Blick in eine Unterwasserwelt mit Fischen.
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Gefährdete Unterwasserwelten

24. Juni 2015, 11:18 Uhr

Eines der zentralen Forschungserkenntnisse über die Tiefsee ist ihr gewaltiger Rohstoffreichtum. Das weckt Begehrlichkeiten der Wirtschaft. Ehrgeizige Abbaupläne stehen im Widerspruch zum Schutz der ökologisch sensiblen Unterwasserwelten, die auch durch die Verschmutzung der Weltmeere beeinträchtigt werden.

Die schiere Zahl und die außerordentliche Vielfalt von Tiefseebewohnern versetzen Wissenschaftler in Staunen. Fabelhafte Oasen des Lebens haben sich in den kalten und lichtlosen Weiten der Weltmeere entwickelt; zahllose komplexe und empfindliche Ökosysteme existieren am Meeresgrund. Ist die Tiefsee etwa ein letztes Paradies, ein Hort des Lebens abseits allen menschlichen Einflusses - ganz so wie in der Vorstellung von Kapitän Nemo? Die Antwort lautet leider: Nein. Spuren des Menschen sind auch in der Tiefsee nicht zu übersehen. Unter anderem im Mittelmeer und vor der Küste der Philippinen haben Forscher nebst seltenen Tieren Unmengen von Plastiktüten aus der Tiefe geborgen. Fast jeder Kunststoff, den es an Land gibt, ist auch im Meer vorhanden: Einkaufstüten, Nylonseile, Zahnbürsten, Reste von Wattestäbchen, Granulat, Flaschen, Verpackungen. Allein im Nordpazifik schwimmen nach Schätzungen von Umweltschützern drei Millionen Tonnen Plastik.

Magnet für Giftstoffe

Zwar ist Kunststoff meist ungiftig. Studien weisen aber nach, dass er im Meer wie ein Magnet wirkt für Giftstoffe aller Art: Die Konzentration von giftigen Substanzen an Kunststoffteilen ist bis zu eine Million Mal höher als deren übliche Konzentration im Meerwasser. Und Plastikmüll gibt es nicht nur an der Oberfläche: Durch Reibung und Licht zerfallen die meisten Kunststoffe in kleine und kleinste Teile. Viele Tiere halten solche unverdaulichen Stücke für leckere Fischeier oder für nahrhaften Krill. So gelangt mit Giftstoffen angereicherter Kunststoff in die Mägen und Verdauungstrakte von Meeresbewohnern und, weil tote Tiere und anderes Material als so genannter "mariner Schnee" nach unten sinken, auch in die Tiefsee.

Schlüsselarten verschwinden

Problematisch für Unterwasser-Ökosysteme ist nicht nur, was der Mensch hinein trägt, sondern auch, was er heraus nimmt: Die Bestände an großen Fischen sind nach Berichten kanadischer Forscher in den letzten fünfzig Jahren um neunzig Prozent zurückgegangen; die Vielfalt solcher "Schlüsselarten der Ozeane" habe um die Hälfte abgenommen. Kaum abzuschätzen sind die Folgen für das Leben in der Tiefsee, das auf Nährstoffeinträge aus höheren Schichten angewiesen ist. Hinzu kommt, dass Fischer immer neue Fischgründe erschließen und ihre Netze immer weiter in die Tiefe hinab lassen. In einigen Regionen sind Lebensräume fast leer gefegt, haben Grundnetze den Meeresboden verwüstet und die Bodenfauna in Mitleidenschaft gezogen.

Jagd auf Rohstoffe

Und nicht nur auf Lebendiges macht der Mensch in den Meerestiefen Jagd: Der Ozean wird auch als Rohstoffquelle immer interessanter. Die Kontinentalhänge sollen übersät sein mit Methanhydrat - Eisklumpen, in denen Methan eingeschlossen ist. Die Unterwasservorräte dieses Kohlenwasserstoffs könnten doppelt so viel Energie wie alle Erdöl-, Erdgas- und Kohlevorkommen zusammen enthalten. Noch tiefer im Meer liegen unzählige faustgroße Erzkugeln, die in Millionen von Jahren aus im Wasser enthaltenen Metallen gewachsen sind. Solche Knollen bestehen aus Mangan, Eisen und weiteren, selteneren Metallen.

Sammelwut am Meeresgrund

Die geschätzten Manganknollen-Vorkommen von zehn Milliarden Tonnen könnten die Menschheit für mindestens ein Jahrhundert mit Kobalt, Nickel und Kupfer versorgen. Jedoch ist der Abbau von Rohstoffen in mehreren tausend Meter Tiefe derzeit noch aufwändig und teuer - glücklicherweise. Das Umweltbundesamt geht davon aus, dass beim Aufsammeln der Erze nicht nur lokale Lebensgemeinschaften zerstört würden. Aufgewirbelte Sedimente würden außerdem alles Leben im näheren Umkreis ersticken.

Schutzgebiete und nachhaltiges Fischen

Auch wenn Methan- und Mangan-Gewinnung unter Wasser noch Zukunftsmusik sind: Die Tage eines Kapitän Nemo, in denen die Unterwasserwelt vom Menschen verschont blieb, sind längst vergangen. Abfälle und übermäßige Fischerei bedrohen heute zahlreiche Ökosysteme. Zu deren Erhalt kann und will der Census of Marine Life beitragen - indem er auf seltene, schützenswerte Gebiete aufmerksam macht und indem er Bestandszahlen des Lebens unter Wasser liefert, als Grundlage für nachhaltige Fischerei. Gelingt es nicht, menschliche Eingriffe in die Tiefsee zu begrenzen, könnten viele der gerade erst entdeckten Unterwasserwelten bald der Vergangenheit angehören.

Oasen des Lebens Eine lebensfeindlichere Umgebung als die kalten und völlig lichtlosen Weiten der Weltmeere lässt sich kaum denken. Und doch gibt es Oasen des Lebens am Meeresgrund: Zum Beispiel dort, wo heißes, mineralhaltiges Wasser aus der Erdkruste tritt.

Schwarze oder weiße Raucher heißen solche Quellen, die durch Ausfällen der im Wasser enthaltenen Mineralien meterhohe Schlote bilden. Die Schwefelwasserstoffverbindungen und Salze, die sie ausspucken, versorgen Bakterien mit Energie - die Mikroorganismen wandeln Kohlendioxid in organische Verbindungen um. Auf dieser Grundlage bilden sich um schwarze und weiße Raucher herum ganze Ökosysteme mit Bartwürmern, Seesternen, Muscheln und Röhrenwürmern.

Eine weitere Nahrungsquelle für Tiefseetiere ist alles, was von oben kommt. "Mariner Schnee" heißt organisches Material, das von der Meeresoberfläche nach unten rieselt und Tiefseebewohner ernährt. Über Millionen Jahre hinweg hat sich aus toten Organismen eine Schicht Schlamm gebildet und über den Tiefseeboden gelegt. Dort leben in jeder Handvoll Matsch unzählige, nur millimetergroße Ruderfußkrebse, die wiederum Nahrung für andere Tiefseebewohner sind.

Großer, frischer "Schnee" bringt mitunter eigene Ökosysteme hervor. Auf Walkadavern etwa siedeln rund dreißig Arten, darunter rote Ringelwürmer, die sich von den Knochen der Meeresriesen ernähren. An die einhundert Jahre dauert es, bis die "Untermieter" den Wal verputzt haben.