Parlament in Budapest
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Budapest: Die schillerndste Metropole des Ostens

06. Dezember 2021, 13:21 Uhr

Ungarns Hauptstadt war die "westlichste" Metropole, die DDR-Bürger erreichen konnten. Statt Parteiparolen prangten "Coca-Cola-" und "Camel"-Werbung an den Fassaden.

Von der Volksrepublik Ungarn und seiner Kapitale Budapest waren vor 1989 Touristen aus West und Ost gleichermaßen begeistert. Das kleine Land, von dem es hieß, es sei "die lustigste Baracke des Ostblocks", gab sich liberal und weltoffen. Die Supermärkte unterschieden sich nur unwesentlich von denen im Westen, statt Parteiparolen prangte an den Fassaden "Coca-Cola-" und "Camel"-Werbung und auf den Straßen fuhren Opel und VW einträchtig neben knatternden Zweitaktern aus Eisenach und Zwickau. In den Buchläden gab es Adorno, Freud und Beckett und in den Zeitungskiosken lag die internationale Presse aus: die "Times", "Le Monde", "Der Spiegel"... Der "real existierende Sozialismus" schien hier seinen Schrecken verloren zu haben.

Budapest, "Lenin korut"

Vor dem filigranen, von Jean Eiffel 1887 entworfenen Nyugati pályaudvar, dem Westbahnhof, führt der Terez korut vorüber, früher hieß diese Ringstraße "Lenin korut". Hier begann damals ein geschäftiges Viertel, das der bundesdeutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger* Mitte der 80er-Jahre so beschrieb: "Ein armseliger Überfluss bietet sich hier an, eine Ökonomie, die die Vitalität eines Kranken hat, fieberhaft, uferlos, gierig. Eine trübe Produktivkraft, die sich ihre Kanäle und Rinnsale gräbt, wo sie kann." Für die Touristen aus dem Osten, allen voran denen aus der DDR, war Budapest hingegen ein Ort der Verheißung, ein Ort des schieren Überflusses.

Knöpfe, Jeans und Schallplatten

Findige Budapester Händler hatten sich in diesen Jahren speziell auf die DDR-Touristen eingestellt und hielten in bizarr ausgeleuchteten Kellergeschäften, in mit Staniolpapier verkleideten Bretterverschlägen, die sie auf den Innenhöfen errichtet hatten, manchmal sogar in Treppenhäusern, ihre Waren feil: Tausende verschiedenerlei Knöpfe, billigen Modeschmuck, amerikanische Jeans, Poster von Rockgruppen ... Und in den zahllosen "Pop-Shops" besorgten sich junge, "Jesuslatschen" tragende Leute aus Berlin, Leipzig oder Rostock sündhaft teure Platten von den "Doors", von den "Stones" und Bob Dylan, die es bei der Rückfahrt in Zinnwald dann irgendwie an den DDR-Grenzern vorbeizuschmuggeln galt.

Doch abgesehen von den Segnungen der ungarischen Schattenwirtschaft für die ostdeutschen Reisenden – Budapest war tatsächlich nicht nur die westlichste, sondern auch die großzügigste und schillerndste Metropole, die der gewöhnliche DDR-Bürger auf seinen genehmigten Reisen erreichen konnte. Die neogotischen Fassaden (die ihre Wunden aus dem Zweiten Weltkrieg oder der niedergeschlagenen Volkserhebung 1956 nicht verbargen) kündeten noch von der glanzvollen Ära der Donaumonarchie. In den alten Jugendstil-Cafes parlierte die Budapester Intelligenzija mühelos in mehreren europäischen Sprachen und auf der allerdings gar nicht so blauen Donau schipperten Ausflugsdampfer aus Wien vorbei. Und dann waren da noch die im Verborgenen blühenden Szeneclubs und Kneipen und Galerien junger Künstler ...

"Wo meine Heimat ist, im wilden Osten"

1988 eröffnete das "Goethe-Institut" im Stadtzentrum eine Filiale, in der man unverdrossen in der DDR verbotene Literatur lesen konnte – Leo Trotzki, Hubert Fichte oder Wolfgang Leonhardts "Die Revolution entlässt ihre Kinder". Und jeden Sommer gastierte im "Nep"-Stadion immer irgendeine der legendären Bands – die Stones, Genesis oder Queen ... "Wo meine Heimat ist, im wilden Osten", sang damals der junge Budapester Dichter György Petri, "auf den lieblichen, im Licht gleißenden Comecon-Inseln. Dort gibt es Luft! Und was für welche ...!"


  • (Zitat Hans Magnus Enzensberger aus: Ach Europa!, Suhrkamp Verlag 1988.)

(SL)