Reisen im Sozialismus Hohe Tatra: Alpen-Ersatz für DDR-Bürger

12. August 2022, 11:06 Uhr

Hochgebirgsgipfel, kristallklare Seen, romantische Täler und urige Berghütten – die Hohe Tatra war eines der beliebtesten Reiseziele für die DDR-Bürger in einer Zeit, als die "große weite Welt" ihnen nicht offen stand. Nach 1989 ging die Zahl deutscher Urlauber in dem "kleinsten Hochgebirge der Welt" massiv zurück.

"Früher, zu DDR-Zeiten, konnten die Menschen aus Ostdeutschland ja nicht viel verreisen", sagt Juraj Gantner, Wirt der Berghütte am "Grünen See", die als die Schönste der Hohen Tatra überhaupt gilt. "Deshalb kamen sie zu uns in die Hohe Tatra. An einem Tag kamen manchmal 1.700 Urlauber allein nur in unsere Hütte, und davon waren gut zwei Drittel aus der DDR."

Alpenähnliche Landschaft auf engstem Raum

Der größere Teil der Hohen Tatra gehört zur Slowakei und der kleinere Rest zu Polen. Es ist das flächenmäßig kleinste Hochgebirge der Welt: kaum 50 Kilometer lang und maximal 15 Kilometer breit. Aber auf diesem engen Raum gibt es 24 Gipfel mit einer Höhe von mehr als 2.500 Metern. Außerdem gibt es kristallklare Bergseen, tosende Wasserfälle, romantische Täler, zahllose urige Berghütten und Wiesen mit Edelweiß - im Grunde genommen also das gesamte Repertoire der Alpen auf lediglich 780 Quadratkilometern. Dafür herrscht vielerorts noch eine Ruhe, wie sie sonst nur noch in entlegensten Regionen der Alpen zu finden ist. Auch die Vielfalt in der Tierwelt spiegelt die Unberührtheit der Region wider: Andernorts längst ausgestorben leben hier Braunbären, Luchse, Murmeltiere, Wölfe und Auerhähne.

Tatra-Sherpas versorgen die Hütten

Die Tatra ist das einzige Hochgebirge in Europa, in dem die Berg- oder Skihütten aktuell kaum mit Seilbahnen oder Fahrzeugen versorgt werden können. Hier kommen die Tatra-Sherpas, wie sich die Lastenträger selbst nennen, zum Einsatz. Auf dem Rücken tragen sie auf einer speziellen Tragekonstruktion unvorstellbare Lasten nach oben. Der Rekord liegt bei 207 Kilogramm. Sie und ihre Arbeit werden bewundert und geschätzt, finanziell ertragreich ist die Plackerei allerdings nicht.

Das Ski- und Wanderparadies der DDR-Touristen

In den 1970er- und 1980er-Jahren war die Hohe Tatra das Wander- und Skiparadies unternehmungslustiger DDR-Bürger. Hunderttausende stillten hier ihre Sehnsucht nach Bergluft, hohen Gipfeln und Hüttenromantik. Neben der bulgarischen Schwarzmeerküste und dem Balaton war die Hohe Tatra beliebtestes Reiseziel. Die Zeltplätze waren überfüllt und die Unterkünfte in Hotels und Pensionen auf Jahre im Voraus ausgebucht. Abends hockten die Wandersleute aus Neubrandenburg, Halle oder Erfurt dichtgedrängt in den Berghütten, aßen Knödel und tranken starkes tschechoslawakisches Bier.

"Da saßen immer Hunderte von Menschen beisammen. Es war ein bisschen wie an der Ostsee", erinnert sich Monika Riedel, die gemeinsam mit ihrem Mann jedes Jahr Urlaub in der Hohen Tatra machte. "Es war brechend voll, aber schön. Und wie hieß das früher? Auf die Freundschaft, auf den Frieden und auf die Solidarität. Und auf die Liebe, na klar", erinnert sie sich mit Wehmut an die Trinksprüche von damals.

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Familie Neutsch aus Halle-Neustadt ist begeistert von der Hohen Tatra - dem kleinsten Hochgebirge Europas. Seit 30 Jahren fahren sie immer wieder in die Slowakei.

Di 28.08.2007 11:56Uhr 10:34 min

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Doch das Reisen im Sozialismus war mit mehr Einschränkungen und Bürokratie verbunden, erinnert sich Julia Neutzsch: "Dann musste man zur Bank gehen und das Geld tauschen, also 40 DDR-Mark pro Tag und pro Person durften wir umtauschen. Davon musste alles bestritten werden: die Unterkunft, das Essen, Benzinkosten, alles, was wir so einkaufen wollten. Und heute setzen wir uns einfach ins Auto, gucken, ob der Tank voll ist, und fahren los."

Deutsche Urlauber bleiben nach 1990 aus

Nach der Wende sind die Urlauberzahlen deutlich zurückgegangen, berichtet Juraj Gantner, der noch bis 2010 der Wirt der Berghütte am "Grünen See" war – die übrigens als die Schönste der Hohen Tatra gilt. Die Touristen aus der DDR waren gut fürs Geschäft. Nach der Wiedervereinigung sei nur noch ein Zehntel der Besucher aus Deutschland gekommen, berichtet er. Ihren Platz nahmen Gäste aus Polen und Russland ein. Der Reisebetrieb in der Region hat sich kommerzialisiert, viele Luxusunterkünfte sprossen aus dem Boden. Außerdem ist die Gegend mittlerweile als Skiregion erfolgreich.

Der Artikel wurde erstmalig 2009 veröffentlicht und 2022 aktualisiert. Juraj Gantner war noch bis 2010 Wirt der Berghütte am "Grünen See", die er nach einer verlorenen Ausschreibung verlassen musste.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Sagenhaft - Die Hohe Tatra | 29. Mai 2022 | 20:15 Uhr