Demokratische Krieger: Eine Zumutung? Militärhistoriker über das Ansehen der Armee und ihre Rolle in Afghanistan

12. Februar 2021, 15:35 Uhr

Das Buch "Deutsche Krieger" ist gerade neu erschienen. Mit einer umfassenden Studie hat Sönke Neitzel 75 Jahre nach Kriegsende und 65 Jahre nach Gründung der Bundeswehr ein Werk vorgelegt, das das Zeug hat, neue Standardlektüre zu allen Fragen deutscher "Kriegskultur" zu werden. Das Buch soll vor allem helfen, das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee neu zu bestimmen. Ein schwieriges Unterfangen.

Herr Neitzel, in diesen Tagen sieht man jede Menge Armee, wenn man Nachrichten schaut. Jedes zweite deutsche Gesundheitsamt wird mittlerweile von BundeswehrsoldatInnen bei der Eindämmung der Corona-Virus-Ausbreitung unterstützt. Die Armee als Retter in der Not: Besser hätte es im großen Jubiläumsjahr der Bundeswehr doch nicht laufen können, oder?

Eine solche Nothilfe ist eine wichtige Aufgabe für die Bundeswehr, sicher. Aber das ersetzt natürlich nicht die Diskussion: Wozu haben wir eigentlich Streitkräfte? Immerhin geben wir für die Bundeswehr aktuell 45 Milliarden Euro pro Jahr aus. Wenn es da nur um Corona-Hilfseinsätze ginge, wären wir mit zehn Milliarden, die wir in die Gesundheitsämter stecken, sicher besser aufgestellt. Aber die Armee ist ihrem Auftrag nach ja vor allem zur Androhung und Anwendung militärischer Gewalt da. Und wenn wir sagen, wir wollen das eigentlich gar nicht, weil wir haben unserer Geschichte, unsere historisch bedingten Traumata, dann brauch ich eigentlich auch keinen 45 Milliarden Euro teuren Verteidigungshaushalt.

Aber geht die Diskussion nicht seit mehreren Jahren eher in Richtung Mittel aufstocken? Emmanuel Macron etwa hat doch gerade erst einen dringenden Appell an die Bundesregierung gerichtet: Es werde Zeit, dass Europa "strategische Autonomie" beweise. Also mehr in die Verteidigung investiere. Auf Schützenhilfe aus dem Weißen Haus sollte man sich da eher nicht verlassen.

Wie reden über diese Sachen ja schon seit Jahrzehnten: Wir müssen mehr Europa haben! Europa muss selbständiger werden! Die Frage ist nur: Warum ist da so wenig passiert? Weil - davon bin ich überzeugt - der Druck einfach nicht groß genug ist. Die Europäer fühlen sich nicht so bedroht, dass sie sich als eine Verteidigungsgemeinschaft begreifen. Jeder Mitgliedsstaat hat bislang höchstens die Interessen der heimischen (Rüstungs)-Industrie im Sinn. Es ist eine absurde Situation, dass alle von der Verteidigungsfähigkeit Europas sprechen, aber in der konkreten Umsetzung jeder vor allem innenpolitische Interessen verfolgt. Ich glaube, die Europäer werden erst aufwachen und zu grundlegenden Strukturreformen kommen, wenn sie wirklich müssen. Doch dann ist es vielleicht zu spät.

Aber schnell geht doch in dieser Frage sowieso nichts. Darauf hat letzte Woche die Verteidigungsministerin ja noch einmal hingewiesen. Wörtlich: "Die USA stellen derzeit 75 Prozent der Nato-Fähigkeiten." Hinzu käme, dass nahezu 100 Prozent der ballistischen Abwehrfähigkeiten amerikanisch seien: "All das zu kompensieren, würde nach seriösen Schätzungen Jahrzehnte dauern." Das klingt, als säßen wir verteidigungspolitisch in der Klemme?

Ich glaube, dass Annegret-Kramp-Karrenbauer in ihrer Analyse letztlich Recht hat. Die Zahlen sind ja Beweis genug, dass Europa in der Tat sicherheitspolitisch ein Zwerg ist. Und die Frage ist natürlich dann, was macht man jetzt? Was ist realistisch? Also einen deutschen Verteidigungshaushalt von 90 Milliarden Euro zu fordern: eher nicht.

Rein praktisch geht das natürlich mit einigen Turbulenzen einher, wie man jetzt beim beschleunigten Truppenabzug der Amerikaner aus Afghanistan sieht. Die Bundeswehr muss sich darauf einstellen, diesen Winter noch verdammt schnell mit von Bord zu gehen. Sonst wird es ungemütlich. Für die Afghanen auf jeden Fall: denn nach fast 20 Jahren ISAF-Mission stehen die Taliban schon wieder bereit zu übernehmen.

Ja, das ist eine wirklich obskure Situation. Aber auch die Folge eigener Strategielosigkeit. Denn um was ging es denn in Afghanistan? Immer nur darum, Bündnissolidarität mit den Amerikanern zu zeigen. Wenn wir ein Interesse hätten und wirklich glauben, dass zumindest verhindert werden muss, dass Afghanistan wieder an die Taliban fällt, dann müsste sich Europa viel stärker engagieren. Wenn wir aber der Meinung sind, dass ist egal hinsichtlich unseres eigenen Sicherheitsinteresses, dann hätten wir gar nicht erst nach Afghanistan gehen sollen. Also da wird das ganze strategische Dilemma deutlich. Und es ist eigentlich ein Armutszeugnis jetzt nur zu sagen: "Gemeinsam rein, gemeinsam raus!"

Ausgerechnet als das Pentagon verkündete, noch vor dem Ende der Amtszeit Donald Trumps werde man die meisten US-Soldaten abziehen, machte eine weitere Afghanistan-Meldung die Runde: Australische Kampfeinheiten hätten dort in den vergangenen Jahren mehrfach gezielt Zivilisten ermordet. In Ihrem Buch schreiben Sie, auch deutsche Soldaten hätten zumindest von solche Kriegsverbrechen gewusst. Zitat: "So waren selbst hartgesottene Soldaten des KSK erschüttert, als ihnen Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten."

Also nach meinem Wissen haben Bundeswehrsoldaten in Afghanistan selbst keine Kriegsverbrechen begangen. Es sind Geschichten, die sie gehört haben von anderen. Und ehrlich gesagt, jeder, der sich mit Afghanistan beschäftigt, weiß, was da passierte. Den "guten" Krieg, den gibt es nicht. Im Krieg wird getötet. Und es werden dabei immer wieder auch Zivilisten oder Gefangene getötet - leider. Klar, das sind Verbrechen. Und Verbrecher gehören verurteilt. Und dafür gibt es eine Justiz, die in Australien nun tätig wird. Niemand will solche Schlagzeilen haben, wie sie die Australier grad haben? Sowas will keiner ...

Zur Person Sönke Neitzel, 1968 in Hamburg geboren, ist deutscher Historiker mit dem Schwerpunkt Militärgeschichte. Nach Stationen in Glasgow (2011/12) und London, wo er von 2012 bis 2015 Professor der renommierten London School of Economics war, lehrt er nun am Historischen Institut der Universität Potsdam. Er hat dort den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt inne.

Neitzel ist Autor und Herausgeber zahlreicher Aufsätze und Bücher über die deutsche Geschichte, insbesondere die Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts und auch wiederholt als Fachberater diverser historischer Dokumentationen der ARD und das ZDF in Erscheinung getreten.

... insbesondere in Deutschland, wo ja nahezu jeder Auslandseinsatz heiß diskutiert wird. Natürlich vor dem Hintergrund berüchtigter Auslandseinsätze früherer deutscher Armeen. Ist diese historisch bedingte Zurückhaltung nicht auch berechtigt?

Das Problem ist doch, dass man manchmal glaubt, einen Krieg führen zu müssen. Gegen den IS zum Beispiel. Und wenn man den IS bombardiert, sterben auch Zivilisten dabei. Das muss einem völlig klar sein. Nur, wenn man nichts getan hätte, hätten wir nach wie vor ein Kalifat mit den bösen Bildern von den enthaupteten Menschen.

Und das ist eben die Doppelmoral, die wir Deutschen haben. Wir wollen eigentlich mit all dem nichts zu tun haben. Die sollen sich alle gut vertragen und Demokraten werden. Aber das Modell Demokratie ist global massiv unter Druck geraten. Und schon deswegen würde ich mir eine wehrhafte Europäische Union wünschen, die bei den internationalen großen Konflikten stärker ihre Interessen durchsetzt und dafür auch einen „Big Stick“ in der Hinterhand hat. Und deswegen dann auch eine starke Verhandlungsposition hat. Aber dazu fehlt derzeit der Wille. Besonders in Deutschland. Wenn die Deutschen an Krieg denken, denken sie an Auschwitz, Stalingrad. Die Briten denken an Strategie, die Deutschen an Verbrechen.

75 Jahre nach Kriegsende sicher einmal mehr. Aber die Skepsis resultiert natürlich auch daraus, dass politische Beschlusslagen und die konkrete Realität eines Einsatzes sich diametral auseinanderbewegen. In Afghanistan etwa wurde vor zehn Jahren erst mit zweijähriger Verspätung das Wort Krieg in den öffentlichen Diskurs eingebracht. Als sich die häufenden Särge quasi nicht mehr verstecken ließen.

Was da zwischen 2008 und 2011 in Afghanistan passierte, das war einfach nicht vorgesehen. Das hätte nie passieren sollen. Im Kosovo, da hatte man mit seinen Tornados noch serbische Radarstellungen bekämpft. Da gab es keine Kollateralschäden. Das war aus deutscher Sicht ein "sauberer", vor allem ein kurzer Krieg. Afghanistan war der Unfall. Die Deutschen haben ja lange versucht, keinen Krieg zu führen. Und wurden dann hineingezwungen.

Die Folge war eine Dissonanz zwischen der Afghanistan-Erfahrung der Soldaten und dem politischen Reden über Afghanistan. Man hat versucht, das böse Wort vom Kämpfen rauszudeklinieren. Das führt dann dazu, dass man - nicht bei allen, aber bei vielen Soldaten eine massive Frustration auftat: Wir sind eine Kampftruppe. Wir werden ausgebildet im Kampf. Und die Bundestagsabgeordneten kommen vorbei und erkundigen sich nach der Mülltrennung. Man hat den Auftrag nicht verstanden. Man hat die Politik nicht verstanden.

In der Tat haben sich Afghanistan-Veteranen nach ihren Einsätzen früh schon zu Wort gemeldet und ihrem Frust freien Lauf gelassen. Letztlich ohne wirklich durchgedrungen zu sein, oder?

Nun, etliche davon haben die eigene militärische Führung wirklich als politische Lakaien wahrgenommen. Und dann kam noch Ursula von der Leyen und sagte: Ihr habt in der Truppe ein Haltungsproblem! Und das, wo es zuvor Fälle gab, wo Politiker in Afghanistan bei heiklen Operationen sagten: Ja, könnt ihr alles machen. Aber ich übernehme nicht die Verantwortung. Ich weiß von nichts. Und sowas hat jetzt nicht unbedingt die Wahrnehmung gefördert, dass Politiker besonders verantwortungsvoll wären. Und wenn dann die neue Verteidigungsministerin noch sagt, „Ihr habt ein Haltungsproblem!“, dann hat das dazu geführt, die Verbindung zur Politik nicht gerade gestärkt wurde. Und gerade in den Kampftruppen haben sich wohl viele von den Volksparteien abgewendet. Hier dürfte der Anteil von AfD-Wählern, zumindest in der Zeit von Ursula von der Leyen, hoch gewesen sein.

Aktuell sind ja noch ein paar Anspannungslagen hinzugekommen. Und es ist ja längst nicht nur die AfD, die von rechtsaußen sehr offensiv in Reihen der Bundeswehr für sich wirbt. Zieht das, die Lockstrategie: Mit uns wird es eine deutliche Aufwertung des Berufs Soldat geben?

Nun ja, wir erleben ja durch aus eine stärkere Spaltung in Deutschland. Und diese angespannte Lage, geht auch an der Bundeswehr nicht spurlos vorbei. Man muss sogar sagen: Es trifft sie in einem ihrer schwächsten Momente. Warum? Ich nenne das die "vertikale Kohäsion": den Zusammenhalt zwischen Armee, Staat und Gesellschaft. Also die Wahrnehmung der Soldaten, für diese Bürger, für diese Politiker sind wir da im Einsatz. Wir kämpfen für dieses Land, diesen Staat. Und diese vertikale Kohäsion kann man als Historiker in allen Epochen betrachten. Die war mal stärker, mal schwächer.

Und aktuell ist sie, würde ich sagen, so schwach wie zum Ende der Weimarer Republik! Und warum? Weil man sie seit 20 Jahren mit Füßen tritt. Also wenn Auftrag und Mittel massiv auseinandergehen, wenn Soldaten schon 2001 sagen: Haltet mal die Füße still mit euren ständig neuen Operationen! Wir müssen mal die geplanten Reformen zu Ende bringen. Dann  können wir auch gerne wieder neue Operationen machen. Aber die müssen Sinn machen. Und die müssen wir verstehen. Wir wollen nicht wieder irgendwo hingeschickt werden und dann macht mal irgendwas.

Es kamen ja schon ganz früh diese Fragen auf. 2002 schon: Gegen wen kämpfen wir eigentlich in Afghanistan? Was sollen wir überhaupt hier? Auf diese Stimmen, muss man leider sagen, hat die Politik zumindest bis 2019 nie wirklich gehört. Aktuell meine ich aber in den Reden von Wolfgang Schäuble, Frank-Walter Steinmeier oder auch Kramp-Karrenbauer doch eine neue Tonalität erkennen zu können. Das Problem scheint endlich erkannt zu sein.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: MDR Aktuell Radio | 23. November 2020 | 14:11 Uhr

Dieses Thema im Programm: Aktuell | 20. Dezember 2020 | 19:30 Uhr