Kinder stehen in einer Schlange für eine Impfung an
Pflichtimpfung in der DDR Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Medizingeschichte Der Kalte Impfstoff-Krieg: damals Polio, heute Sputnik V

20. Februar 2021, 05:00 Uhr

Im Kampf gegen das Corona-Virus ist Russland das erste Land, das bereits im Sommer 2020 den Impfstoff entwickelt hat. Inzwischen ist die Wirksamkeit bestätigt. Die schnelle Zulassung und der Name – eine Anspielung auf den ersten sowjetischen Satelliten – verstärken aber den Eindruck, dass Russland unbedingt den weltweiten Wettlauf um den ersten Corona-Impfstoff gewinnen wollte und dass es hier nicht nur um Medizin, sondern auch um Politik ging – ähnlich, wie bei der Polio-Impfung zu DDR-Zeiten.

In den 1950er Jahren kommt es in beiden deutschen Staaten zu Epidemien von Poliomyelitis, auch bekannt als Kinderlähmung. Die unheilbare Krankheit, die vor allem Kinder und Jugendliche betrifft, führt zu schweren Lähmungen und in manchen Fällen zum Tod. 1952 erkranken fast 10.000 Bundesbürger an Polio, 778 von ihnen sterben. Auch in der DDR gibt es 1953 9.750 Erkrankungen und 141 Todesfälle.

In dieser Zeit forschen deshalb mehrere Wissenschaftler gleichzeitig an einem Polio-Vakzin. Einen Erfolg verzeichnet bald der US-amerikanische Immunologe Jonas Salk. Ihm gelingt es, die Polioviren mit Formalin abzutöten und so erstmals einen Polio-Impfstoff zu entwickeln. 1955 wird dieser Impfstoff in den USA für wirksam erklärt, ohne Risiken für Geimpfte.

Fast zeitgleich gelingt es dem aus der UdSSR stammenden Forscher Albert Sabin an der University of Cincinnati einen Lebendimpfstoff aus abgeschwächten Polio-Viren zu entwickeln. Anders als Salks Impfstoff muss sein Vakzin nicht mit Injektionen verabreicht werden, sondern kann auf Zuckerwürfel geträufelt werden – die Polio-Schluckimpfung ist geboren. Sabins Vakzin gilt zwar als wirksamer, jedoch ist das Restrisiko, an Polio zu erkranken, leicht erhöht im Vergleich zum Impfstoff von Salk. Die USA setzen deshalb weiterhin auf Salks Impfstoff. Sabin nimmt unterdessen das Angebot aus der Sowjetunion an, seinen Impfstoff vom Virologen Michail Tschumakow weiterentwickeln zu lassen.

DDR-Impfpflicht bringt schnelle Erfolge

Dank dem sowjetischen Impfstoff können die Gesundheitsbehörden in der DDR ab 1960 flächendeckend Schluckimpfungen gegen Polio bereitstellen. Bereits seit den 1950er Jahren herrscht in der zentral verwalteten DDR eine gesetzliche Impflicht, die auch die Überlegenheit des sozialistischen Systems deutlich machen soll. Die Losung lautet: "Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe." Wer sich der Impfung verweigert, stelle sich gegen den Sozialismus. Mit der Verabreichung der Schluckimpfung gehen die Polio-Fälle in der DDR rapide zurück, 1961 gibt es noch vier Fälle von Kinderlähmung in der gesamten Republik. Die Gefahr durch Polio scheint in der DDR vorerst gebannt.

Ost-Berlin bietet Bonn "Entwicklungshilfe" an

Die Bundesrepublik hingegen verzeichnet noch immer zuhauf Fälle von Kinderlähmung. 1960 und 1961 kommt es zu einer weiteren Epidemie in Nordrhein-Westfalen. Mehr als 4.000 Menschen erkranken in dem Bundesland, etwa 300 sterben. Freiwillige Impfungen mit dem Salk-Vakzin bringen nicht den nötigen Erfolg, weil sich immer noch zu wenig Bürger impfen lassen.

Die DDR-Regierung versucht deshalb, ihren gesundheitlichen Vorsprung propagandistisch zu nutzen. Am 29. Juni 1961 bietet der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates Willi Stoph an, drei Millionen Schluckimpfungen ins schwer von Polio betroffene Ruhrgebiet zu schicken. Konrad Adenauer schlägt das Angebot von "Entwicklungshilfe" aus dem Osten aus – der Impfstoff sei der Bundesregierung zu unsicher. Die DDR-Medien verbreiten die Antwort im ganzen Land. Die Propaganda feiert den medizinischen Vorsprung und die gute Gesundheitsvorsorge als sozialistische Errungenschaft.

Einige Bundesländer beginnen im Westen schließlich eigenständig damit, den Polio-Impfstoff für die Bevölkerung zu organisieren. Als erstes Bundesland stellt Bayern 1962 Schluckimpfungen bereit, gefolgt von Nordrhein-Westfalen. Die Impfdosen kommen jedoch nicht aus der Sowjetunion, sondern werden aus den USA importiert. Mithilfe dieser Impfdosen gelingt es schließlich, die Kinderlähmung in Deutschland auszurotten. Der letzte Polio-Fall tritt 1990 auf.

Niedrige Impfbereitschaft

Neben der Impfpflicht war die flächendeckende Bereitstellung des russischen Impfstoffes ein wichtiger Schachzug im Kampf gegen das Polio-Virus. Ob sich mit Sputnik V das Szenario wiederholen könnte? Das ist momentan eher unwahrscheinlich, denn obwohl derzeit "Sputnik V"als vielversprechender Corona-Impfstoff gilt, scheint die Impfkampagne in Russland nur schleppend voranzukommen. Nur 1,6 Prozent der Russen wurden seit Sommer 2020 mit "Sputnik V" geimpft. In Deutschland haben seit Beginn der Impfungen Ende Dezember 2020 immerhin 3,3 Prozent eine Erstimpfung erhalten.

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Dieses Thema im Programm: MDR um 2 | 08. Januar 2021 | 14:00 Uhr