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Warum die Tschechoslowakei zerfiel

07. Dezember 2020, 12:08 Uhr

Silvester 1992: Tschechien und die Slowakei gehen ab nun getrennte Wege. Das Fernsehen zeigt in Prag und in Bratislava Bilder wie überall auf der Welt: feiernde Menschenmassen, Sektflaschen, Feuerwerk. Von einem allgemeinen Freudentaumel wie in Deutschland bei der Wiedervereinigung 1990 ist man jedoch weit entfernt. Eher hängt die ungläubige Frage in der Luft: Was haben wir bloß gemacht? Denn Umfragen zufolge waren sogar zwei Drittel der Bürger gegen die Trennung. Und doch blieb nichts anderes üblich, denn auch wenn sie zusammenbleiben wollten, konnten sich die Tschechen und die Slowaken nicht auf eine gemeinsame Zukunftsvision einigen. Die Gründe waren vielfältig.

von Cezary Bazydło

Formal war die Tschechoslowakei seit 1969 eine Föderation, die sich aus zwei Republiken mit weitreichender Autonomie zusammensetzte. Auf der symbolischen Ebene tat die Regierung viel um, die Gleichberechtigung der beiden Nationen herauszustellen. Die Fernsehnachrichten etwa wurden jeweils zur Hälfte in tschechischer und slowakischer Sprache verlesen. Eine echte Selbstbestimmung war den Slowaken jedoch nicht beschieden, die Autonomie stand nur auf dem Papier, in Wahrheit wurde das Land zentralistisch von Prag aus regiert, von der allmächtigen Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. So war es schon immer: Auch in der Ersten Republik vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die zahlenmäßig und wirtschaftlich überlegenen Tschechen de facto das Sagen im gemeinsamen Staat.

Kein Volk der Welt wird sich nur mit einer Föderation zufriedengeben, jedes Volk will einen eigenen Staat. Während sich die Tschechen schon von 1918 an mit derTschechoslowakei als ihrem Nationalstaat identifizierten, wurde sie in der Slowakei stets als Union zweier Nationalstaaten aufgefasst.

Jan Rychlík, Institut für Tschechische Geschichte, Karlsuniversität Prag

Die Vorurteile lebten weiten

Die während des Sozialismus verkündete Gleichberechtigung änderte nicht viel an dieser Situation. In beiden Völkern lebten unter der schönen Oberfläche die gegenseitigen Vorurteile weiter. Otto-Normaltscheche war fest davon überzeugt, dass "seine" Steuermillionen in der angeblich rückständigen Slowakei landen. Umgekehrt schwor jeder Taxifahrer in Bratislava, dass die Tschechen sich mit slowakischen Steuergeldern eine schicke U-Bahn in Prag bauen. Viele Slowaken empfanden ihre tschechischen Mitbürger als überheblich, als Menschen, die sich als Missionare gebärdeten, die der etwas schwächer entwickelten Slowakei Zivilisation und Kultur gebracht hätten. Die Tschechen wiederum konnten sich nur schwer mit der vermeintlichen Undankbarkeit ihrer slowakischen Brüder abfinden. Auch historische Gegebenheiten aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Slowakei ein Vasallenstaat von Hitler-Deutschland wurde, während die von Hitler sogenannte "Rest-Tschechei" besetzt wurde, wirkten lange nach.

Eine Scheidung wird unausweichlich

Die kommunistische Diktatur, in der nationale Bestrebungen tabu waren, wirkte aber gewissermaßen wie ein Gefrierfach, das die nationalen Ambitionen und Animositäten unsichtbar machte, ohne sie zu beseitigen. Umso stärker brauchen sie nach der Samtenen Revolution 1989 hervor. Auch in der Mentalität, Alltagskultur und vor allem Wirtschaftsleistung gab es durchaus Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen. Schnell wurde daher offenbar, dass es nicht die eine tschechoslowakische Gesellschaft gibt, sondern zwei Gesellschaften, die Jahrzehnte lang nur miteinander und ein Stück weit auch nebeneinander gelebt hatten. Und so kam es, wie es kommen musste: Die beiden Gesellschaften begannen, sich rasant auseinander zu entwickeln, nachdem der kommunistische Gefrierschrank ausgeschaltet wurde. Eine Scheidung war am Ende unausweichlich.

Der eigentliche Prozess der Auflösung der Föderation begann schon 1990 und wurde systematisch vorangetrieben.

Vladimír Mečiar, erster frei gewählter Ministerpräsident der Slowakei

Eine Folge dieser Situation war, dass sich in den beiden Landesteilen nach 1989 unterschiedliche, voneinander getrennte Parteienlandschaften herausbildeten. Keine einzige Partei war in der Lage, föderationsweit bei den Wählern zu punkten, mit Ausnahme der Kommunisten. Und auch die politischen Programme unterschieden sich grundlegend. Die Tschechen bevorzugten schnelle Reformen und den Übergang zu einer neoliberal geprägten Marktwirtschaft "ohne Adjektive" (Anders als in Deutschland mit seiner "sozialen Marktwirtschaft", hält sich der Staat in Tschechien bis heute viel stärker aus den wirtschaftlichen Aktivitäten seiner Bürger heraus). Auch wenn viele die schnelle Privatisierung von Staatseigentum und die nötigen Einschnitte im Lebensstandard nicht unkritisch sahen, so überwog doch die Einsicht, dass die sozialistische Planwirtschaft am Ende war. Die Slowaken wünschten sich deutlich langsamere Reformen, mehr soziale Sicherheiten und viel Staat in der Wirtschaft.

Ballast Slowakei

Die unterschiedliche Wirtschaftskraft der beiden Landesteile trug zu dieser Polarisierung bei. Böhmen war schon im 19. Jahrhundert das industrielle Herz der Habsburger-Monarchie und stand auch innerhalb des ehemaligen Ostblocks wirtschaftlich relativ gut da. Die Slowakei war ursprünglich ein Agrarland und wurde während des Sozialismus forciert, aber einseitig industrialisiert. Das hatte nun negative Konsequenzen, denn slowakische Schwer- und Rüstungsindustrie hatte ihre Absatzmärkte im Osten verloren. Ein Massensterben der Betriebe und eine 20-prozentige Arbeitslosigkeit waren die Folge. Ein Wunder, dass die Tschechen viel optimistischer in die Zukunft blicken konnten und auf ein schnelles Wirtschaftswunder nach westdeutschem Vorbild hofften. Viele waren sogar der Meinung, ohne den "Ballast" Slowakei deutlich schneller den Anschluss an die Wohlstandszone Westeuropas finden zu können. Beide Landesteile strebten schon damals eine Mitgliedschaft in der heutigen EU an.

Uns war klar, dass der Staat dadurch kleiner und in diesem Sinne schwächer wird. (…) Uns war aber auch klar, dass wir daraus gestärkt hervorgehen, weil es dann zwei eigenständige Staaten geben wird, die nicht unter einem unterbrochenen Kampf um Kompetenzen zwischen Prag und Bratislava leiden.

Václav Klaus, damals Finanzminister, später Premier und Staatspräsident

Zwei Politiker mit Geltungsdrang

Die Gesichter der beiden konträren Programme wurden Václav Klaus in Tschechien und Vladimír Mečiar in der Slowakei. Auch ihrem politischen Temperament wird ein Stück weit die "Schuld" am Zerfall des gemeinsamen Staates gegeben. Jiří Dienstbier, der erste tschechische Außenminister, erinnerte sich nach Jahren, dass beide große Ambitionen hatten und nicht bereit waren, die Macht zu teilen. Stattdessen hätten sie die Trennung vorgezogen, um in ihrem jeweiligen Land uneingeschränkt die erste Geige zu spielen.

Nach den vorgezogenen Wahlen im Juni 1992 wurde endgültig klar, dass die Wünsche der beiden Völker unvereinbar sind. Dann ging alles sehr schnell. Nach einer Serie von Verhandlungsrunden wurde im Juli die Trennung beschlossen. Am 25. November um 13:21 Uhr stimmte das Bundesparlament mit knapper Mehrheit zu. Zum 31. Dezember 1992, punkt 24 Uhr, hörte der gemeinsame Staat der Tschechen und Slowaken 74 Jahre nach seiner Gründung auf zu existieren. Die beiden Völker wollten eigentlich bis zuletzt unter einem Dach weiter leben, konnten sich aber nicht darüber einigen, wie ihre "Ehe" künftig aussehen soll.


Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im:TV | 23.06.2017 | 17:45 Uhr