1985 Vom Drahtesel zum Nasenfahrrad

28. September 2016, 11:43 Uhr

Lutz Kramer, Sohn eines Optikers und selbst Brillenträger, baute in den 1980er-Jahren Brillengestelle aus Fahrradspeichen. Seine Ware fand reißenden Absatz. Hier erzählt er seine Geschichte.

Mehr Brillen braucht das Land

Statistisch gesehen trug in der DDR jeder Zweite eine Brille und jeder Brillenträger kannte das leidige Problem mit der Brillenversorgung. Das Problem lässt sich kurz beschreiben: Entweder die so genannte Sehhilfe war hässlich, teuer oder gar nicht zu bekommen. Oder: es gab die Brille aber erst nach langer Wartezeit. Den Frust darüber bekamen vor allem die Optiker zu spüren. So auch Lutz Kramer, der in den späten Achtzigern in das Optiker-Fachgeschäft seines Vaters einstieg.

Wenn die Gläser angefertigt werden mussten, hat das schon mal fünf Monate gedauert. Die Betriebe haben sich aufgeregt, Eingaben geschrieben, weil die Leute in der Zeit teilweise gar nicht arbeiten gehen konnten. Da gab es öfter mal ein bisschen Stress, was wir effektiv gar nicht zu vertreten hatten.

Lutz Kramer

Die Eingaben gingen meist an die Rathenower Optischen Werke ROW – das ware d i e Brillenproduzenten in der DDR. Die Produktion von Gläsern und Gestellen wurde dort jedes Jahr erhöht. Trotzdem kamen die Brillenbauer der Nachfrage sowohl mengenmäßig als auch gestalterisch nicht hinterher. Dabei wurden in Rathenow schon modische Brillen entworfen und gefertigt. Allerdings bekamen die Brillenträger der DDR sie in der Regel nur einmal zu Gesicht: zur Leipziger Messe.

Da hat nicht einmal eine Tüte Kaffee beim persönlichen Besuch geholfen. Die waren auf dem DDR-Markt effektiv nicht verfügbar. Das waren reine Exportwaren gewesen.

Lutz Kramer

Sehhilfen aus Fahrradspeichen

Als selbst betroffener Brillenträger wollte sich Lutz Kramer damit nicht zufrieden geben. Zu seiner Optikerlehre fuhr er damals jeden Tag mit dem Fahrrad. Dabei kam ihm irgendwann eine Idee.

Ja, das war so eine lustige Sache. Ich bin in den Fahrradladen um die Ecke gegangen und habe damals so einen Satz Fahrradspeichen gekauft. Und nach zwei Wochen, wo die alle gewesen sind, bin ich wieder hingegangen und habe noch mal drei, vier Sätze Fahrradspeichen gekauft. Und irgendwie hat sich der Mann gewundert, was ich mit diesen Fahrradspeichen machen wollte. Der weiß es bis heute nicht.

Lutz Kramer

Eine kleine Werkstatt, drei Fahrradspeichen und ein Lötkolben: Mehr brauchte Lutz Kramer nicht für seine ganz private Brillenproduktion. Ab Mitte der 1980er-Jahre entwarf er verschiedene Modelle. Sie ließen sich nicht zusammenklappen, waren aber heiß begehrt, trotz ihres Handicaps.

Das ist das Modell, mit dem man sich nicht küssen sollte. Das hängt damit zusammen, dass die Fahrradspeichen so gelötet sind, dass hier vorn Dornen dran sind. Nochmal ein kleiner Designgag, sage ich. Es gab aber auch solche Modelle, wo die Dornen nicht enthalten sind.

Lutz Kramer

Ein lukratives Geschäft

Eigentlich war die DDR den Brillenträgern des Landes ja wohlgesonnen und bezuschusste den Erwerb der Sehhilfen. 140 Millionen Mark zahlte der Staat jährlich ab 1971, damit sie für die Bürger nicht so teuer waren. Für Lutz Kramers Handmade-Modelle zahlten seine Kunden bis zu 100 Mark. Nur für das Gestell wohlgemerkt, denn die Kunststoff-Gläser mussten sie sich selbst besorgen – häufig aus Ungarn. Doch die individuellen Brillen fanden trotzdem reißenden Absatz.

Zum Beispiel sind wir mal nach Havelberg gefahren auf den Pferdemarkt. Da sind wir Freitagabend los gefahren. Da habe ich so gedacht – vier, fünf Stück übers Wochenende – wenn du die verkaufst, bist du gut. Samstag Vormittag waren die schon alle gewesen.

Lutz Kramer

Brillen-"Designer" Lutz Kramer verdiente sich so seinen eigenen Ungarn-Urlaub. Drei Speichen als Materialaufwand – eigentlich eine prima Idee für die sozialistische Marktwirtschaft. Aber soweit kam es nicht. Noch während die DDR mit einem ultramodernen Optikverkettungsroboter dem Problem der mangelnden Brillen Herr werden wollte, ging der Staat zugrunde. Lutz Kramer konnte nun seine selbstgemachten Brillen nicht mehr verkaufen, zu streng waren die bundesdeutschen Auflagen. Dafür erfüllt er im eigenen Berliner Optikerladen inzwischen seit vielen Jahren fast alle Kundenwünsche – ganz ohne Bastelei.