Geschichte der Altmark Schatzkammer, Sehnsuchtsort und Pilgerstätte: Der Arendsee - Ein kleines Paradies im Nirgendwo

23. August 2022, 10:38 Uhr

In der Altmark, dem nördlichsten Zipfel Sachsen-Anhalts, liegt der Arendsee. Auf seinem Grund ruht ein Holzboot aus dem Mittelalter, das nun geborgen werden soll. An seinem Ufer lebte der Wanderprediger Gustaf Nagel, der sich um Konventionen wenig scherte und dort einen Paradiesgarten errichtete. Doch der See ist vor allem ein Urlauber-Magnet: Schon vor über hundert Jahren schätzte man ihn wegen seiner feinen Sandstrände und des klaren Wassers.

"Die blaue Perle" – so die liebevolle Bezeichnung von Ortsansässigen - ist ein Einbruchsee. Geologische Untersuchungen lassen darauf schließen, dass der Arendsee im Jahr 822 entstand.

Bei einem weiteren Einbruch im Jahr 1685 soll sich die Fläche des Sees um 20 Hektar vergrößert haben. Dabei versank auch die Mühle von Müller Arend - nach dem der See umbenannt wurde - so behauptet es eine Sage. 

Einen Beweis für die versunkene Mühle liefern zwei Mahlsteine. Sporttaucher entdecken sie Anfang der 1980er-Jahre auf dem Seegrund. Ihren Platz haben sie heute neben der Klosterruine gefunden.

Archäologische Schätze auf dem Grund des Sees

Andere stumme Zeugen der Jahrhunderte liegen noch immer in den Tiefen des Sees: Krüge und Scherben des ehemaligen Klosters, abgestürzte Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg und ein besonderes Boot aus dem Mittelalter.

160 Meter vor dem Südufer und in 35 Meter Tiefe liegt im schlammigen Seeboden eine kleine Sensation: ein Boot aus Eichenholz - ein sogenannter Prahm - gesunken im Jahr 1265.  Dieser wurde schon vor einigen Jahren entdeckt. Er diente wohl als Viehtransporter, ist über zwölf Meter lang und zweieinhalb Meter breit.

Ein Prahm ist...

... eine flache Fähre zum Übersetzen von Menschen, Vieh und Wagen. Er war eines der kleinsten Schiffe für den Warentransport und hatte, im Gegensatz zu den bauchigen Transportschiffen, eine schlankere und flachere Rumpfform. Prahme waren meist auf die Handelsgüter Holz und Salz spezialisiert.

Wahrscheinlich stand der Prahm im Dienst des Arendseer Klosters. Er könnte auch für religiöse Anlässe genutzt worden sein. Landesarchäologen, Profi-Taucher und Wasserretter arbeiten nun daran, ein einmaliges Stück deutscher Geschichte zu bergen und zu konservieren. Eine Herkulesaufgabe:

"Ich kenne in Deutschland keine vergleichbare Aktion", meint der Leiter der Bergung Dr. Sven Thomas, Archäologe vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Für ihn ist der See ein ganz besonderer Ort.

"Der Arendsee gehört zu der seltenen Klasse von Naturseen, die wirklich über Jahrtausende nahezu unverändert geblieben sind. Was dort am Grund liegt, ist für mich einmalig. Eine Schatzkammer, die überhaupt kein Ende zu nehmen scheint."

Der Wanderprediger und Lebensreformer Gustaf Nagel

Auch am Südufer des Arendsees baut vor über hundert Jahren ein Hippie seinen Paradiesgarten und bringt mit seinen völlig neuen Ideen ziemlich viel Unruhe in die altmärkische Idylle.

"Gustaf Nagel war ein ganz moderner Hippie. Nur, dass er zur falschen Zeit gelebt hat. Er hat viele Sachen aufgegriffen, wie nachhaltig leben, vegetarisch essen, mit der Natur im Einklang sein", erzählt Antje Pochte, die sich im Gustaf-Nagel-Förderverein engagiert.

Als junger Kaufmannslehrling erkrankt Gustaf Nagel schwer und entdeckt für sich die Heilkräfte der Natur. Angeregt durch die Lehren des Pfarrers Kneipp ernährt er sich vegetarisch, lässt sein Haar wachsen, geht fortan barfuß – und wird wieder völlig gesund.

Als Wanderprediger zieht er durchs Land, hält Vorträge über Religion, über Wasserbehandlung und Diät. In den Städten kommen die Zuhörer in Scharen. Der Verkauf seiner Schriften und Postkarten wird zudem ein einträgliches Geschäft. Zu Fuß wandert Nagel durch ganz Europa und reist 1903 sogar bis nach Jerusalem. Er wird zum Gesundheitsapostel, erzählt von freier Liebe und gesundem Leben.

Zurück in der Heimat kauft er 1910 das Grundstück am Arendsee, lässt sich dort mit seiner zweiten Frau Johanna und den drei Söhnen nieder und errichtet einen Tempel.

Der Prophet vom Arendsee wird zur Attraktion im Ort, sein Grundstück am See zur Pilgerstätte. Gegen ein kleines Entgeld darf man seinen Vorträgen zu gesunder Ernährung oder gottesfürchtigem Leben lauschen oder man genießt im Garten sein Harmonium-Spiel.

Doch der Sonderling ist auch zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt. Er wird entmündigt und 1943 von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Hitlerjungen zerstören seinen Tempel. Nach Kriegsende kehrt Nagel zwar auf sein Grundstück zurück, doch auch in der DDR eckt er an und wird 1950 in die Nervenheilanstalt Uchtspringe eingewiesen.

Dort verstirbt Gustaf Nagel 1952 mit 77 Jahren, ohne noch einmal in seinen Paradiesgarten zurückkehren zu können. Seit Mitte der 1990er-Jahre kümmert sich ein Verein um sein Vermächtnis und um sein Grundstück am Arendsee.

Ferien am Arendsee

Ein Gelände mit ganz anderer Bebauung verwalten Chefin Kirsten Hohmeyer und ihr Team. Mitten im Kiefernwald, nur wenige Gehminuten vom See entfernt, liegt das KiEZ-Ferienlager. Seit mehr als 70 Jahren verbringen Kinder und Jugendliche dort ihre Ferien.

Mit mehr als 500 Betten hat sich das KiEZ - trotz vieler Modernisierungen - den typischen DDR-Ferienlager-Charme bewahrt. Dass das Ferien-Camp überhaupt noch existiert, ist Irmela Spöttle zu verdanken.

40 Jahre lang hat sie im Ferienlager das Sagen. In den Wende-Wirren sorgt sie dafür, dass es nicht unter die Räder der Treuhand gerät. 1992 gründet sie den KiEZ-Verein, der das Gelände später kauft. Inzwischen hat sie das Zepter an ihre Tochter Kirsten Hohmeyer übergeben. Nur noch hin und wieder hilft sie aus.

Das "Waldheim": Vom Kurhotel zum FDGB-Ferienkomplex

Schon um die Jahrhundertwende suchen an der "Blauen Perle" wohlhabende Feriengäste Ruhe und Erholung. In den 1920er-Jahren wird Arendsee anerkannter Luftkurort.

Anfang der 1930er-Jahre entsteht das Kurhotel "Waldheim" mit Blick auf den See. Das Gartenrestaurant mit 27 Zimmern avanciert schnell zum beliebten Ausflugsziel. Während des Nationalsozialismus wird das Hotel ab 1937 als Soldatenerholungsheim genutzt.

In der DDR entwickelt sich Arendsee zum "Urlaubsort der Werktätigen". Wer keinen der begehrten Plätze an der Ostsee bekommt, findet auch hier feine Sandstrände.

Das Hotel "Waldheim" gehört nun zum Feriendienst des FDGB. In den 1970er-Jahren reichen die Kapazitäten des Hotels nicht mehr aus. Und so wird für 16 Millionen DDR-Mark der damals größte und modernste Ferienkomplex des FDGB gebaut - mit Sauna und Kegelhalle.

In der DDR sind FDGB-Ferienplätze heiß begehrt. Wer fahren darf, entscheiden die Ferienkommissionen der Betriebe. Im Waldheim erholen sich pro Durchgang bis zu 500 Urlauber.

Die Versorgung der Urlauber soll hier besser sein, als im DDR-Alltag. Die langjährige Angestellte Sonja Nowak erinnert sich:

"Es gab mehr Südfrüchte, mehr Obst und Gemüse, mehr Sekt und Schnaps. Und auch Kaffee. Die Buffets sollten immer voll sein, dass die Gäste immer Auswahl hatten. Urlaub in einem FDGB-Heim wie dem Waldheim, das war schon wie ein Sechser im Lotto."

Achtung Sperrgebiet!

Ein ganz anderes Bild zeigt sich am Nordufer des Arendsee. Während gegenüber die Urlauber ihre Ferien genießen, patrouillieren dort Grenzsoldaten im Sperrgebiet. Es sind nur noch fünf Kilometer bis zur Staatsgrenze, die den Osten vom Westen der Republik trennt. Überall befinden sich dort Kontrollpunkte. Ohne Ausweis und Passierschein gibt es kein Weiterkommen.

Von den Gästen im Ferienheim wird erwartet, dass sie die gesperrten Gebiete meiden. Bei Verstößen droht der Abbruch des begehrten Urlaubs. 

Mit der Wende kommt das Aus für den FDGB-Erholungstempel. Mehrere Investoren scheitern, die einstige Luxusanlage verfällt. Am Ende bleibt nur der Abriss.

Auf dem ehemaligen Gelände soll nun neu gebaut werden: Ein Hotel-Komplex und Luxus-Wohnungen mit Blick auf den Arendsee sind geplant. Doch abgeschieden liegt sie noch immer, die "blaue Perle" der Altmark, in der Mitte zwischen Hamburg und Berlin, Magdeburg und Schwerin. Ein kleines Paradies im Nirgendwo.

Arendsee
Die "blaue Perle" der Altmark Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke, wo du lebst | 23. August 2022 | 21:00 Uhr

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