Erinnerung an eine Reportage des DDR-Fernsehens Ist Leipzig noch zu retten?

08. Juni 2011, 10:25 Uhr

Anfang November '89 ereignete sich im DDR-Fernsehen bis dahin Unmögliches: In einer Reportage der Sendung "Klartext" wurde die DDR gezeigt, wie sie wirklich war - am Beispiel der zweitgrößten Stadt der Republik, Leipzig.

Auf dem Sendeplatz des abgesetzten "Schwarzen Kanals" lief am 6. November 1989 erstmals die Reportagereihe "Klartext". In der ersten Folge wurde der Film "Ist Leipzig noch zu retten?" gezeigt, der sich mit dem katastrophalen Zustand der Leipziger Altbausubstanz auseinandersetzte. Zum ersten Mal wurde dieses Thema offen im DDR-Fernsehen angesprochen.

Die Messestadt hatte trotz schwerer Kriegsschäden den größten Bestand gründerzeitlicher Häuser in ganz Deutschland behalten. 1989 existierten immer noch etwa 104.000 Wohnungen, die vor 1918 gebaut worden waren - 41 Prozent des gesamten Bestandes. Aber die meisten dieser Häuser waren in einem üblen Zustand. 70.000 Wohnungen galten als akut gefährdet. Die Baukapazitäten in der Stadt waren viel zu gering, um den Verfall aufzuhalten zu können. Leipzigs Chefarchitekt Dr. Dietmar Fischer erklärte der "Klartext"-Reporterin: "Ein Ausweg wäre nur, wenn ein größerer Anteil der Beschäftigten im Bauwesen tätig wären. Bei uns sind das im Moment sechs bis sieben Prozent, notwendig wären aber 20 Prozent."

Logo MDR 4 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
4 min

Ausschnitt aus einer Reportage des DDR-Fernsehens aus dem Jahr 1989 mit beeindruckenden Bildern der maroden Altbausubstanz im Leipziger Waldstraßenviertel.

Mo 06.11.1989 00:00Uhr 03:44 min

https://www.mdr.de/geschichte/stoebern/damals/video174138.html

Rechte: Deutsches Rundfunkarchiv

Video

Reif für den Abriss

Ganze Viertel mit Wohnungsbestand aus der Gründerzeit wurden seit den 1970er-Jahren dem Verfall preisgegeben, sei es das Industriegebiet Plagwitz, das Musikviertel oder das Waldstraßenviertel. Der Vorsitzende eines Wohnbezirksausschusses berichtete, worüber sich die Menschen in seinem Wohngebiet vor allem beklagten: "Hauptsächlich über nicht ausgeführte Dachreparaturen. Die Wohnungen sind alle nass. Zum Teil über die Toiletten, die Elektroleitungen - alles ist kaputt." Zur Situation im industriell geprägten Stadtteil Plagwitz sagte Chefarchitekt Dr. Fischer: "Dort sind die Umweltbedingungen so schlecht, dass es verantwortungslos wäre, das Wohnen dort auf lange Sicht beizubehalten. Das heißt, die Perspektive für die dort wohnenden Menschen besteht darin, dass dieses Gebiet nach 1990 Schritt für Schritt - so hart es ist - freigezogen werden muss."

Der Verfall nimmt zu

Statt sich darum zu kümmern, den Verfall der wertvollen Bausubstanz aufzuhalten, wurde überwiegend auf Neubauten, vornehmlich Plattenbauten, gesetzt. Die Rekonstruktion beschränkte sich auf einige Vorzeigeprojekte wie etwa das Kolonnadenviertel oder Areale wie Barthels Hof. Seit dem DDR-Wohnungsprogramm in den 1970ern war es für Leipzig erklärtes Ziel, jährlich 3.000 Neubauwohnungen fertig zu stellen. Dem stand der Abriss von 1.000 Wohnungen aus Altbausubstanz gegenüber. Aber dieses Verhältnis kippte in den 1980er-Jahren. Es mussten mehr Wohnungen geräumt als neu gebaut werden konnten. In der Reportage wurde vorgerechnet, dass wenn Leipzig weiter in dem Maße verfällt, bis zum Jahre 2000 die Einwohnerzahl um 100.000 zurückgehen würde.

Bauarbeiter sagten über den DDR-Bauminister Wolfgang Junker, er komme nur zweimal im Jahr zu Blitzbesuchen nach Leipzig, und zwar zur Messezeit. Von den katastrophalen Zuständen habe er keine Ahnung. Da selbst die Abrissunternehmen mit dem Tempo des Verfalls der Stadt nicht mithalten konnten, wurde in der Bevölkerung sogar diskutiert, ob die NVA (Nationale Volksarmee) nicht mit ihren Einheiten und schwerem Gerät eingesetzt werden müsste. Denn die einsturzgefährdeten Häuser waren zu einer öffentlichen Gefahr geworden.

Reportage rüttelt wach

Die Reportage rüttelte nicht nur in Leipzig wach. In einem ersten Schritt zogen die Stadtverordneten die Kompetenz für das Bauwesen in der Messestadt komplett an sich. Berlin hatte nichts mehr zu sagen. Minister Junker gab klein bei. 36 Stunden nach Ausstrahlung der Sendung wurde außerdem in Berlin mitgeteilt, dass alle Bauarbeiter, die in die Hauptstadt delegiert worden waren, zurück in ihre Heimatorte sollten. Aus dem Bezirk Leipzig waren das allein 750 Baufachkräfte. Der kritische Bericht über Leipzig ermunterte auch andere Fernseh- und Rundfunkreporter, die Realität in der DDR fortan ungeschminkt darzustellen.

Die Sendereihe "Klartext" mit ihren kritischen Reportagen lief noch bis Dezember 1991 im DDR-Fernsehen und erzielte Einschaltquoten bis zu 30 Prozent. Zu Leipzig gab es sogar noch eine Fortsetzungsreportage mit dem Titel "Wie ist Leipzig noch zu retten?".

Dieses Thema im Programm: Artour | 06. November 2014 | 22:05 Uhr