Arbeitslose galten in DDR als asozial "Asozialen"paragraph in der DDR: Ein Stigma mit Folgen

27. Juli 2021, 11:07 Uhr

In der DDR ist es Pflicht, erwerbstätig zu sein. Diejenigen, die nicht arbeiten gehen wollen oder können, müssen mit strengen Strafen rechnen. Der "Asozialenparagraph 249" ermöglicht es der DDR-Führung, Menschen zu inhaftieren, die sich der Pflicht zum Arbeiten widersetzen. Eine Verurteilung wegen "Asozialität" hat dramatische Folgen für die Betroffenen – und oft auch für ganze Familien.

Ein Mann liegt betrunken in einem Blumenbeet
Wer alkoholkrank oder arbeitlos ist, gilt in der DDR als "asozial" - und muss mit Gefängnisstrafen rechnen. Bildrechte: imago/Frank Sorge

Ursprünge im Kaiserreich

Der "Asozialenparagraph" ist keine Erfindung der DDR. Der Grundstein für dieses Gesetz wird bereits im Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen Kaiserreiches gelegt. Der dortige Paragraph 361 erlaubt es seit 1871, Bürger zu bestrafen, die als Landstreicher oder Bettler umherziehen, der Prostitution oder dem Glücksspiel nachgehen. Diese Personengruppen werden als Gefahr für die Öffentlichkeit angesehen und gelten deshalb als "Asoziale".

Zu Zeiten des Nationalsozialismus bleibt dieses Gesetz bestehen und findet in der Diktatur systematische Anwendung. Ganze Bevölkerungsgruppen gelten als "Ballast" für die Volksgemeinschaft. Obdachlose, Wanderarbeiter und Prostituierte werden als arbeitsscheu und "asozial" abgestempelt. Der Tatbestand sieht horrende Strafen vor, viele "Täterinnen" und "Täter" müssen ins Konzentrationslager.

Arbeitspflicht in SBZ und DDR

Kurz nach Kriegsende legen die Besatzer in der Sowjetischen Besatzungszone großen Wert auf den Arbeitswillen der Bevölkerung. Ohne Änderungen übernehmen sie das Gesetz von 1871. Eine eifrige Arbeitsmoral ist gern gesehen. In nicht seltenen Fällen erhalten die, die sich dem Arbeitsgebot widersetzen keine Lebensmittelkarten mehr.

Bettelnder Kriegsinvalide 1949 in Leipzig
Bettler und Erwerblose mussten in der SBZ mit dem Entzug der Lebensmittelrationen rechnen. Bildrechte: imago/imagebroker

Das negative Bild der "Asozialen" verfestigt sich in der DDR-Gesellschaft. Die Verfassung schreibt die Verpflichtung "zur Gesellschaft nützlichen Tätigkeit für jeden Bürger" vor. Erwerbstätig sein wird zur sozialistischen Pflicht. Wer nicht arbeiten gehen kann oder will, gilt als sozialer Außenseiter. Schon in den ersten Jahren der DDR gibt es Arbeitslager, deren abschreckende Wirkung die "Arbeitsbummelei" unterbinden soll.

Seit 1968 steht Arbeitsverweigerung durch den Paragraph 249 des Strafgesetzbuches offiziell unter Strafe. Im Gesetz heißt es:

Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht […] wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.

Strafgesetzbuch der DDR § 249

Lieber "asoziale" als politische Straftäter

Der Paragraph 249 ist für die DDR-Regierung ein praktisches Mittel, um nicht nur sozial unerwünschtes Verhalten zu kriminalisieren. Er bietet die Möglichkeit, politische Taten unter einem vermeintlich "asozialen" Deckmantel zu verurteilen. So kann zum Beispiel eine Bürgerin, die sich in der oppositionellen Friedensbewegung engagiert, mit der Anwendung von Paragraph 249 als "Asoziale" im Gefängnis landen. Auch viele junge Menschen, die unerwünschten Subkulturen wie den Punks angehören, werden als vermeintliche Arbeitsverweigerer schuldig gesprochen.

Punks und Grufties auf der Schönhauser Allee in Ostberlin, 1989.
Punks und Grufties galten in der DDR als unerwünscht und erhielten nicht selten das Stigma "asozial". Bildrechte: imago/Seeliger

In späteren Jahrzehnten wird der "Asozialenparagraph" immer häufiger angewandt. Werden 1968 noch 4.000 Menschen in der DDR auf dieser Grundlage verurteilt, sind es 1973 bereits 14.000 Bürgerinnen und Bürger. Gegen Ende der DDR ist knapp ein Viertel aller Häftlinge wegen "asozialer Lebensweise" inhaftiert.

Weitreichende Folgen für Betroffene und ihre Familien

Nicht nur während der Haftzeit sind viele Betroffene unmenschlichen Bedingungen wie Zwangsarbeit ausgeliefert. Wer wegen "asozialen Verhaltens" im Gefängnis saß, hat nach der Haft größte Schwierigkeiten, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Menschen mit dem Stigma "asozial" sind nicht nur ohne Arbeitsplatz, sondern verlieren oftmals auch ihr komplettes soziales Umfeld. Zudem müssen sie sich diese zahllosen Vorschriften beugen. Einige müssen sich an Reise- und Aufenthaltsverbote halten. Für manche sind unangekündigte Hausdurchsuchungen an der Tagesordnung. Wiederum anderen wird ein Arbeitsplatz zugewiesen, den sie annehmen müssen, um nicht wieder im Gefängnis zu landen.

Dramatische Folgen für Familien

Besonders dramatisch sind die Folgen für die Familien, in denen die Eltern als "Asoziale" verurteilt werden. Ihre Kinder werden von ihnen getrennt und in Heimen untergebracht oder zur Adoption freigegeben. Adoptionen geschehen anonym. Kinder sollten nicht erfahren, wer ihre leiblichen Eltern waren, geschweige denn Kontakt zu ihnen halten. Nicht arbeitswillige, "asoziale" Eltern passen nicht ins gewünschte Erziehungsleitbild, das eine "sozialistische Einstellung zum Leben und zur Arbeit" vorsieht. Besonders häufig werden alleinstehende junge Mütter dazu gezwungen, ihre Kinder abzugeben.

So ergeht es auch Marita, die 2006 dem MDR von ihrem Schicksal erzählt. Als vorbestrafte junge Frau sieht der Staat sie als ungeeignet an, um Mutter zu sein. Ihr Kind wird zwangsadoptiert:

Noch bevor [das Kind] geboren wurde, wurde mir vom Jugendamt gesagt, dass ich sie nicht behalten kann […], weil ich ein Kind nicht im sozialistischen Sinne erziehen kann. […] Ich hab das Kind mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht und noch während ich in Narkose lag, war das Mädchen weg.

Marita MDR, 2006

Langes Warten auf Entschädigung

Dass viele DDR-Bürgerinnen und Bürger, die sich der Politik des Staates widersetzten, als "Asoziale" verurteilt wurden, hat für viele nach wie vor Konsequenzen. Denn ein solches Urteil erschwert es bis heute, eine Entschädigung für ihr Unrecht zu erlangen. Eine Verurteilung nach Paragraph 249 gilt nicht automatisch als politische Verfolgung. Doch nur in diesem Fall haben Betroffene Anspruch auf eine Opferrente.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: MDR Zeitreise | 18.07.2021 | 22:00 Uhr