Eine Vermisstenanzeige hängt am 17.07.2015 in Potsdam (Brandenburg) an einem Laternenmast.
Die gute Nachricht: 99 Prozent der vermissten Kinder kehren wohlbehalten zu ihren Eltern zurück. Bildrechte: picture alliance / dpa | Bernd Settnik

Verbrechen Rätselhafte Vermisstenfälle: Wenn Kinder einfach verschwinden

09. April 2024, 16:03 Uhr

Etwa 99 Prozent der vermissten Kinder kehren wohlbehalten zu ihren Eltern zurück. Nur wenige bleiben verschwunden - oft über Jahrzehnte. Einige der rätselhaftesten Vermisstenfälle gibt es hier im Überblick.

Nach Jahren wieder aufgetaucht: Natascha Kampusch und Jaycee Lee Dugard

Ein spektakulärer Fall aus Österreich ging 2006 um die Welt. Natascha Kampusch wurde 1998 von Wolfgang Priklopil entführt und acht Jahre lang in einem Kellerverlies gefangen gehalten. Dann gelang ihr die Flucht. Noch am selben Tag warf sich Priklopil vor einen Zug.

2009 tauchte die US-Amerikanerin Jaycee Lee Dugard wieder auf. Sie wurde im Alter von elf Jahren auf dem Weg zu einer Schulbus-Haltestelle entführt und 18 Jahre lang von einem Ehepaar gefangen gehalten. Auch ihr gelang die Flucht.

Die Eltern vermisster Kinder hoffen und bangen, dass auch ihre Kinder eines Tages wieder auftauchen. Einige werden nur noch tot gefunden und einige bleiben für immer verschwunden.

Vermisst seit Juni 1983: Emanuela Orlandi aus dem Vatikan

Es dürfte sich um den wohl bekanntesten Vermisstenfall Italiens handeln, der bis heute die Gemüter bewegt. Erst im vergangenen Jahr ist er für eine neue Netflix-Serie ("Vatican Girl") erneut verfilmt worden. Am 22. Juni 1983 kommt die damals 15-jährige Emanuela Orlandi nach ihrem Musikunterricht in Rom nicht nach Hause. Noch am selben Abend wird das Mädchen von seinen Eltern als vermisst gemeldet.

Vermisstenanzeige von Emanuela Orlandi
Einer der wohl bekanntesten Vermisstenfälle Italiens: Im Juni 1983 verschwand die damals 15-jährige Emanuela Orlandi. Bildrechte: IMAGO / Independent Photo Agency

Was den Fall so besonders macht: Emanuela ist die Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II., ihre Familie lebt im Vatikan. Das gibt reichlich Raum für Spekulation, während sich der Vatikan und seine Behörden in Schweigen hüllen - zumindest bislang.

Ist Emanuela von Kriminellen entführt worden, um den Heiligen Stuhl zu erpressen? Oder von jemandem aus dem Umfeld von Papst-Attentäter Mehmet Ali Ağca, um diesen freizupressen? Gleich mehrere Gräber werden geöffnet, um Emanuelas Leichnam zu finden. Zuständig für die Ermittlungen ist die italienische Justiz, die ihre Arbeit im Jahr 2015 einstellt.

Wie der Vatikan im Januar 2023 bekannt gab, will der Hauptstrafverfolger Alessandro Diddi nun alle Beweise und Dokumente von damals neu prüfen und Zeugen hören, darunter auch Kardinäle.

Vermisst seit Mai 2007: Maddie McCann aus Großbritannien

Das britische Mädchen Madeleine "Maddie" McCann verschwindet am 3. Mai 2007, kurz vor ihrem vierten Geburtstag, aus der Wohnung ihrer Familie in einer Ferienanlage an der südportugiesischen Algarve-Küste, während ihre Eltern in einem Restaurant zu Abend essen. Trotz großangelegter internationaler Fahndungen und zahlreicher Aufrufe ihrer Eltern wurde der Fall nie aufgeklärt, von Maddie fehlt bis heute jede Spur.

Im Juni 2020 tritt dann eine überraschende Wendung ein: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig gibt bekannt, dass sie in dem Fall Mordermittlungen gegen den Deutschen Christian B. führt. Er ist wegen Sexualdelikten vorbestraft und lebte von 1995 bis 2007 regelmäßig an der Algarve.

Mittlerweile ist er in Oldenburg wegen der Vergewaltigung einer 72-jährigen Touristin im portugiesischen Ferienort Praia da Luz in Haft. Seit Mitte April 2022 wird B. auch von der portugiesischen Staatsanwaltschaft offiziell wegen Maddies Verschwinden beschuldigt.

Doch für eine Anklage scheinen die bislang gesammelten Indizien wohl noch nicht zu reichen. Im Mai 2023 wird in einem etwa 50 Kilometer von Praia da Luz entfernten Stausee nach sterblichen Überresten der damals Vierjährigen durchsucht.

Blumen stehen 2007 vor einem Bild der verschwundenen Madeleine McCann.
Blumen stehen 2007 vor einem Bild der verschwundenen Madeleine McCann. Bildrechte: Verfügbar für Kunden mit Rechnungsadresse in Deutschland. | Luis Forra

Vermisst seit Februar 2019: Rebecca Reusch aus Berlin

Rebecca übernachtet in der Nacht zum 18. Februar 2019 bei ihrer Schwester und ihrem Schwager im Berliner Stadtteil Britz. Von dort soll sie zur Schule gehen, kommt dort aber nie an. Ermittler gehen davon aus, dass das Mädchen das Haus nicht lebend verließ, sondern getötet wurde. Eine Leiche wurde bis heute nicht gefunden.

Die Polizei nimmt zweimal den Schwager des Mädchens, den 27 Jahre alten Florian R., ins Visier und verhaftet ihn -  das erste Mal schon zehn Tage nach ihrem Verschwinden. Beide Male erhärtet sich der Verdacht für ein Tötungsverbrechen nicht.

Mehrere Wochen lang durchkämmen Polizisten Waldgebiete und konzentrieren sich auf eine Autobahnabfahrt nahe Fürstenwalde. Auch Seen und Ufer werden mit speziell ausgebildeten Hunden abgesucht - ohne Ergebnis.

2020 stellt die Staatsanwaltschaft fest: "Wir gehen weiterhin davon aus, dass Rebecca das Haus des Schwagers nicht lebend verlassen hat. Sämtliche Alternativgeschehen (...) können wir nach den Ermittlungen ausschließen. Für ein freiwilliges Verlassen der häuslichen Umgebung gibt es überhaupt keine Hinweise." Ausgeschlossen werden könne auch eine Entführung aus dem Haus oder auf dem Weg zur Schule.

Gut vier Jahre nach dem Verschwinden von Rebecca wird das Haus ihres Schwagers im April 2023 erneut durchsucht, um Spuren und Beweismittel zu sichern. Verschiedene Medien berichten davon, dass ein Bademantel ohne Gürtel gefunden worden sei. Auch von akustischen Messungen im Haus ist die Rede.

Vermisst seit Mai 2001: Wer hat Peggy Knobloch getötet?

Peggys Schicksal zählt zu den rätselhaftesten Vermisstenfällen in Deutschland. Am 7. Mai 2001 verschwindet die damals Neunjährige auf dem Heimweg von der Schule. Erst 15 Jahre später findet ein Pilzsammler Teile ihres Skeletts in einem Waldstück bei Rodacherbrunn in Thüringen - knapp 20 Kilometer von Peggys Heimatort Lichtenberg in Oberfranken entfernt.

Drei Jahre nach ihrem Verschwinden wird der geistig behinderte Nachbar Ulvi K. in einem Indizienprozess wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt und in die Psychiatrie eingewiesen. Ein Wiederaufnahme-Verfahren spricht den Mann 2015 frei.

Im September 2018 gesteht der 41-jährige Manuel S., Peggys Leiche im Jahr 2001 in ein Waldstück in Thüringen gebracht zu haben. Das Mädchen habe leblos in einem Bushäuschen in ihrem Heimatort Lichtenberg gelegen. Auch ihm kann kein Tötungsverbrechen nachgewiesen werden. Am 6. April 2022 wurden die sterblichen Überreste des Mädchen an einem geheimen Ort beigesetzt.

Vermisst seit September 2001: Pascal aus Burbach

Pascal ist sechs Jahre alt, als er in Burbach, einem Stadtteil von Saarbrücken, verschwindet. An diesem Tag ist Pascal mit seinem Kinderrad in der Nachbarschaft unterwegs. Er wird zuletzt auf einer Kirmes gesehen.

Ein erstes Ermittlungsergebnis kommt rasch. Pascals 18 Jahre alte Stiefschwester aus der ersten Ehe des Vaters soll den Jungen im Streit mit einer Eisenstange erschlagen haben. Zwei andere Mädchen seien dabei gewesen. Sie hätten das Opfer in der Saar versenkt. Doch das Geständnis ist falsch. Die drei Teenager hatten dem Druck der stundenlangen Vernehmung nicht standgehalten und die Tötung von Pascal einfach behauptet.

Dann geraten Stammgäste einer kleinen Kneipe, der "Tosa Klause", ins Visier. Unabhängig voneinander gestehen die dreizehn Verdächtigen, Prostituierte und Pädophile, Pascal sexuell missbraucht und dann erstickt zu haben. Die Leiche hätten sie in einer Kiesgrube in Frankreich vergraben. Pascals Leiche wird dort jedoch nicht gefunden. Auch sein Fahrrad taucht nie wieder auf.

Eine der Hauptangeklagten zieht ihr Geständnis zurück. 2007 werden alle Angeklagten freigesprochen. Die Beweise reichen für eine Verurteilung nicht aus. Was in der "Tosa Klause" geschah, ist bis heute unklar. Es gibt keine DNA-Spuren von Pascal am mutmaßlichen Tatort.

Vermisst seit Mai 2015: Inga verschwindet bei Familienfeier

Inga verschwindet am 2. Mai 2015 von einer Familienfeier im Diakoniewerk Wilhelmshof bei Uchtspringe im Landkreis Stendal. Am Abend soll ein Grillfest stattfinden. Offenbar will die fünfjährige Inga bei der Vorbereitung helfen, bringt Getränke zum Sportplatz und spielt am Waldrand.

Dann verlieren die anderen sie aus den Augen. Hunderte Einsatzkräfte durchkämmen das angrenzende Waldgebiet, auch mit Hubschrauber und Suchhunden - ohne Erfolg. Da der Ort sehr abgelegen liegt, gibt es keine weiteren Anwohner oder Zeugen.

MDR um 4 - Inga
Inga ist seit 2015 verschwunden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im März 2023 beschäftigt sich der Innenausschuss des Landtags Sachsen-Anhalt mit dem Fall, auch wegen möglicher Pannen in den Ermittlungen. Ingas Mutter hofft, dass der Fall komplett neu aufgerollt wird.

Im Dezember 2023 geht die Polizei neuen Hinweisen nach und beginnt Grabungen auf einem Privatgrundstück in der Nähe von Stendal. Die gefunden Knochen sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft allerdings nicht menschlichen Ursprungs.

Vermisst seit Februar 1996: Deborah "Debbie" Sassen aus Düsseldorf

Deborah "Debbie" Sassen ist acht Jahre alt, als sie am 13. Februar 1996 nach dem Schwimmunterricht verschwindet. Vom Schuleingang in Düsseldorf-Wersten bis in ihr Elternhaus sind es nicht einmal 1.000 Meter. Weder ihr Schulranzen noch der Turnbeutel oder ein Teil ihrer Kleidung ist je wieder aufgetaucht.

Die Ermittler beginnen mit der bis heute größten Suchaktion der Düsseldorfer Polizei. Taucher steigen zweimal in den zugefrorenen See im Buga-Gelände. Eine Passantin hatte dort Kinder auf dem Eis spielen sehen. Zeichner fertigen nach anderen Zeugenaussagen das Bild eines Mannes, der in einem beigefarbenen Auto an der Schule gewesen sein soll. Er wurde nie gefunden.

Mark van Bommel mit einem Bild der vermissten Debbie Sassen
Debbie Sassen verschwand 1996 im Alter von acht Jahren. Bildrechte: imago/Bernd Müller

Suche wird 30 Jahre lang fortgesetzt

Die Fälle Pascal, Inga und Debbie sind mittlerweile "Cold Cases". Das sind Fälle, die nach einem Jahr noch nicht gelöst werden konnten. Die Ermittlungen werden in solchen Fällen nicht eingestellt, vielmehr werden regelmäßig neue Ermittlungsansätze geprüft. Peggys Akten sind geschlossen, es gibt keine weiteren Ermittlungen.

Die Initiative "Vermisste Kinder" unterstützt privat bei der Suche nach neuen Spuren. Unter der europaweit einheitlichen Notrufnummer 116 000 können sich Eltern rund um die Uhr an den Verein wenden.

(Dieser Artikel wurde am 4. Juni 2020 erstmals veröffentlicht.)

Dieses Thema im Programm: Das Erste | BRISANT | 23. Mai 2023 | 17:15 Uhr

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