Russland-Ukraine-Krise Der Auflösungsprozess der Sowjetunion und seine Folgen

14. März 2014, 11:37 Uhr

Welche wirtschaftlichen Folgen hat die Krise in der Ukraine und um die Krim für Russland? Gibt es andere Länder, in denen ähnliche Szenarien eintreten könnten? - Osteuropa-Experte Stefan Troebst beurteilt die Lage.

Wie kam es zur Gründung der neuen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion?

Die Sowjetunion bestand bei ihrem Zerfall 1991 noch aus 15 Teilrepubliken. Der damalige Präsident der neuen Russländischen Föderation, der größten ehemaligen Sowjetrepublik, Boris El'cin, unternahm den Versuch, ein post-sowjetisches Dach zu zimmern, das "Gemeinschaft slavischer Staaten" heißen sollte. Da aber Kasachstan als nicht-slavischsprachiger Staat daran mitwirke, wurde eine Umbenennung in  "Gemeinschaft unabhängiger Staaten" vorgenommen. Diese besteht bis heute, ist aber kaum mehr als ein loser Zusammenhalt.

Stefan Troebst
Bildrechte: Stefan Troebst

Wer ist Stefan Troebst? Stefan Troebst ist Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas und stellvertretender Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität in Leipzig.

Wie verlief der Prozess der Auflösung der Sowjetunion?

Überraschend friedlich, denn nie zuvor ist ein Weltreich dieser Art aus endogenen Gründen in sich zusammengebrochen. Bezeichnend war die damalige Sicht des Nachbarn Finnland, der ja eine lange Grenze zu Sowjetunion hatte: Man fühle sich, so ein finnischer Diplomat, wie die Bewohner eines Einfamilienhauses, das Wand an Wand mit einem einstürzenden Wolkenkratzer steht.

Auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken Estland und Lettland, heute Mitgliedsstaaten von EU und NATO, wo man aufgrund zahlenmäßig starker russischsprachiger Minderheiten ethnopolitische Konflikte befürchtete, traten solche nicht ein. Der Nordosten Estlands war und ist zu 90 Prozent von Russophonen besiedelt, die lettische Hauptstadt Riga zu mehr als der Hälfte. Auch in der neuen Russländischen Föderation, wo die muslimischen Regionen Tatarstan und Baschkorostan unter Präsident El'cin Autonomie erhielten, blieb es relativ friedlich. Dasselbe gilt für die Regionen Transkarpatien und Krim in der Ukraine, wo es jeweils starke Autonomiebestrebungen gab, die aber innerstaatlich reguliert wurden - etwa durch Territorialautonomie für die mehrheitlich russischsprachige Krim.

Ausnahmen waren in der Russländischen Föderation der erste und zweite Tschetschenien-Krieg von 1994 bis 2009, im weiteren postsowjetischen Raum Anfang der 1990er-Jahre der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um die armenischsprachige Region Berg-Karabach, die Teil Aserbaidschans ist, aber derzeit von Armenien besetzt wird, weiter Kriege um die Regionen Abchasien und Südossetien in Georgien, der Krieg in Moldova, hier im Dnjestr-Tal, dem so genannten Transnistrien. Dass diese als "tiefgefroren" bezeichneten Konflikte eben nicht in der Tiefkühltruhe liegen, zeigt der Krieg zwischen Georgien und der Russländischen Föderation um Südossetien im Sommer 2008 und natürlich die Situation in Tschetschenien, die dauerhaft zu befrieden weder El'cin noch Putin nicht gelang. Stattdessen wurde dort ein Schreckensregime moskautreuer tschetschenischer Terroristen errichtet.

Gibt es andere Länder, in denen eine ähnliche Situation wie in der Ukraine eintreten könnte?

Ja, nicht zuletzt in der Russländischen Föderation, wo in den bürgerkriegsähnlichen Situationen in Tschetschenien und Dagestan zunehmend islamistische Extremisten aus dem Ausland auftreten. In Georgien ist ein Wiederaufflammen der Konflikte um Abchasien und Südossetien nicht auszuschließen.

Georgien
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Hier ist es dem ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili immerhin gelungen, die abtrünnige Region Adscharien am Schwarzen Meer zu reintegrieren. In Transnistrien im Osten Moldovas sind zum einen Reste der heute unter russländischem Kommando stehenden 14. Sowjetischen Gardearmee stationiert  - ohne dass es ein Stationierungsabkommen mit der Regierung Moldovas dafür gäbe –, und zum anderen kontrollieren hier russländische Blauhelmtruppen eine so genannte Sicherheitszone im Dnjestr-Tal.

Hat die Krise in der Ukraine und die Auseinandersetzung um die Krim wirtschaftliche Folgen für Russland?

Der getarnte Einmarsch russländischer Streitkräfte in die ukrainische Krim hat bereits jetzt gravierende Folgen für die Russländische Föderation: Die Aktienwerte russländischer Unternehmen sind im Zuge dieser Militäraktion bereits gesunken, der Rubelkurs gleichfalls. In naher Zukunft ist die Flucht von Investoren im Falle drastischer russländischer Gegenreaktionen auf westliche Sanktionen wie etwa Gesetze zur Beschlagnahmung ausländischer Firmen unvermeidlich. Diejenigen EU-Staaten, die wie Deutschland, große Teile ihres Bedarfs an Erdölderivaten in Russland decken, werden sich auf Norwegen, Libyen, die USA und andere umorientieren. Dasselbe gilt für die Ukraine, die bislang ein Hauptabnehmer russländischen Erdgases und Erdöls war und die künftig aus dem Westen versorgt werden wird. Damit brechen der Russländischen Föderation die Staatseinnahmen weg – mit gravierenden sozialen und mutmaßlich auch politischen Folgen.

Hat bereits ein neuer Kalter Krieg begonnen?

Nein, der Kalte Krieg ist seit der Implosion der Sowjetunion zu Ende. Was es weiterhin gibt sind postimperiale Reflexe in der Elite der RF – sowohl bei Russen wie bei Nicht-Russen. Ich denke hier etwa an den populären derzeitigen Verteidigungsminister und Hardliner Šojgu, der tuwinischer Herkunft ist. Die Tuwiner sind ein Turkvolk im südlichen Sibirien.

Diese postimperialen Reflexe bestehen darin, dass man in Moskau der Ansicht ist, man habe wie zu sowjetischen Zeiten das Recht, die Vormundschaft über die früheren Teilrepubliken der UdSSR auszuüben und dies unabhängig vom politischen Willen der Bürger dieser Staaten. Formal begründet wird dies mit dem angeblichen Schutz der Russen im so genannten "Nahen Ausland", die indes mehrheitlich aber gar keine Bürger der Russländischen Föderation und "Russen" häufig nur der Sprache nach sind. In Moldova zum Beispiel sprechen nicht nur ethnische Russen, sondern auch Gagausen, Bulgaren, Polen, Weissrussen, Ukrainer und viele Moldauer im Alltag Russisch.

Gibt es eigentlich eine eigene russländische Identität?

Generell ist die russländische Elite in einem Identitätsdilemma: Die Frage, 'was wollen wir sein?' wird bis heute höchstens negativ beantwortet, das heißt, was wollen wir nicht sein? Keine Sowjetmenschen mehr, keine "Bauern" im pejorativen Sinne und keine "Asiaten". Die positive Identitätsfolie "Europäer" wird interessanterweise von den russischen Bevölkerungsteilen in Kasachstan verwendet, kaum hingegen in Rußland selbst, wo "Europa" zunehmend mit "EU" gleichgesetzt und damit abgelehnt wird. Auch das "Slaventum" zieht nicht mehr richtig, nicht einmal mehr das "Ostslaventum", denn dazu gehören ja auch die widerspenstigen Ukrainer. Zur Auswahl bleiben daher nur noch "Russe" (russkij) und "Russländer" (rossijanin) – zwei Identitätskonzepte,  die sich zum einen gegenseitig ausschließen und zum anderen ebenfalls Probleme aufwerfen. Denn die Russländische Föderation ist multiethnisch und plurireligiös, das heißt, sie zum Nationalstaat der Russen mit Zugehörigkeit zur Russisch Orthodoxen Kirche umzudefinieren, funktioniert in der Praxis nicht. Das Selbstbild "Russländer" aber würde bedeuten, dass man sich als Vielvölkerreich gleich dem Zarenreich und der Sowjetunion versteht – dann kann man aber die nicht-russischen Staatsbürger wie Tschetschenen, Inguschen, Kabardiner, Tscherkessen, Balkarien u. a. nicht ausgrenzen.

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