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Am Ziel in Jakutien: Michael Funke (2.v.r. mit Bart) und seine Freunde werden schnell zu Ehrengästen in Jakutsk und Pokrovsk. Bildrechte: Michael Funke

Trickreich durch die Sowjetunion - Eine Reise an die Lena 1984

20. Juli 2018, 11:16 Uhr

Eine Reise in die Sowjetunion war für DDR-Bürger noch schwieriger als ein Besuch in den anderen sozialistischen Ländern - nahezu aussichtslos, wenn man auf eigene Faust unterwegs sein wollte. Der Trick: Den Visabehörden glaubhaft machen, dass man zwingend durch die UdSSR reisen musste, um zu seinem Ziel, etwa in Rumänien, zu gelangen. Dann gab es ein Transitvisum. War ein "Transitnik" erstmal in der Sowjetunion, kostete er das aus. So auch Michael Funke.

von Michael Funke

Wie weit schafft man es, in die Sowjetunion hineinzukommen? Diese Frage beschäftigt uns, eine Gruppe aus der Leipziger Studentengemeinde, Mitte der 1980er-Jahre. Zweimal war es uns schon gelungen, nur mit einem Transitvisum mehrere Wochen durch die Sowjetunion zu reisen. Beide Male glückte uns eine halbwegs legale Ausreise über Kischinew (heute wieder Chisinau), die Hauptstadt der Moldauischen Sowjetrepublik, nach Rumänien.

Am Anfang steht eine formlose Einladung

Ein für Sibirien typisches Stadthaus mit Holzfassade und mehrfach verglasten Fenstern, nur die kleinen Oberlichter lassen sich öffnen. Bildrechte: Michael Funke

Von diesen Erfolgen angestachelt und voller Abenteuerlust studieren wir im Winter 1983/84 die Karte der Sowjetunion und wählen fünf Städte am sibirischen Fluss Lena als mögliche Ziele aus. Wir schicken – ohne eine genaue Adresse zu haben - an die dort vermuteten Komsomol-Organisationen einen Brief auf Russisch. Darin stellen wir uns als Studenten und Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) vor, die gerne die Komsomolzen vor Ort in Jakutien besuchen möchten. Ein Komsomol antwortet tatsächlich mit so etwas wie einer Einladung. Nur aus dem Briefstempel können wir erraten, dass das formlose Schreiben aus Pokrowsk, einer kleinen Stadt ca. 75 Kilometer südlich von Jakutsk, kommt.

KomsomolDer Komsomol war die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Der Verband hatte Millionen Mitglieder und war auf allen Ebenen der sowjetischen Gesellschaft organisiert, angefangen in den Betrieben und Bildungseinrichtungen - vergleichbar der Jugendorganisation FDJ in der DDR.

Wir beantragen wie gewohnt unsere Transitvisa nach Rumänien und erhalten diese auch wieder problemlos. Mitte Juli 1984 startet unser Abenteuer in den Fernen Osten. Mit dem Schlafwagenzug fahren wir – wie bei fast allen unseren Sowjetunion-Reisen - von Berlin nach Kiew, den Spurwechsel in Brest natürlich inklusive. In Kiew stärken wir uns zunächst bei guten Freunden. Doch es gibt ja auch noch Reiseformalitäten zu erledigen, wenn wir es an die Lena schaffen wollen!

Wir überlisten mit dem Komsomol das System

Sowjetischer Klassizismus: Die Säulen dieses Bauwerks in Kiew sind 40 Meter hoch. Hier residierte die Kommunistische Partei der Ukraine. 1991 wurde das Wappen ausgetauscht und das Außenministerium der unabhängigen Ukraine zog ein. Bildrechte: Michael Funke

Wir wollen das System mit seinen eigenen Mitteln überlisten und gehen mit dem formlosen Brief des Pokrowsker Komsomol zum Komsomol der Ukrainischen Sowjetrepublik. In Leipzig hatten wir gar nicht erst versucht, mit dem Schreiben ohne Kopf und Stempel offizielle Reisepapiere zu erhalten. Beim obersten Komsomol der Ukraine erklären wir, dass wir die "Einladung" zu kurzfristig bekommen hätten, um noch Visa zu beantragen. Dazu schwärmen wir von früheren Reisen in die Sowjetunion und irgendwie stellen wir Vertrauen zu dem "Sekretär für Touristik" her. Der junge Mann erweist sich als ausgesprochen erfreut und kooperativ, will mit Pokrowsk telefonieren. Am nächsten Tag gibt er uns einen Dolmetscher mit, der uns zur Polizei begleiten soll. Polizei? Wir machen uns mit gemischten Gefühlen auf den Weg.

Die für Ausländer zuständige Abteilung der Polizei weiß von nichts. Wir wiederholen unsere Geschichte, niemand schöpft Verdacht. Offenbar sind wir von so hoher Stelle geschickt worden, dass wir nur noch gefragt werden, wie lange wir im Land zu bleiben gedenken. Wir pokern und es wird ein Monat! In Nullkommanichts erhalten wir die richtigen Stempel auf unsere Transitvisa sowie die erforderlichen Ein- und Ausreisepapiere. In gebührender Entfernung vom Polizeigebäude fallen wir uns erstmal um den Hals.

Die Legende von den durchreisenden Ausländern

Ohne Keller und auf Betonpfählen, nur so können Gebäude in Permafrostgebieten stabil errichtet werden. Bildrechte: Michael Funke

Mit Tricks geht es weiter, um an Flugtickets von Kiew nach Moskau zu kommen, denn offiziell sind in der Sowjetunion immer alle Flüge ausgebucht. Freie Plätze gibt es nur gegen ein ausreichend hohes Trinkgeld. Wir wiederholen hartnäckig, dass wir uns als Ausländer nicht länger in Kiew aufhalten dürften, was nicht einmal richtig gelogen war.

Endlich in Moskau, begeben wir uns zu einem Studentenwohnheim. Wir schaffen es, hineinzukommen und übernachten im Zimmer eines Bekannten. Am nächsten Morgen macht die immer noch Diensthabende an der Pforte einen sichtlich erleichterten Eindruck, dass wir wieder abrücken. Mit der bewährten Legende, dass wir nur auf Durchreise seien, erhalten wir noch für den Abend Flugtickets nach Jakutsk.

Eines von vielen Picknicks in unberührter Natur an der Lena Bildrechte: Michael Funke

In Jakutsk werden wir am nächsten Morgen noch auf dem Rollfeld von zwei Vertreterinnen des örtlichen INTOURIST-Büros abgefangen. Wir haben aber wieder Glück und können den Frauen glaubhaft machen, dass wir keine Unterstützung benötigen. Unbehelligt kommen wir in die Stadt und stehen bald am Fluss unserer Sehnsucht – der Lena, an dieser Stelle sieben Kilometer breit.

INTOURISTDie staatliche Reiseagentur der Sowjetunion hatte das Monopol für die Reisen ausländischer Touristen in die UdSSR und die Auslandsreisen der eigenen Bürger. Es wurde 1929 gegründet und betreibt noch heute - inzwischen im Besitz des Konzerns Thomas Cook - zahlreiche Filialen und Hotels in Russland.

Ehrengäste in Jakutien

1984 das erste Haus am Platz in Jakutsk: Hotel Lena Bildrechte: Michael Funke

In Pokrowsk sind wir aber noch nicht. Tickets für den Bus oder Plätze in einem Taxi – alles ausverkauft. So weit im Osten der Sowjetunion verfängt unser Standardtrick "Ausländer nur auf Durchreise" nicht. Doch Rettung naht unverhofft in Gestalt zweier Jakutsker Komsomolzinnen. Plötzlich haben wir einen eigenen Bus und werden im ersten Hotel am Platz untergebracht. Wir sind inzwischen so etwas wie Staatsgäste. Für unser Wohl zu sorgen, wird dem Jakutsker Komsomol zur Ehrensache. Wir dürfen sogar im Institut für Dauerbodenkunde in die in den Dauerfrostboden gehauenen Gänge hinabsteigen und bewundern die Ablagerungen aus Jahrmillionen Erdgeschichte.

Die Jakutsker Komsomolzen organisieren für uns die Weiterreise nach Pokrowsk per Bus. Am westlichen Ufer der Lena wartet schon eines der Tragflächenboote, die hier die Fährverbindung über den Fluss herstellen. Ein junger Mann springt uns entgegen und ruft: "Da sind ja meine deutschen Freunde!" Es ist der Sekretär des Komsomol von Pokrowsk. Auch er hat schon alles für die Gäste aus der fernen DDR vorbereitet.

Ob Fleisch vom selbstgebauten Grillspieß oder eine Fischsuppe aus frischem Fang - die Reise an die Lena hatte auch kulinarische Höhepunkte. Bildrechte: Michael Funke

Am anderen Ufer erwarten uns weitere Komsomolzen mit einem kräftigen Picknick am Lagerfeuer. Nach der Stärkung geht es mit kleinen Booten die Lena hinauf. An Bord: eine Kiste Wodka, eine Kiste Brot, eine Kiste Kondensmilch und eine Kiste rohes Fleisch. Wir verbringen drei erlebnisreiche Tage inmitten wunderbarer wilder sibirischer Natur mit spannenden Gesprächen und köstlicher Fischsuppe. Und als ob dies noch nicht genug wäre, dürfen wir noch weiter flussaufwärts eine große Ausgrabungsstätte besuchen, an der Reste einfachster Steinwerkzeuge entdeckt worden waren. Erst nach 1989 erfahren wir, wie einmalig und bedeutend die Fundstelle Diring-Yuriakh tatsächlich ist.

Erste legale Ausreise aus der Sowjetunion

Irgendwann müssen wir aber wieder nach Jakutsk zurück. Im Komsomol-Bus werden wir flussabwärts chauffiert, nicht ohne an der Grenze zum nächsten Rayon nach schamanischem Brauch der jakutischen Ureinwohner Bänder an einen Baum zu binden und die Geister noch mit einem Schluck Wodka zu verabschieden. Wir wollen dann weiter auf eigene Faust die Sowjetunion über den Baikal und Irkutsk verlassen, doch der Jakutsker Touristik-Sekretär bleibt hart: Das gehe nur im Winter bei zugefrorener Lena. Als Trostpflaster erhalten wir einen Zuschuss für den Rückflug und Tickets nach Odessa sind auch kein Problem. Wir werden herzlich, mit viel Wodka und einer Reihe von traditionellen jakutischen Gastgeschenken verabschiedet und verlassen die Sowjetunion das erste Mal absolut legal.

Wir haben das System überlistet - dank vieler hilfsbereiter und gastfreundlicher Menschen in der Sowjetunion. Und wir haben auch auf dieser Reise wieder Freundschaften geschlossen.

Über Michael FunkeFunke ist promovierter Physiker, studierte auch Soziologie und Theologie. Seit 1994 ist er selbstständiger Organisationsberater in Leipzig.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV:LexiTV | 08.06.2016 | 15:00 Uhr