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Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der Regierende Bürgermeister Walter Momper mit Polizisten und Presse in der Menschenmasse am Potsdamer Platz in Berlin am 12.11.1989 Bildrechte: imago images/photothek

9. November 1989Der Mauerfall aus West-Berliner Sicht

12. November 2021, 12:18 Uhr

Was wäre, wenn die Mauer von Ostberliner Seite einfach überrannt werden würde? Wenn Tausende Demonstranten das Brandenburger Tor stürmen würden - würde die DDR dann schießen? Würde es zu Toten und Verletzten kommen? Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister von West-Berlin, hatte sich mit einem Notfallplan auf diesen Tag "X" vorbereitet. Als die Mauer am 9. November 1989 tatsächlich fällt, ist auch Walter Momper überrascht.

An den Grenzübergängen in Berlin ist es am frühen Abend des 9. November 1989 ruhig. Nichts deutet auf ein weltgeschichtliches Ereignis hin. Walter Momper, Regierender Bürgermeister von West-Berlin, ist Gast bei der Verleihung des "Goldenen Lenkrades" im Springer-Hochhaus. Der Ost-Berliner SED-Chef Günter Schabowski beendet gegen 19 Uhr eine Pressekonferenz über das neue Reisegesetz der DDR-Regierung mit einer sensationellen Nachricht: Visa zur ständigen Ausreise aus der DDR würden unverzüglich erteilt. Über sämtliche Grenzübergangsstellen könnten DDR-Bürger sofort ausreisen.

Günter Schabowski verkündet auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989 die Öffnung der Mauer Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Eiserne Vorhang ist gefallen

Walter Momper wird von seinen Mitarbeitern über die unglaubliche Neuigkeit aus dem Ostteil der Stadt informiert und verlässt sofort die Veranstaltung im Springer-Hochhaus. Er fährt in die Masurenallee zum Sender Freies Berlin (SFB). 40 Minuten nach Schabowskis Worten zur neuen Reiseregelung spricht Momper in der "Berliner Abendschau" bereits enthusiastisch von offenen Grenzen: "Die Grenze wird uns nicht mehr trennen. Alle Bürger der DDR können nun zu uns kommen." Dass Momper so weit vorprescht, hat vor allem taktische Gründe: "Wenn Schabowski eine halbe Stunde später gesagt hätte, es war alles nur ein Irrtum – diesen Rückweg musste man ihm abschneiden. Das war die Hauptaufgabe vor Ort in dieser Situation."

Sturm auf die Mauer als Katastrophenszenario

Bereits seit Wochen hatte die Westberliner Seite mit Sorge die Ausreisewelle aus der DDR über die Botschaften in Budapest und Prag beobachtet. Die Angst vor einem unkontrollierten Sturm auf die Mauer ist groß. So zum Beispiel auch am Vorabend des Staatsfeiertages der DDR am 7. Oktober, als 100.000 FDJler in Ost-Berlin aufmarschieren sollen. Was, wenn sie sich plötzlich in Richtung Brandenburger Tor bewegen? "Da hat es Planspiele mit den Alliierten, mit der Polizei, mit den Geheimdiensten gegeben", sagt Walter Momper in einem Gespräch mit der Zeitreise zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. "Und wir konnten uns das eigentlich nur als einen Sturm über die Mauer vorstellen. Ein furchtbares Blutbad." Auf Westberliner Seite wurde hochgerechnet, wie viele Schuss Munition es bei den DDR-Grenztruppen in so einem Fall geben könnte, mit wievielen Toten gerechnet werden müsste. Dafür gab es eine Katastrophenplanung in West-Berlin.

Planspiele für den Tag des Mauerfalls

Zehn Tage vor dem Fall der Mauer, am 29. Oktober 1989, treffen sich Walter Momper und Günter Schabowski in Ost-Berlin. Die beiden erörtern auch Fragen der Sicherheit der Grenze. Aber in West-Berlin plant man schon weiter. Für den sogenannten Tag "X", den Tag, an die Mauer fällt, kommen nun auch logistische Fragen auf den Tisch des Regierenden Bürgermeisters. "Wie kriegt man das hin, dass man an dem Tag, wo Reisefreiheit gegeben ist und wir damit rechneten, dass eine halbe Million Menschen aus dem Osten nach West-Berlin kommen würden, der Verkehr nicht zusammenbricht?"

Mauerfall überrascht auch Walter Momper

Letzten Endes kommt der Mauerfall am 9. November dann doch sehr überraschend. Niemand hatte damit gerechnet. Kurz vor 20 Uhr versammeln sich an den Grenzübergängen in Berlin die ersten DDR-Bürger. Walter Momper beantwortet beim Sender Freies Berlin unterdessen immer wieder Fragen nach der von Günter Schabowski angekündigten Maueröffnung: "Auf diese Weise wurde die Information immer weiter verbreitet und ein Rückweg für Schabowski abgeschnitten."

Grenzkontrollstelle Bornholmer Straße ist offen

Unter dem Druck der Menschenmassen an der Berliner Mauer öffnet sich am späten Abend zunächst der Schlagbaum in der Bornholmer Straße. Walter Momper erfährt davon in einer Live-Sendung. "Ich bekam gegen 23 Uhr einen Zettel rein: Die Grenzkontrollstelle Bornholmer Straße ist offen, man kann ungehindert von West nach Ost und von Ost nach West. Und alle anderen Grenzübergänge sind auch offen. Was zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht stimmte. Ich sagte, wenn ich das jetzt im Fernsehen verkünde, ist in Berlin die Hölle los. Das wollen wir mal lieber nicht machen. Wer weiß, ob das überhaupt stimmt. Wenn das stimmt, dann wollen wir es auch gleich auf dem Bildschirm haben."

Der Grenzübergang Bornholmer Straße am 11. November 1989 Bildrechte: MDR/Bundesbildstelle/Lehnartz

Walter Momper am Grenzübergang Invalidenstraße

Kurz nach 23 Uhr laufen bereits die ersten Live-Bilder von den Grenzübergängen über die Bildschirme. Zehntausende DDR-Bürger drängen über die Grenze. Walter Momper fährt zur Mauer, zum Grenzübergang Invalidenstraße. "Und da stand ein Hauptmann von den DDR-Grenztruppen. Ich sagte zu ihm: 'Bringen Sie mich mal zu Ihrem Schichtführer, zu Ihrem Major, ich will mal hören, was da los ist.' Und da raunzte der mich an: 'Sie dürfen hier nicht durch!' Ich sagte ihm: 'Hören Sie mal, Sie kennen mich doch, ich bin der Regierende Bürgermeister. Ich will wissen, was bei Ihnen los ist.' – 'Naja', sagte der Hauptmann, 'kommen Sie mal mit.' Und dann ging er mit mir zu dieser Abfertigungsbaracke. Und dann verschwand der Hauptmann in der Baracke und auf einmal waren die Grenzer alle verschwunden. Und ich war mit den Menschenmassen allein."

Momper fürchtet in diesem Augenblick, die Grenztruppen der DDR könnten doch noch schießen. Mit einem Handlautsprecher der Westberliner Polizei verschafft sich Momper Gehör bei den DDR-Bürgern, die die Grenzübergangsstelle belagern. "Bitte bewahren Sie trotz allem Disziplin!" Momper erinnert sich an jenen Moment: "Die Menschen jubelten nach jedem Satz. Also ich hätte auch ein Gedicht vortragen können, da hätten die genauso gejubelt... Und dann forderte ich sie auf: Machen Sie bitte die Wege frei, dass Fahrzeuge durchkommen können. Damit der Verkehr hier ungehindert weitergehen kann."

Trotz aller praktisch-organisatorischen Überlegungen – auch Walter Momper wird schließlich von Emotionen eingeholt: "Mensch, dass Du das noch erlebst...! Ich hatte immer gedacht, wenn ich mal alt bin, wird die Grenze vielleicht so durchlässig sein, dass man hin- und herreisen kann. Und da habe ich mich einen Moment lang meinen Gefühlen hingegeben."

Videos zur Berliner Mauer

Mauerfall am 9.11.1989

Verlassene Kinder

Untergang der DDR

Der Eiserne Vorhang

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 09. November 2021 | 19:30 Uhr