right now and today. And we have a big time difference. What time is it in Papua New Guinea right now?

Michael Mel: It's a little after 5 p.m. on Thursday.

Helen:On Thursday. Okay. We also have Thursday also. You're ahead of us.

Michael Mel: Yeah, that's correct.

Michael Mel und ich haben uns wegen der Zeitverschiebung für ein Telefonat früh am Morgen verabredet. Bei ihm ist es schon nachmittags. Es regnet und man hört im Hintergrund Kinder im Regen spielen. Immerhin sind es um die 30 Grad im Mai, tropisches Wetter in den Highlands.

Helen: Okay, if you don't mind, I would really like to dive into the topic right away, if that's fine for you.

Zu Papua-Neuguinea gehören mehr als 700 Volksgruppen. Und es werden auch über 700 Sprachen gesprochen. Ein Großteil der Schädel im Übersee-Museum kommt aus der Sepik-Region. Der Sepik ist der längste Fluss der Insel Neuguinea und gehört zu den größten Flusssystemen der Welt.

Michael Mel stellt zu Beginn klar, dass er nicht für „die eine Community“ aus Papua-Neuguinea sprechen kann. Sondern eben nur für seine:

Michael Mel: I'm speaking on the lens of the Moge. (…) I do not want to pretend that I'm an expert from the Sepik. I will do my best to advocate for the Sepik communities in their ancient histories and their stories and the mythologies that feed to their communities of today in this epic.

(Übersetzung: Ich spreche durch die Brille der Moge. (...)Ich will nicht so tun, als wäre ich ein Experte des Sepik. Ich werde mein Bestes tun, um für die Sepik-Gemeinschaften einzutreteten mit ihren Geschichten und den Mythologien, von denen sie bis heute zehren.)

Und diese Unterscheidung der Communities ist ein wichtiger Punkt und man muss genau hinschauen wenn man die Herkunft von Kulturgütern erforschen will. In Papua-Neuguinea haben viele Communities Ahnenschädel von ihren Verstorbenen angefertigt. Der Ahnenschädel, den wir hier eben beschrieben haben, ist von Menschen der Iatmul hergestellt.  Ca. 10.000 Menschen zählen heute zur Community der Iatmul.

Auch für Michael Mel hat diese Tradition in seiner Kindheit noch eine große Rolle gespielt:

Michael Mel: As a child growing up in the Highlands, in Mahogany, in my village, there were particular places that were very significant to us and there were spiritual places, spiritual in the sense that they provided for us a connection to our land, to our ancestry, to our history and human remains. Some of those human remains of leaders and elders of the past were buried in those places.

(Übersetzung: Als ich Kind war in den Highlands, in Mahogany, meinem Dorf, da gab es bestimmte Orte, die für uns sehr bedeutsam waren. Und es waren spirituelle Orte, spirituell in dem Sinne, dass sie für uns eine Verbindung zu unserem Land, zu unseren Vorfahren, zu unserer Geschichte und zu menschlichen Überresten waren. Einige dieser menschlichen Überreste von Führern und Ältesten aus der Vergangenheit wurden an diesen Orten begraben.])

Aber es sind, wie gesagt, nicht einfach Schädelknochen. Auf die echten Schädelknochen wurde Ton aufgetragen, um darauf die Gesichtszüge der Verstorbenen zu modellieren.

 Helen: Why were these skulls decorated? Whats the reason for that? // Warum wurden die Schädel denn dekoriert?

Michael Mel: (…) On the basis of decomposition, things would have happened where some aspects of those heads are no longer there. So in order to give those objects a sense of place and connection, those that were living needed to give them a connection and the relationship and a bond between the communities that are living and those that are now a part of our spiritual life, if you like, or of a part of our community, but are no longer physically present.(…)

(Übersetzung: (...) Einige Elemente dieser Köpfe wären zersetzt worden und verloren gegangen. Also mussten die Lebenden ihnen eine Verbindung schaffen - eine Verbindung zwischen den Lebenden Communities und denjenigen, die jetzt ein Teil unseres spirituellen Lebens sind. Die Teil unserer Gemeinschaft sind, aber nicht mehr physisch präsent (...)

Helen: Whose human remains were kept? Can I just imagine that a family would, when the great grandfather for example would pass, decorate this person's skull and just keep it? Or were it specific people that were picked out for their remains to be kept?

(Übersetzung: (...) Wessen menschliche Überreste wurden aufbewahrt? Kann ich mir das so vorstellen, dass eine Familie, wenn zum Beispiel deren Urgroßvater verstorben ist, den Schädel dieser Person dekoriert und einfach aufbewahrt hat? Oder wurden bestimmte Personen ausgewählt, deren Überreste aufbewahrt werden sollten?)

Michael Mel: Um. Yeah. Sometimes it depends on the kind of status and the kind of people that were held. For example, people that were esteemed to be great leaders, great wisdomn and insight, who achieved greatness through the kinds of things that they did.

(Übersetzung: (...Ähm, ja. Manchmal hängt es von der Art des Status ab, den sie hatten. Leute zum Beispiel, die für ihre Weisheit und Erkenntnis als große Führer geschätzt wurden, die durch ihre Taten Größes erlangten.

Es ging also darum, den Menschen Ehre und Respekt zu erweisen. Sie nicht nur zu begraben, sondern eben an ihre Größe zu erinnern.

Daher haben auch nur ausgewählte Menschen aus den Communities die Ahnenschädel angefertigt und dekoriert.

Michael Mel: It would have been done specifically by those that were anointed and those that had a deeper sense of the community and the history and the heritage. And those were the connected with those that were no longer physically present, but who were related and connected with those people. That was very important.

(Übersetzung: Dies geschah vor allem durch auserwählte Menschen und diejenigen, die einen tieferen Sinn für die Gemeinschaft, die Geschichte und das Erbe hatten. Und die, die eine Verbindung hatten zu den physisch nicht mehr Anwesenden. Das war sehr wichtig.)

Durch die Ahnenschädel bleiben die Menschen also in Verbindung mit den Verstorbenen. Bei den Iatmul läuft das Ritual so ab: Wenn eine Person stirbt, wird sie am folgenden Morgen begraben. Die Art der Zeremonie hängt vom Status und Einfluss der Person ab, das hat Michael Mel ja schon erklärt. Einige Zeit nach der Beerdigung wird das Grab bestimmter Personen wieder geöffnet und der Kopf vom Körper abgetrennt. Danach wird dann das Gesicht so rekonstruiert, dass es wieder aussieht wie die verstorbene Person.

Michael Mel erklärt mir, dass dieser Umgang mit den Ahnen, mit dem Tod, auch seine Einstellung zum Leben stark beeinflusst:

Michael Mel: when I've been to school our education has taught me that the future is unknown. You have to navigate it and find out what the future is. The past is past that your history. Whereas in my context, the past is in front of me. My ancestors are in front of me. They are guiding me all the time. They're helping to navigate my life. So everything that I do must be in relation to those ancestors. I cannot now deny them. I cannot now hide them.

(Übersetzung: In der Schule habe ich gelernt, dass die Zukunft unbekannt ist, dass du sie lenken musst und rausfinden musst, wo die Zukunft liegt. In meinem Kontext dagegen liegt die Vergangenheit vor mir. Meine Vorfahren sind vor mir. Sie leiten mich die ganze Zeit über. Sie helfen mir, mein Leben zu lenken. Alles, was ich tue, muss also in Bezug zu diesen Vorfahren stehen. Ich kann sie heute nicht verleugnen. Ich kann sie nicht verstecken.)

Die Frage danach, was nach dem Tod passiert und wie wir mit dem Tod umgehen, beschäftigt uns ja alle irgendwie. Die Art und Weise, wie bestimmte Volksgruppen in Papua-Neuguinea eine Antwort auf diese Frage gefunden haben, finde ich sehr rührend. Sie stehen mit ihren verstorbenen Angehörigen in Verbindung, und wenn jemand stirbt, ist das keine keine Trennung.

Auch wenn Michael Mel selbst noch Erinnerungen hat, wie diese Tradition gelebt wurde - heute ist sie nicht mehr so präsent:

Michael Mel: Of course, with colonization, many of those practices have been dismantled. Abandoned. The influence of government, the influence of the church, all of these things have had an impact.

Übersetzung: Natürlich wurden mit der Kolonisierung viele dieser Praktiken abgeschafft. Sie wurden aufgegeben. Der Einfluss der Regierung, der Einfluss der Kirche, all diese Dinge hatten Auswirkungen.

MUSIKBEAK

Hattet ihr auf dem Schirm, dass Papua-Neuguinea mal deutsche Kolonie war? Als ich von den Ahnenschädeln im Bremer Überseemuseum gehört habe, hat es irgendwo bei mir geklingelt. Aber wenn man mich davor nach ehemaligen deutschen Kolonien gefragt hätte, wäre ich eher nicht auf Deutsch-Neuguinea gekommen. Ich finde es echt absurd, wie wir hier Abitur machen können ohne auch nur einmal davon mir Geschichtsunterricht gehört zu haben. Deshalb hier eine kleine Nachhilfestunde:

Hermann Mückler: Im 19. Jahrhundert haben gleich eine ganze Anzahl europäischer Mächte nach Übersee ausgegriffen. Das hat natürlich primär ökonomische Gründe gehabt, aber eben auch machtpolitische. Und auch das Deutsche Reich nach seiner Gründung 1871 hat dann sehr schnell versucht, den Briten und Franzosen nachzufolgen und eben hier auch Kolonien in Übersee zu erwerben.

Dr. Hermann Mückler ist österreichischer Ethnologe, Historiker und Politikwissenschaftler, und hat sich ziemlich viel mit Ozeanien, also der Inselwelt des Pazifiks beschäftigt. Er sagt, die Geschäftsleute waren damals scharf auf das sogenannte „Gold der Südsee“, das Kopra. Also getrocknetes Fruchtfleisch von Kokospalmen, das man in Europa dann zu Speisefett, Kokosöl und Seife verarbeitet hat. Die Firmen, die das auf Plantagen auf den Südseeinseln angebaut haben, waren die Wegbereiter der deutschen Kolonialgebiete.

Anfang der 1880er Jahre wird in Berlin eine Gesellschaft gegründet, mit der Aufgabe Kolonialbesitz in der Südsee zu erwerben: Die Neuguinea-Kompagnie. Um die Jahreswende 1882/83 führen deutsche Truppen eine sogenannte Strafexpedition auf der Luf-Insel durch, zerstören Hütten und Boote und ermorden Teile der Bevölkerung - wie viele Menschen gestorben sind, ist bis heute nicht bekannt.

Kurzer Einschub: Wir haben in den vergangenen Folgen schon über das Wort gesprochen - das Wort Strafexpedition tut so als ob jemand für schlechtes Verhalten bestraft wurde, Strafexpeditionen waren Invasionen, die gewaltvoll verlieren und oft mit Mord, Raub und Zerstörung einhergingen.

Wenige Jahre später bekommt die Kompagnie einen sogenannten kaiserlichen “Schutzbrief” und damit Hoheitsrechte für bestimmte Gebiete zugesprochen.

Hermann Mückler: Also auch die deutsche koloniale Einflussnahme in Ozeanien war genauso eine in großen Teilen auch von Gewalt geprägte Geschichte, so wie es bei den Briten und den Franzosen und anderen europäischen Kolonialmächten der Fall war.

1899 übernimmt das Deutsche Reich das von der Kompagnie verwaltete, damals sogenannte kaiserliche Schutzgebiet in Ozeanien und es wird zur Kolonie Deutsch-Neuguinea. Ein weiteres Beispiel für die Gewalt gegenüber der einheimischen Bevölkerung ist der Aufstand der Sokeh im Jahr 1910, auf den die Deutschen mit einer großen Militäraktion reagieren, Todesstrafen verhängen und Hunderte Sokeh auf eine andere Insel verbannen.

Hermann Mückler: Also die koloniale Einflussnahme, die ja natürlich nicht nur Einflussnahme auf ökonomischer Seite war, sondern durch die auch vor Ort agierenden Missionare vor allem ja auch eine neue Religion diesen Menschen gebracht hat und damit wesentlich dazu beigetragen hat, das überlieferte, über viele Generationen weiter tradierte Praktiken, Rituale, Kulte, religiöse Vorstellungen der Indigenen damit zum Verschwinden gebracht worden sind.

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges endete die deutsche Kolonialisierung Papua-Neuguineas. Dann besetzten australische Truppen Teile des Landes.

MUSIKBREAK

Bremen hat übrigens zu den Städten gehört, die am stärksten in den deutschen Kolonialismus verwickelt waren. Eben weil es eine wichtige Hafenstadt war. Für viele Kaufleute in Bremen war der Handel mit Kolonialwaren ein gutes Geschäft. Baumwolle, Kaffee und Tabak aus den Kolonien kamen hier an. Und das Übersee-Museum stammt auch aus dieser Zeit. Es wurde 1896, also in der Hochphase des deutschen Kolonialismus, gegründet. „Städtisches Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde“ hieß es damals.  Die Nazis haben es 1935 dann umbenannt in „Deutsches Kolonial- und Überseemuseum“.  Es wurde für Nazi Propaganda instrumentalisiert, zum Beispiel um die Idee zu stützen, dass Deutschland Kolonien braucht.

Seitdem hat sich in dem Museum einiges getan. Vor allem der ehemalige Direktor Herbert Ganslmayr hat eine kritische Auseinandersetzung des Museums mit seiner kolonialen Vergangenheit geprägt. Die heutige Direktorin, Dr. Wiebke Ahrndt, sieht sich in seiner Tradition.

Wiebke Ahrndt: Herbert Ganslmayr war zehn Jahre lang Direktor des Museums Bremen, ist bekannt geworden für eine Publikation „Nofretete will nach Hause“ und hat in der Zeit eine Rückgabe-Debatte mit angestoßen. Ja, das glaube ich, bringt es ganz gut auf den Punkt. Man muss dazu sagen, dass das Museum seine erste Rückgabe bereits 1954 getätigt hat.

Die Nofretete haben wir im Podcast auch schon thematisiert, in Folge 1 erzählen wir ihre Geschichte. Das Übersee Museum in Bremen hat sich also im Vergleich zu anderen schon früh mit Restitution und Rückgabe beschäftigt. In anderen Folgen dieses Podcasts wird aber deutlich, dass sich die meisten Museen bis vor wenigen Jahren noch vor Rückgaben gesperrt haben.  Herbert Ganslmayr wird deshalb auch der Whistleblower der deutschen Rückgabe-Debatte genannt.  Er war der erste deutsche Museumsdirektor, der offen Rückgaben von Kulturgut gefordert hat.  Damit hat er sich damals in der deutschen Museumswelt nicht wirklich Freund:innen gemacht.

Heute setzt sich das Übersee-Museum kritisch mit seinen Sammlungen auseinander. Viele Mitarbeitende bemühen sich die koloniale Vergangenheit des Museums und die der Stadt Bremen aufzuarbeiten.

Bettina von Briskorn führt mich ein bisschen durchs Museum:

Bettina von Briskorn (laufen rum, beschreibt Museum): Also hier sind Objekte gezeigt. Vom Sepik und der Sepik hat die Deutschen, aber auch andere Westler wahnsinnig fasziniert. Einfach aufgrund der Gestaltung der Alltagsgegenstände, aufgrund der Gestaltung von Masken.

Auch viele der Ahnenschädel stammen vom Sepik. Bei ihren ersten Expeditionen in den 1880ern taufen die Deutschen den Sepik Kaiserin-Augusta-Fluss. Kaiserin Augusta war die Ehefrau von Kaiser Wilhelm, dem ersten. Nach ihm wird in der Zeit auch ein Teil der Insel Neuguinea benannt - diese kolonialen Namen tauchen hier noch mehrmals auf.

MUSIKBREAK

Wie kamen die Ahnenschädel vom Sepik nach Deutschland? Wer hat sie mitgenommen und warum überhaupt?

Bettina von Briskorn hat dazu in den letzten Jahren viel recherchiert.

Bettina von Briskorn Was ich mache, ist, dass ich zunächst im Museum selber gucke Was haben wir an Unterlagen, was haben wir an, an Quellen, wie wir so schön sagen? Gibt es alte Briefwechsel, gibt es alte Notizzettel wie hier zum Beispiel, da haben Sie, haben wir Listen, (RASCHELN) die zu dieser Sammlung gehören, über die wir sprechen. Ich hatte ja gesagt, diese Schädel sind mit vielen anderen Dingen, mit Masken und anderen Dingen ins Museum gelangt.

Wir gehen zusammen durch ihre Unterlagen:

Bettina von Briskorn Ah ja hier haben wir einen... (liest) "aus Ton modellierter Schädel" Genau. Wir haben hier also eine Liste. Alt und aber doch faszinierend. Kaiserin Augusta Fluss steht drüber. Und dann haben wir hier zum Beispiel...

Wichtige Hinweise liefert ein gewisser Albert Buell Lewis, auch A. B. Lewis genannt. Durch seine Aufzeichnungen wissen wir, wie die Schiffsfahrt ablief, bei der die besagten 125 Schädel aus Papua-Neuguinea im heutigen Bremer Überseemuseum gelandet sind.

TRENNER TON
A.B. Lewis arbeitet für das Naturkundemuseum in Chicago und ist 1910 auf Feldforschung in der deutschen Kolonie unterwegs. Aber er wird als amerikanischer Forscher nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Das hat er seinem Kollegen Georg A. Dorsey zu verdanken, der einige Zeit vorher nach Deutsch-Neuguinea gereist war.

Bettina von Briskorn George Dorsey war freundlich empfangen worden. Alle hatten ihn unterstützt, die ganzen Deutschen, die da waren, die Missionare und die Kolonialbeamten. Und die haben gesagt: Reisen Sie mal rum und gucken Sie sich um und wir helfen Ihnen. Man muss sich ja klar machen, dass man nicht einfach von hier nach dort reisen konnte. Dass man eine Mitfahrgelegenheit vielleicht auf einem Dampfer brauchte, dass man mal eine Unterkunft brauchte mit Hilfe von Missionaren oder auf einer Plantage sich aufgehalten hat.

Dorsey kann also mit Hilfe der Deutschen rumreisen und forschen. Zurück in Chicago setzt er sich hin und schreibt einen Bericht über seine Reise durch Deutsch-Neuguinea.

Bettina von Briskorn: Er hat also geschrieben: „Die Deutschen, die haben die Kolonie nicht richtig, die verwalten die nicht richtig und die saufen so viel. Und überhaupt ist das ein einziges Chaos.“ Er hat sich hergemacht über, hat gelästert über die Deutschen und hat wohl angenommen, wenn das in Chicago publiziert wird, gelangt das nicht in die Südsee

Aber, das scheint auch damals nicht anders als heute gewesen zu sein: Gossip spricht sich schnell rum. Und die Deutschen sind ziemlich empört, dass jemand so schlecht über ihre koloniale Verwaltung spricht. Jedenfalls will deshalb keiner von den Deutschen A.B. Lewis auf seinem Boot mitnehmen.

Bis er Kapitän Störmer trifft. Störmer ist neu auf dem Schiff Sia und hat von dem ganzen Ärger nichts mitbekommen. In einem Brief vom 7. September 1910 schreibt Lewis:

Brief-Zitat männl Stimme: By a lucky chance I was able to get up the K.A. (Anmerkung Redaktion: Kaiserin-Augusta) river. The head of the New Guinea Co. [Heine] had refused me permission to go in their steamer, the Siar. (This was after Dorsey’s article came out, before that I had been invited to go.) I got up the coast in a mission boat and then chartered the small cutter of the only independent planter in New Guinea. I was beginning to wonder how under the shining heavens I was going to get back to Fr. Wh. Hafen, when along came the Siar with a new captain. (...) He had apparently received no instructions regarding me, I tackled him for a ride back to Fr. Wh. Hafen. I had heard that he intended to go up the river on his return from up coast.”

Übersetzung: Durch einen glücklichen Zufall gelang es mir, den K.A. (Anmerkung Redaktion: Kaiserin-Augusta) Fluss hinaufzufahren. Der Leiter der Neuguinea-Gesellschaft [Heine] hatte mir die Erlaubnis verweigert, mit ihrem Dampfer, der Siar, zu fahren. (Das war nach dem Erscheinen von Dorseys Artikel, davor war ich eingeladen worden, mitzufahren). Ich fuhr mit einem Missionsboot die Küste hinauf und charterte dann den kleinen Kutter des einzigen unabhängigen Pflanzers in Neuguinea. Ich begann mich zu fragen, wie um Himmels Willen ich zurück nach Friedrich Wilhelmshafen kommen sollte, als die Siar mit einem neuen Kapitän ankam. (...) Da er anscheinend keine Anweisungen in Bezug auf mich erhalten hatte, nahm ich ihn mir vor für eine Fahrt zurück nach Friedrich Wilhelmshafen. Ich hatte gehört, dass er bei seiner Rückkehr von der Küste flussaufwärts fahren wollte.

Bettina von Briskorn Und Lewis triumphiert innerlich und freut sich. Er kann tatsächlich diese Fahrt auf dem Sepik machen, die für ihn wahnsinnig wichtig war, (ich hab es ja vorhin schon betont, der Sepik, das war total spannend für die Ethnologinnen und Ethnologen damals). Und er kann dort auch sich das ein bisschen anschauen.

Kapitan Störmer ist für die Neuguinea-Kompagnie unterwegs. Ihr erinnert euch: Die Vertreter deutscher Wirtschaftsinteressen im Pazifik, die die Kolonie mitbegründet haben.

Eigentlich will Störmer bei dieser Schifffahrt Arbeiter für seine Plantage anwerben, aber offenbar will niemand für ihn arbeiten.

39 Brief-Zitat einlesen: „The captain was trying to get native laborers, and on the way up would not allow me to buy anything, but on the way down he concluded to buy himself, and gave me permission to do likewise. I got nearly 300 specimens on the river all together [...]. The captain got about 1.000 but he made the whole crew work for him [...].”

Übersetzung: "Der Kapitän versuchte, einheimische Arbeiter zu bekommen, und auf dem Weg nach oben wollte er mir nicht erlauben, etwas zu kaufen, aber auf dem Weg nach unten beschloss er, selbst zu kaufen, und gab mir die Erlaubnis, das gleiche zu tun. Ich habe auf dem Fluss insgesamt fast 300 Exemplare bekommen [...]. Der Kapitän bekam etwa 1.000, aber er ließ die ganze Mannschaft für sich arbeiten [...]."

Zu den 1000 Exemplaren, die der Kapitän mitnimmt, gehören nicht nur Schädel. Das sind unter anderem auch Trommeln, Tontöpfe und Paddel.

Statt also Arbeiter anzuwerben, fängt der Kapitän an, alles mögliche zu sammeln. Er will ja nicht mit ganz leeren Händen zurückkommen.

Bettina von Briskorn Und dieses Sammeln, das muss man sich so vorstellen. Und das ist wirklich ganz typisch, gerade im ozeanischen Raum, aber gerade hier im Raum Papua Neuguinea, also wenn wir von Deutsch Neuguinea sprechen. Es ist der Handel über die Reling, das heißt, die Leute verlassen gar nicht mal das Schiff, sondern die Menschen, die dort leben am Fluss, kommen mit ihren Kanus, mit ihren Booten an das Schiff heran und bieten Sachen an, Masken oder Tontöpfe, das was sie denken, was gut im Austausch wäre gegen in der Regel Tabak, Äxte, Messer, vielleicht auch Glas, Perlen

Messer und Waffen sind damals hoch im Kurs in Deutsch-Neuguinea. Denn Metalle wurden tatsächlich erst mit den Kolonien in den ozeanischen Raum gebracht. Sie waren also begehrte Ware.

Bettina von Briskorn Was man sich auch klar machen muss Diese Fahrt findet auch nur einige wenige Tage statt. Das ist glaube ich knapp eine Woche, die die beiden zusammen den Sepik rauf und runter unterwegs sind mit ihrer Mannschaft auf der Sia.

Und zwar vom 8. bis zum 16. August 1910. Nur 10 Tage später stirbt der Kapitän Störmer. Sein eigentlicher Plan, nämlich die Schädel in Europa weiterzuverkaufen, geht nicht auf. Darüber ist auch A.B. Lewis nicht so erfreut:

Brief-Zitat eingelesen: „The captain promised to sell me some of his best specimens, but the poor man died a few days after our return, and as everyone else is hostile to me and the Museum, I have no hopes of being able to get anything more.”

Übersetzung: "Der Kapitän hat versprochen, mir einige seiner besten Exemplare zu verkaufen, aber der arme Mann ist ein paar Tage nach unserer Rückkehr gestorben, und da alle anderen mir und dem Museum feindlich gesinnt sind, habe ich keine Hoffnung, noch etwas zu bekommen."

Recht hat er: Das beste Sammlungsgut von Störmer ist anderswo gelandet: Nämlich im Übersee-Museum, über Umwege:

Bettina von Briskorn Für seine Witwe wird Geld gesammelt, er ist begraben auf Neuguinea und sein Arbeitgeber, die Neuguinea-Kompagnie, die entscheidet sich, das, was er da gesammelt hat, eben zu veräußern. Und es gibt dieses Angebot, von dem das Museum offensichtlich Kenntnis erlangt. Und dann wird eben der Mäzen, Herr Herbst, herbeigeholt, der diese Sammlung erst mal kauft und sie dem Museum als Leihgabe überlässt,

Herr Herbst war Zahnarzt und förderte mit seinem Geld die Kunstszene.

Aber warum ist das Museum zu der Zeit so scharf auf diese Objekte aus der Kolonie - und vor allem auch die Schädel? Hermann Mückler ordnet uns das nochmal ein:

Hermann Mückler: Wenn wir das 19. Jahrhundert betrachten, dann können wir fast von einer Schädel-Manie in Europa sprechen. (…)

Es wurden hunderte Schädel mitgenommen, um Messungen mit ihnen zu machen. Zu angeblichen wissenschaftlichen Untersuchungen wurden sie nach Deutschland geschickt. Nach der rassistischen Rassenlehre wollte man damit Unterschiede zwischen Menschen ablesen. Das ging aber an unbearbeiteten Schädeln und Knochen am besten. Wieso also die gestalteten Ahnenschädel mitnehmen?

Hermann Mückler Also allein diese damit in Verbindung stehenden Rituale und Zeremonien waren daher für die Europäer, die dort hinkamen und diese Dinge sich erzählen ließen, natürlich von großem Interesse. Und zu diesen Geschichten gehörten natürlich die Objekte, das heißt Geschichte plus Objekt zusammen. Das war dann etwas, was dann die Händler zum Beispiel den ethnologischen Museen in Deutschland dann auch verkaufen konnten

Man wollte also nicht nur die Menschen erforschen und im Museum ausstellen, sondern auch ihre Kultur. Indem ein paar Trommeln und Töpfe in die Museen gestellt wurden, dachte man, man hätte die vermeintlich primitive Kultur verstanden und das hat ganz perfekt in das damalige rassistische Weltbild gepasst.

Bettina von Briskorn Denn die Idee ist ja auch: Der Kolonialismus verändert die Kulturen. Das Kulturgut ist nicht mehr das, was es ursprünglich war. Es muss also im Original eigentlich in den deutschen Museen landen. Und wenn ich nicht schnell genug bin, dann, dann habe ich nur noch Dinge, die unter europäischem Einfluss entstanden sind. Und das ist ja nicht das, was die Ethnologie sammeln möchte

Das ist einfach so absurd: Die Kolonialisten wissen, dass sie die Kultur der lokalen Bevölkerung zerstören. Und gleichzeitig wollen sie die Traditionen und Kulturgüter so unberührt wie möglich konservieren, um sie anzustarren und sich daran zu ergötzen.

MUSIKBREAK

Aber:Sind die Ahnenschädel deshalb Raubgut? Nach all dem, was wir jetzt von der Schifffahrt gehört haben, klingt es nach einem Tauschgeschäft. Davon geht auch Bettina von Briskorn aus.

Bettina von Briskorn Wir gehen in der Mehrzahl der Fälle einfach heutzutage davon aus, dass aktuell ist bei den ganzen Recherchen, dass diese übermodellierten Schädel in aller Regel einfach eingetauscht wurden. 

Aber Michael Mel erklärt uns auch, dass die Bevölkerung sich bedroht gefühlt hat, von den Kolonisatoren:

48 Michael MelThe time that the first Europeans arrived here, they came with guns, and when they fired a gun, it scared the daylights out of people. It scared them shitless, so to speak. Sorry. I beg your pardon. It scared them and the gun became powerful.

Übersetzung:  Als die ersten Europäer hierher kamen, hatten sie Gewehre dabei, und wenn sie ein Gewehr abfeuerten, hatten die Leute eine Heidenangst. Es hat sie zu Tode erschreckt, wenn man so will. Entschuldigen Sie bitte. Ich bitte um Verzeihung. Es hat sie erschreckt und die Waffe wurde mächtig.

Nach einem Tausch auf Augenhöhe klingt das nicht. So schätzt das auch der Ethnologe Hermann Mückler ein:

Hermann Mückler: Die Unternehmer und Händler waren da durchaus auch sehr skrupellos und haben dadurch dann aber auch sehr exklusive Objekte und zwar auch sehr sensible Objekte (bekommen). Und dazu zählen natürlich auch vor allem menschliche, also Objekte, die Menschen, Teile von Menschen aus Teilen von Menschen bestanden haben

Musikbreak

Die Ahnenschädel sind in einem kolonialen Kontext aus dem Land gebracht worden, in einer Situation, wo man nicht von gerechtem Handel sprechen kann. Aber in Deutschland hat das lange Zeit anscheinend niemanden gestört.

Helen: Was ist denn passiert mit den Schädeln, seit Sie in die Sammlungen dieses Museums gekommen sind?

Bettina von Briskorn Also, sie sind sofort ausgestellt worden mit den anderen Stücken, die zur Sammlung gehörten. (…)Also die sind relativ für damalige Verhältnisse relativ spektakulär präsentiert worden, und die sind lange ausgestellt worden.

(…)

Und diese Schädel sind aber auch hier im Museum noch in der nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt worden. Und wir kennen auch historische Fotos, wo man sehr schön erkennen kann, dass sie sich in der Vitrine befinden oder gar, dass der damalige Museumsdirektor einen in die Hand nimmt und einem Gast zeigt…

Heute liegen sie im Archiv des Museums. Jeder hat seinen eigenen Karton, sie sind in Seidenpapier eingebettet und haben ihren abgetrennten Bereich. Wiebke Ahrndt, die Direktorin des Museums, ist sich der großen Verantwortung bewusst.

Wiebke Arndt: Und es ist eben auch sichergestellt, dass nicht aus Versehen plötzlich andere Wissenschaftler oder womöglich auch Handwerker plötzlich vor vor den Schädeln stehen.

Jetzt, wo ich noch mehr über die Bedeutung der Ahnenschädel gelernt habe, finde ich es noch besser, dass sie uns als Presse nicht einfach so gezeigt werden, weil wir daran Interesse haben.

56 Wiebke Ahrndt: Die Ahnen-Schädel sind das berührendste Gut, das wir bei uns in unserem Hause haben. Denn sich zu vergegenwärtigen, dass sie... Dass sie beseelt sind, dass ich also nicht lediglich einen Knochen vor mir habe. Es ist etwas, was emotional berührt, auch zu erfahren, welche Kraft in ihnen wohnt, weshalb sie ja so sensibel sind und weshalb es auch so schwierig ist, darüber zu entscheiden, was ich mit ihnen darf oder nicht darf oder ob sie denn nun eigentlich nach Neuguinea zurückgehen werden oder nicht vielleicht am Ende doch im Übersee-Museum verbleiben werden, weil sie hier dann in der Ansicht der Herkunftsgesellschaften vielleicht besser und sicherer aufbewahrt sind.

Dieser Ausdruck “Sicherer Aufbewahrt” hat mich irritiert. Oft hab ich das gehört, deutsche Museen argumentieren, die Objekte seien ja hier sicherer als in den Herkunftsländern, aber das meint Frau Ahrndt gar nicht.

57 Wiebke Arndt: Ich meine sicher nicht im Sinne, dass wir hier besser aufpassen und sie dort verloren gehen könnten oder so etwas. Das käme mir überhaupt nicht zu. Das geht uns auch nichts an, das haben die Menschen in Neuguinea selbst zu entscheiden, sondern sicher in dem Fall, als das in den Ländern den Ahnenschädeln  eine große Kraft innewohnt. Und diese Kraft kann auch zerstörerisch sein und kann Menschen Schaden zufügen, wenn sie sich eben nicht in adäquater Weise mit den Schädeln umgehen oder sie überhaupt eigentlich nicht autorisiert werden, mit ihnen umzugehen. Und so gesehen kann es in den Augen einzelner Herkunftsgesellschaften sicherer sein, sie bleiben dort, wo sie jetzt schon seit über 100 Jahren sind.

Die Idee ist also die Schädel im Museum aufzubewahren, damit sie keinen Schaden anrichten. Das ist eine interessante These. Das Museum ist in Kontakt mit Menschen in Papua-Neuguinea um jeden kleinen Schritt abzustimmen und zu fragen, was sie mit den Ahnenschädeln machen sollen.

Ich frage Michael Mel, was er davon hält und welche Meinungen ihm in Papua-Neuguinea begegnen. Er kann dieser Einschätzung der Direktorin nicht komplett zustimmen. Tatsächlich gibt es einige Menschen in Papua-Neuguinea, die eine Rückgabe fordern. Ihnen geht es um Deutungshoheit:

Michael Mel: : Whose story are you trying to tell us? Are you now saying that you owned them? I think there's a power in the sense of control about these things. You want to tell the narrative? Whose narrative are you telling and from whose perspective? Hang on a minute. They're not your stuff. So, therefore, why waste your time telling our story? Come on. You justify your own existence or your power and sense of control about us on our terms? Please.

Übersetzung: Wessen Geschichte wollt ihr uns erzählen? Wollt ihr damit sagen, dass sie euch gehören? Ich denke, dass das Gefühl der Kontrolle über diese Dinge eine gewisse Macht ausübt. Ihr wollt die Geschichte erzählen? Wessen Geschichte wollt ihr erzählen und aus wessen Perspektive? Wartet mal. Das sind nicht eure Sachen. Warum verschwendet ihr also eure Zeit damit, unsere Geschichte zu erzählen? Kommt schon. Ihr rechtfertigt eure eigene Existenz oder eure Macht und euer Gefühl der Kontrolle über uns zu euren Bedingungen? Ich bitte euch.

Michael Mel sagt, dass ihm viele sagen, dass sie finden, ein Museum in Papua Neuguinea könnte besser auf die möglichen Nachfahren eingehen und die genaue Herkunft bestimmen. Oder zumindest adäquater deren Geschichte erzählen, als es ein Museum in Deutschland kann.

Michael Mel selbst sieht eine Rückgabe schon als Option, aber nur als die halbe Lösung. Er findet, dass die Schädel im Museum als Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit dienen können. Wenn sie also hier bleiben, sieht er Deutschland gezwungen seine koloniale Geschichte zu thematisieren:

 Michael Mel: On the other hand, if they're still in Germany, then I think we can begin to look at we have a shared history, for better or worse. Sometimes it's good to look at the negative, to be able to see the positive. You can't always look at the good and say that we were great. I think you have to look at the negative. And some of the negatives were: They took things away from us and kept them there.

Vor allem hat das Museum die Aufgabe, die Ahnenschädel zu schützen und zu pflegen, findet Michael Mel. Gleichzeitig sollten die Mitglieder der Communities, aus denen dieses kulturelle Gut mitgenommen wurde, die Möglichkeit haben, mit den Ahnenschädeln im Museum zu interagieren, sie zu berühren und mit ihnen zu sprechen.

MUSIKBREAK

Die Vorstellung der Museumsdirektorin und die von Michael Mel gehen also auseinander. Also die Idee sie sicher aufzubewahren, weil von ihnen eine zerstörerische Kraft ausgehen könnte. Und die Idee, dass die Mitglieder der Communities sehr wohl Zugang zu ihnen haben sollten.

Was eine Entscheidung zum richtigen Umgang gerade noch erschwert: Man weiß noch nicht genau, wer die Ahnen waren und wer die Ahnenschädel gefertigt hat. Und dadurch gibt es bisher niemanden, der direkt Anspruch auf sie erhebt und eine Rückgabe fordert. Und da stoßen wir in der Recherche noch auf eine ganz andere Perspektive:  Wer sagt überhaupt, dass es sich bei diesen Schäden wirklich um Ahnenschädel handelt, die von wichtigen Gemeindemitgliedern stammen? Wenn wir davon ausgehen, dass es ein Tauschgeschäft war, dann kann man sich natürlich fragen: Haben die Menschen tatsächlich die Schädel hergegeben, die ihnen so viel bedeutet haben? Oder haben sie die eigenen wertvollen beseelten Schädel behalten und für die Deutschen sozusagen fake Ahnenschädel angefertigt? Der Ethnologe Hermann Mückler hält das für möglich.

Hermann Mückler: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Also die Einheimischen waren ja auch nicht dumm und haben natürlich, genauso wie es die Europäer getan haben, natürlich hier ihre eigenen Vorteile gesucht. Und die haben sehr schnell gemerkt, wie interessiert die Europäer auf alle diese Objekte abgefahren sind und sie ihnen aus den Händen gerissen haben. Dass also man dann sehr schnell dazu übergegangen ist, gezielt diese Dinge zu produzieren, um sie den Europäern anzubieten und möglichst teuer zu verkaufen. 

Vielleicht sind die Schädel, die das Überseemuseum so sorgfältig hütet, doch nicht beseelt? Die Schweizer Ethnologin Christin Kocher Schmid hat sich lange mit übermodellierten Schädeln befasst.

Christin Kocher SchmidDas sind nicht alles Ahnenschädel. Es gibt sehr starke Indizien, nicht nur Vermutungen, sondern eine sehr informierte Vermutung, dass sehr viele dieser Schädel, übermodellierten Schädel keine Ahnen-Schädel sind. Von der betroffenen Bevölkerung also zum Verkauf hergestellt wurden, auf Basis von Kopfjagd-Opfern-Schädel auch von anderen Gruppen.

Sie hat in Gesprächen mit Menschen aus den Herkunftsgesellschaften zum Beispiel erfahren, dass teilweise gar keine echten menschlichen Schädel benutzt wurden:

Christin Kocher Schmid:  Und dann war der nächste Schritt, Man nahm die Bauchplatte von großen Schildkröten. Die sind ja rund oval. Und dann hat man darauf Gesichter modelliert und sie weiterverkauft.

Die Nachfrage war teilweise so groß, dass menschliche Schädel also gar nicht gereicht hätten:

Christin Kocher Schmid: Die Menge Schädel zu Hunderten. In den Museen der Welt.  So viele können gar nicht da gewesen sein.

MUSIKTRENNER


Sind die Schädel im Überseemuseum Bremen echte Ahnenschädel - oder vielleicht doch nur Attrappen? Das untersucht die Anthropologin Swantje Grohmann. Sie führt CT-Scans an den Schädeln durch, also Aufnahmen durch Computertomografie. Sie zeigt mir einige dieser Scans:

Helen: Okay Frau Grohmann, was sehen wir gerade?

Swantje Grohmann Wir haben hier eine CT Aufnahme. Eines der Schädel aus der Sammlung, die übermodelliert sind mit Lehm bzw teilweise auch mit Wachs. Und wir sehen hier einen Schnitt durch die Mittelachse des Schädels

Wir sehen also einen Querschnitt. Es ist eine schwarz-weiß-Aufnahme, auf der wir die Umrisse des detailliert modellierten Gesichts sehen und darunter: die Umrisse eines Schädels. Durch diese draufgeformte Schicht, kann Frau Grohmann nicht die anthropologischen Methoden anwenden, die sie sonst nutzt, um zum Beispiel das Geschlecht zu bestimmen - dafür vermisst sie normalerweise den Schädel direkt. Hier liegen die Originalknochen aber unter der Tonschicht. Und im CT erkenne auch ich:

das ist wirklich ein menschlicher Schädel, kein Schildkrötenbauch.

Swantje Grohmann Und wir können hier dann schon erkennen, wie die Knochenstruktur sich hier ausprägt. Im Bereich jetzt hier der Stirnregion können Sie zum Beispiel erkennen, dass die sehr hervorstechend, hervorgehoben ist. Und ja, das ist ein Kriterium, was wir jetzt zum Beispiel für die Geschlechtsdiagnose schon heranziehen könnten.

Um diese Bilder zu erstellen, die Swantje Grohmann mir hier zeigt, wurden die Schädel wie echte Patienten behandelt. Sie wurden dafür ausnahmsweise aus ihren Kartons im Archiv herausgeholt und in eine Klinik in Bremen gebracht. Da hat man sie auf eine Bahre gelegt und dann in eine Röhre zum Röntgen geschoben. Nur nach Rücksprache mit dem National Museum und der Art Gallery in Papua-Neuguinea.

Dank des CTs wissen wir jetzt: der Schädel unter der Tonschicht ist von einem Menschen, von einem Mann.

Aber: trotzdem können wir nicht sicher sagen, ob es nun wirklich das Abbild eines Ahnen ist, oder nicht.

Eine Seele kann man schließlich nicht messen.

MUSIK ABSPANN

So viel steht fest: Das Museum trägt eine riesige Verantwortung, solang die Schädel dort verwahrt werden. Die Gier der Kolonialmächte nach Kulturgütern war so groß, dass sie massenweise Objekte und auch menschliche Überreste aus Papua-Neuguinea und anderen Kolonien mitgenommen haben. Ohne wirklich genau hinzuschauen, worum es sich handelt. Und so sind die Ahnenschädel nur eins von vielen Beispielen, wo die Museen heute gar nicht genau wissen, womit sie es in ihren Sammlungen zu tun haben und wie sie sich dazu verhalten sollen. Die Schädel vom Sepik kamen nach heutigem Forschungsstand durch ein Tauschgeschäft nach Europa - aber ein Handel auf Augenhöhe, frei von Angst vor Gewalt, war das ganz bestimmt nicht.

OUTRO

Das war Akte: Raubkunst? über ein ganz besonders sensibles Kulturgut:  Ahnenschädel aus Papua-Neuguinea. Ich bin Helen Fares und ich hoffe ihr seid auch in der nächsten Folge wieder dabei. Da geht es um eine Statue, die eine Volksgruppe aus Kamerun als ihre Gründergöttin verehrt.

Wenn euch dieser Podcast gefällt, sagt es weiter und klickt auf abonnieren, damit ihr auch die nächsten Folgen nicht verpasst, und wenn ihr den Podcast jetzt erst entdeckt habt, dann hört doch gern mal in die ersten Folgen rein.

Akte: Raubkunst? ist eine Produktion von Good Point Podcasts im Auftrag von ARD Kultur. Die Autorin dieser Folge ist Helena Schmidt. Executive Producer und Redaktion: Eva Morlang, Head of Content ARD Kultur: Kristian Costa-Zahn, Produktionsleitung ARD Kultur: Reimar Schmidtke, Schnitt: Tina Küchenmeister, Sounddesign: Josi Miller.

Rechte: ARD Kultur

Audio