Einführung der D-Mark Steckt Sarrazin hinter der Währungsunion?

26. November 2021, 12:48 Uhr

Wegen seiner sehr kontroversen Thesen zur Finanz-, Sozial- und Bevölkerungspolitik ist er seit einigen Jahren immer wieder in aller Munde: Thilo Sarrazin. Aber hätten Sie gewusst, dass er im November 1989 auf seinem Posten als Referatsleiter im Bundesfinanzministerium in Bonn rasante Pläne entwickelte? Pläne zur großen Frage: Wie soll die Bundesrepublik auf die neue Lage nach dem Mauerfall reagieren?

Gebannt sitzen die Beamten des Bundesministeriums für Finanzen am 10. November 1989 in Bonn vor den Bildschirmen. Der Mauerfall in der Nacht zuvor – keiner hatte diese rasante Entwicklung in der DDR auch nur ansatzweise vermutet. Doch während Millionen Menschen in Deutschland euphorisch den historischen Moment feiern, stellen einige im Ministerium bereits Überlegungen an, wie es jetzt weitergehen könnte.

"Die richtigen Kräfte in der DDR" unterstützen

Thilo Sarrazin, damals Referatsleiter und zuständig für "Nationale Währungen" sowie sein Vorgesetzter Horst Köhler, der spätere Bundespräsident, setzen noch am Abend einen Brief an ihren Minister Theo Waigel auf, in dem sie ihre Bereitschaft bekunden, fortan nach Lösungen zu suchen, wie man nun "die richtigen Kräfte in der DDR" tatkräftig unterstützen könnte. "Ich hab mir überlegt, wie es denn ökonomisch weitergehen kann", erinnert sich Thilo Sarrazin. "Darüber habe ich eine Reihe von Papieren geschrieben, die ich dann immer meinem Chef Horst Köhler vorlegte, die er dann immer für absolut geheim erklärte. Aber das eine oder andere gab er dann doch weiter ans Kanzleramt."

Die DDR "blutet" aus

Ökonomisch, so sieht es Thilo Sarrazin bereits im Dezember 1989, läuft in der DDR alles auf einen raschen Kollaps hinaus. Das Land "blutet" aus - täglich übersiedeln etwa 4.000 Menschen in die Bundesrepublik. Und damit nicht genug: Dass durch Arbeit, Schwarzarbeit oder Sozialleistungen in Empfang genommene Westgeld wandert in vielen Fällen gleich wieder zurück. Der Schwarzmarktkurs von D-Mark zu DDR-Mark erreicht im Osten mit 1:10 schwindelerregende Höhen.

Die DDR in den "westdeutschen Währungsraum" übernehmen

Wer die DDR stabilisieren wollte, so Sarrazin, hätte entweder eine innerdeutsche Zollgrenze schaffen müssen plus Aufhebung der Niederlassungsfreiheit für DDR-Bürger im Westen. Oder er denkt in Richtung einer ganz anderen Auffanglösung: "Und da war die Überlegung: Wir übernehmen die DDR in den westdeutschen Währungsraum. Damit haben die Bürger der DDR eine kaufkräftige Währung", erklärt Thilo Sarrazin. "Umgekehrt entwickelt sich die DDR zur Marktwirtschaft weiter. Der eigentliche Deal war, die DDR bekommt die DM. Sie gibt dafür aber letztlich ihre wirtschaftliche Souveränität auf. Darüber war mir strikt untersagt, mit anderen zu reden, was ich natürlich auch respektierte, weil es war ja mehr als brisant."

Umbau der DDR-Volkswirtschaft wird zehn Jahre dauern

Brisant ist es vor allem deshalb, weil sowohl die Regierung Modrow als auch die DDR-Oppositionellen am "Runden Tisch" eigenständig Reformen auf den Weg bringen wollen. Und sich eine Einmischung von außen verbitten. Und sie können dabei - in punkto Ökonomie - auf Rückhalt zählen. Denn nahezu alle Sachverständigen und Ökonomen in Ost und West weisen darauf hin, dass ein Umbau der DDR-Volkswirtschaft hin zu einer Marktwirtschaft ein stufenförmiger Prozess sein muss, der mindestens fünf bis zehn Jahre dauern wird.

DDR-Bürger wollen die D-Mark

Der großen Masse von DDR-Bürgern dauert das viel zu lange. Jetzt, wo direkt nebenan in der Bundesrepublik, der Wohlstand bereits greifbar ist. Und so macht die Bundesregierung Anfang Februar 1990 gezielt Druck und erhebt Thilo Sarrazins Grundsatzpapier zum Masterplan. Nach drei Monaten zäher Verhandlungen mit der DDR-Seite ist es soweit: Die D-Mark wird am 1.7.1990 offizielles Zahlungsmittel der DDR.

Ich war von Anfang an für einen Umtauschkurs von 1:1 gewesen und hab auch immer gesagt, wir können keine Währungsunion machen, wo praktisch das Gehalt am Tag nach der Währungsunion weniger wert ist als davor. Das bedeutete wiederum, dass die DDR-Industrie von einem Tag auf den anderen wettbewerbsunfähig war. Mir selber war schon sehr früh klar, was das für ein gewaltiger Schock sein würde. Es war nicht allen klar. Nicht im Westen und schon gar nicht in der DDR.

1,6 Millionen Arbeitsplätze hat Thilo Sarrazin ausgerechnet, werden in Folge dieses "Aufwertungsschocks" allein in der Industrie verloren gehen. Denn laut der im Frühjahr 1990 vorliegenden Zahlen liegt die Arbeitsproduktivität der DDR-Betriebe bei gerade einmal 30 bis 60 Prozent im Vergleich zum Westen. Zwei Jahrzehnte lang hatte die DDR-Führung kaum in Betriebe und Infrastruktur investiert. Diesen Kapitalstock auf West-Niveau zu bringen, wird eine Mammutaufgabe:

Dass die Sache schamlos teuer werden würde, war mir immer klar gewesen. Ich kam auf einen jährlichen Transferbedarf über zehn bis zwanzig Jahre von 100- bis 150 Milliarden DM, um diesen Kapitalstock aufzufüllen. Darüber machte ich auch einen Vermerk für meinen Staatssekretär Horst Köhler. Der Vermerk wurde ungnädig aufgenommen und sofort weggeschlossen. Wenn man sich die Gesamttransfers jedoch heute anschaut, so waren das bis 2004 tatsächlich 200 Milliarden DM pro Jahr. Insofern lag ich mit meinen Zahlen nicht so wahnsinnig falsch.

Über Thilo Sarrazin Thilo Sarrazin wurde am 12. Februar 1945 in Gera geboren. Er war in leitender Position bei der Deutschen Bahn AG, später Finanzsenator im Berliner Senat und Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank. Als im November 1989 die Mauer fiel, saß Thilo Sarrazin im Bundesfinanzministerium in Bonn als Leiter der Arbeitsgruppe, die sich mit der Währungsunion beschäftigte.

2010 hat mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" heftige Kontroversen ausgelöst. Auch in seinem 2018 erschienen Buch "Feindliche Übernahme" stellte er provokante Thesen zu den Problemen durch Migration auf, die ihm unter anderem den Vorwurf der Islamfeindlichkeit einbrachten. Sarrazin ist seit 1974 Mitglied der SPD. Im Juli entschied eine Kommission, dass Sarrazin aus der Partei ausgeschlossen werden darf – dagegen hat er Rechtsmittel angekündigt.

Am 17. Dezember 2018 beschloss der SPD-Parteivorstand, ein drittes Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin einzuleiten. Im Juni 2019 wurde schließlich über den Antrag der Parteispitze verhandelt, am 11. Juli 2019 gab die Parteischiedskommission Charlottenburg-Wilmersdorf dem Antrag auf Parteiausschluss statt. Dagegen legte Sarrazins Anwalt Berufung vor der Landesschiedskommission ein. Am 23. Januar 2020 bestätigte diese den Ausschluss. Sarrazin kündigte daraufhin an, die Entscheidung vor der Bundesschiedskommission anfechten zu wollen. Aufgrund der fehlenden Rechtskraft der Entscheidung ist er juristisch weiterhin SPD-Mitglied, wie Spiegel online schreibt.

Dieses Thema im Programm: MDR ZEITREISE | 28. Juni 2020 | 22:10 Uhr