Mitarbeiterinnen der Pflege in Schutzausrüstung betreuen einen Corona-Patienten
Die Beatmungsbetten werden in manchen Kliniken knapp: Nach welchen Kriterien entscheiden Mediziner, wer welche Behandlung erhält? Bildrechte: picture alliance/dpa | Fabian Strauch

Corona-Pandemie Intensivstationen am Limit: Was bedeutet Triage - und wer wird zuerst behandelt?

03. Februar 2021, 19:23 Uhr

Eine Horrorvorstellung in der Corona-Pandemie: Sind alle Intensivbetten belegt, müssen Ärzte entscheiden, wer wie behandelt wird - und wer nicht. Wie funktioniert das Triage-System in Deutschland?

Die Corona-Neuinfektionen schnellen in die Höhe. Intensivbetten werden in einigen Krankenhäusern bereits knapp. Das medizinische Personal muss immer häufiger unter Zeitdruck entscheiden, wer eine lebensrettende Behandlung erhält - und wer nicht. Dieses Auswahlverfahren wird auch als Triage bezeichnet.

Ziel: Möglichst viele Leben retten

"Triage" kommt aus dem Französischen und bedeutet "Auswahl" oder "Sichtung". Ursprünglich wurde der Begriff für die Militärmedizin in Feldlazaretten entwickelt, um rasch entscheiden zu können, welcher Verletzte zuerst behandelt wird. Eine Entscheidung, die damals nicht aufgrund der Schwere einer Verletzung getroffen wurde. Geholfen wurde zunächst denjenigen, die die besten Chancen auf eine rasche Genesung hatten, um schnell wieder fit für den Krieg zu sein.

Heute wird zum Glück anders entschieden: In einer Notaufnahme werden Menschen, denen es besonders schlecht geht, auch besonders dringlich behandelt. Es sei denn, es mangelt an Zeit, Personal und Materialien, sodass eine angemessene Versorgung aller nicht möglich ist. In solchen Situationen dient die Triage dazu, Behandlungsentscheidungen so zu treffen, dass möglichst viele Menschen überleben.

Deutschland: Empfehlungen, aber kein Triage-Gesetz

Ein Triage-Gesetz gibt es in Deutschland nicht. Es ist also nicht explizit gesetzlich geregelt, wie Ärzte in Notfallsituationen über Leben und Tod entscheiden müssen. Dabei würde das die Mediziner - auch psychisch - immens entlasten und eine Chancengleichheit für Erkrankte gesetzlich absichern.

Allerdings gibt es Empfehlungen, die den Medizinern die Entscheidungen erleichtern sollen. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat Ende März 2020 eine erste Version klinisch-ethischer Empfehlungen veröffentlicht, wie im Ernstfall in Deutschland zu verfahren sei. Die wurden Mitte April noch einmal aktualisiert und als sogenannte S1-Leitlinie herausgegeben. Juristisch bindend sind diese Leitlinien nicht, medizinisches Personal ist jedoch angehalten, ihnen zu folgen.

Richtlinien im moralischen Dilemma

Die Empfehlungen der AWMF beruhen auf vertretbaren ethischen Grundsätzen in einer Ausnahmesituation. Eine Triage wird also nur bei Ressourcenknappheit angewendet, wenn beispielsweise nicht genügend Plätze auf der Intensivstation bereitstehen.

Dabei gilt das Mehraugen-Prinzip. Mehrere Ärzte und Pflegepersonal der Intensivstation entscheiden gemeinsam, welcher Patient wie und zuerst behandelt wird.

Ebenfalls gilt: ALLE Intensivpatienten einer Klinik werden überprüft, auch die in der Notaufnahme. Es gibt kein Kontingent an Beatmungsbetten, das ausschließlich Covid-19-Patienten zur Verfügung steht. Auch der Herzinfarkt-Patient wird im Notfall beatmet.

Wichtigstes Kriterium für die Entscheidung ist die klinische Erfolgsaussicht: Wird jemand wieder gesund? Nicht intensivmedizinisch behandelt wird daher, wer eine nur geringe Überlebenschance hat. Denn oberstes Ziel der deutschen Mediziner ist es, möglichst viele Menschenleben zu retten.

Bei ihrer Entscheidung prüfen Ärzte folgende Faktoren:

  • Schwere der Erkrankung
  • Gesundheitszustand
  • Mögliche lebensbedrohliche Begleiterkrankungen (z.B. Krebs, Leberversagen)
  • Patientenwille (z.B. Patientenverfügung)

Keine Rolle spielen:

  • Alter
  • Bildungsstand
  • Einkommen
  • Sozialer Status
  • Behinderungen
  • Art der Krankenversicherung

Menschenleben dürfen nicht gegen Menschenleben abgewogen werden.

AWMF-Richtlinie

Anders als in Italien spielt das Alter des Patienten in Deutschland keine Rolle bei der Triage-Entscheidung. Ein 90-Jähriger kann also bevorzugt behandelt werden, wenn seine Chancen, wieder gesund zu werden, höher sind als die eines 35-jährigen Familienvaters.

Nach italienischen Triage-Richtlinien sollen nicht möglichst viele Menschen, sondern möglichst viele Lebensjahre gerettet werden. Das stellt die dortigen Ärzte vor eine moralisch schwere Entscheidung. Eine Altersgrenze ist noch nicht verbindlich festgelegt.

Ankunft eines Patienten mit Atemwegserkrankung in der Notaufnahme des Policlinico San Martino-Krankenhauses in Genua, Italien
Eine Triage-Abteilung für Beatmungs-Patienten in Italien. Bildrechte: imago images/Italy Photo Press

BRISANT

(Dieser Beitrag wurde am 04.11.2020 erstmals veröffentlicht.)

Dieses Thema im Programm: Das Erste | BRISANT | 03. Februar 2021 | 17:15 Uhr

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