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"Sibylle"-Titelseiten in einer Ausstellung zu DDR-Mode. Bildrechte: IMAGO / epd

StilprägendSibylle: Die Zeitschrift für Mode und Kultur

06. Oktober 2022, 07:57 Uhr

Von 1956 bis 1994 war die "Sibylle" stilprägend für die modebewusste Frau in Ostdeutschland. Mit ihren künstlerisch anspruchsvollen Fotos setzte die "Vogue des Ostens" auch in der Fotografie Maßstäbe.

Schon der Auftakt war "sibyllinisch", also prophetisch und doppeldeutig. Das Editorial zur ersten Ausgabe der Frauenzeitschrift "Sibylle" vom August 1956 wandte sich an die geschätzten Leserinnen - und offenbarte die Kluft zwischen dem Anspruch, "Modezeitschrift von Welt" sein zu wollen und der Wirklichkeit einer nur gebremst kreativen Planwirtschaft. "Ich verspreche Ihnen, dass ich meine Augen überall haben werde - in Prag und Florenz, in Warschau und Wien, in Moskau und New York, in Peking und London – und immer wieder in Paris. Natürlich weiß ich sehr gut, dass Sie in der Vergangenheit ein wenig – na, sagen wir: stiefmütterlich behandelt worden sind. Da gab es nicht immer das zu kaufen, was Sie wollten, und was es zu kaufen gab, wollten Sie nicht…", schrieb die erste Chefredakteurin des Modejournals.

Und ich weiß natürlich auch, dass das, was ich Ihnen hier zeige, meist nicht im nächsten Geschäft an der Ecke auf der Stange hängt. Das werden Sie übrigens in keinem Land der Welt finden. Ein gutes Modejournal hat immer den Ehrgeiz, der Konfektion wenigstens ein halbes Jahr voraus zu sein.

Sibylle"-Chefredakteurin 1956

Mangelwirtschaft prägt die Produktion

Das Heft erschien zweimonatlich und kostete während der gesamten DDR-Zeit 2,50 Mark. Die Auflage lag im Durchschnitt bei 220.000 Stück. Schon in der zweiten Ausgabe beklagte ein Mitarbeiter der Post in einem Leserbrief die große Nachfrage, der er nicht gerecht werden könne. Die Redaktion antwortet: "Die Wahrheit ist höchst einfach: Wo nicht genug ist (Papier nämlich), hat bekanntlich auch die Kaiserin ihr Recht verloren."

"Sibylle": Ein Cover der Modezeitschrift Bildrechte: IMAGO / Felix Abraham

Die versprochene internationale Ausrichtung des Heftes beschränkte sich alsbald und überwiegend auf das sozialistische Ausland - 1988 etwa gab es Themen aus Ungarn, Polen und Kuba und Berichte von Mode-Fachtagungen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Und - wen wundert es - es fehlt in der Geschichte des Blattes auch nicht an den Episoden, die vom Glattbügeln handeln, vom Druck von oben. Eine ganze Ausgabe, so berichtete eine ehemalige Archivarin des "Verlags für die Frau", soll durch den Reißwolf gejagt worden sein, weil sie das Thema "Mythos Blue Jeans" zu provokant, zu leger, "zu kapitalistisch" behandelt habe. Aber die Mangelwirtschaft hatte auch positive Auswirkungen. Denn weil die Bekleidungsindustrie kaum in der Lage war, modische Qualität zu bieten, wurde aus der Not heraus selbst genäht. Zauberhafte Sachen entstanden – und die "Sibylle" war dabei durchaus Stil prägend.

Das lag an den Schnittmustern, die der Sibylle beilagen. Diese erfreuten sich großer Beliebtheit und galten als regelrechte Schätze. Oftmals wurden sie weitergegeben, bis sie auseinanderfielen.

Frau Melis macht Mode

Anfangs war die Modezeitschrift noch am Modestil der Vorkriegszeit orientiert – die elegante Lady oder die biedere Hausfrau bevölkerten die Seiten des Magazins. 1961 schrieb Dorothea Bertram (später verheiratete Melis) ihre Diplomarbeit über die Zeitschrift – und verriss und kritisierte Gestaltung und Inhalte so radikal, dass sie von der Chefredakteurin eingeladen wurde, den Modeteil neu aufzuziehen. "Mein Ideal war in den 60er-Jahren die "twen" mit ihrem verrückten Layout und den ungestellten Fotos", erinnert sich die Modefrau 2007 in einem Interview mit "Welt-online". "Als die Mannequins bei meiner ersten Modeproduktion vor dem Pergamonaltar so gekünstelt posierten, habe ich den Fotografen überzeugt, sie einfach ganz natürlich auf die Stufen zu setzen. Da war der Anfang gemacht…"

Fotos mit dem gewissen Etwas

Die Modefotografie der Sibylle war eine künstlerische Fotografie – sie strahlte oftmals die Schönheit des Natürlichen aus, oft auch einen Hauch Erotik. Fotografen wie Roger Melis, Arno Fischer, Günter Rössler, Sibylle Bergemann oder Ute Mahler inszenierten atmosphärisch geladene Fotos, oft an Außenschauplätzen wie etwa auf dem Dach des Alten Museums in Berlin. Für talentierte Fotografen in der DDR war die Modefotografie eine Nische im System.

Individualität wurde zugelassen. Weder mondän-lasziv noch damenhaft, sondern natürlich und klug wirkten die Frauenfiguren der Sibylle. Und weil die DDR-Frauen durch das Tragen kurzer Kleidchen degradiert worden wären, wurden auch schon mal Miniröcke fototechnisch verlängert. In ihrer Besprechung des 1998 erschienenen Bandes "Sibylle. Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR" schreibt die Autorin Grit Poppe: "Die Frauen - 90 Prozent waren berufstätig, viele durch Haushalt und Familie doppelt belastet - sollten sich bloß nicht gehenlassen. Die Fotos suggerierten: So könntest du auch aussehen, wenn du dir ein bisschen mehr Mühe gibst. Die Modefotografie sollte also nicht nur anregen und unterhalten - sie sollte auch erziehen."

Von der Ausnahmeposition ins Aus

Die Ausnahmestellung der Zeitschrift bestand darin, dass sie sich mehr und mehr einen für DDR-Verhältnisse elitären Touch gab. Statt – wie vom Staat gewünscht – die breite Zielgruppe der werktätigen Frauen anzusprechen, wandte sie sich zunehmend der Gruppe intellektueller Frauen aus der Kulturszene zu. Bis 1994 konnte sich die "Sibylle" nach der Wende halten, dann scheiterte ein letzter Versuch von Redakteuren, die Zeitschrift im Selbstverlag vor dem finanziellen Aus zu retten.

Was die Mode im Zeitalter der deutschen Einheit angeht, meint die ehemalige Sibylle-Redakteurin Dorothea Melis bei "Welt-Online": "Die Deutschen sind solide. Hier manifestiert sich der Luxus weniger in der Mode als im Auto. Den Leuten im ehemaligen Osten ist es wichtig, einen neuen BMW, Mercedes oder zumindest einen tollen VW zu haben. Bei der Kleidung kaufen sie eher gängige Konfektion. Die Ostdeutschen sind im Grunde konformistischer geworden als jemals zuvor."

BuchtippSibylle, Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR von Dorothea Melis

2000 erschienen im Verlag "Schwarzkopf & Schwarzkopf"
Auflage vergriffen, nur im Antiquariat

BuchtippGünter Rössler: Mein Leben in vielen Akten

Autobiografie, Verlag Das Neue Berlin, 2005, 24,90 Euro, ISBN: 3-360-01275-5Berlin

Der Artikel wurde zuletzt 2014 veröffentlicht und 2022 aktualisiert.