Das Bahnunglück von Forst Zinna: Panzerfahrt mit Folgen

30. Juli 2020, 14:35 Uhr

Am 19. Januar 1988 verursachte ein Panzer der Sowjetarmee eines der schwersten Bahnunglücke in der DDR. Sechs Menschen starben, 33 wurden zum Teil schwer verletzt.

Der 19. Januar 1988 ist ein Dienstag. Auf dem Leipziger Hauptbahnhof wird am Nachmittag der D 716 zur Abfahrt bereit gemacht. Er fährt in fünf Stunden über Berlin nach Stralsund. Normalerweise sind jeweils etwa 1.000 Fahrgäste an Bord, heute sind es nur rund 450. Ein Glücksfall, wie sich später herausstellen wird.

Zur selben Zeit macht sich rund 120 Kilometer nordöstlich der junge Sowjetsoldat Ochapow bereit für eine Panzerfahrstunde. Zum ersten Mal soll der in Forst Zinna stationierte 19-Jährige einen Panzer vom Typ T-64A steuern - unter Nachtsichtbedingungen. Mehr als 40 Tonnen schwer ist das Fahrzeug. Fahrlehrer Andrej Petuchow wird Ochapow begleiten. Er ist selbst erst 20 Jahre alt.

Die "Kanonenbahn" ist gefürchtet

Die Strecke Leipzig-Berlin ist bei Eisenbahnern gefürchtet, verläuft doch ein Teil mitten durch ein Militärgebiet der Sowjetarmee. 40.000 Soldaten sind in Forst Zinna bei Jüterbog stationiert. Manöver, Schießübungen, Panzer: Hinter vorgehaltener Hand nennen die Eisenbahner den Streckenabschnitt "Kanonenbahn", denn man weiß nie, ob sich nicht ein Armeefahrzeug auf die Gleise verirrt oder in der Nähe geschossen wird. Es hat an der Strecke bereits Unfälle mit Verletzten und Toten gegeben.

Es ist etwa 17:50 Uhr und schon dunkel, als der Personenzug D 716 mit rund 120 Stundenkilometern den Bereich des sowjetischen Sperrgebiets südlich von Berlin durchfährt. Nur wenige Kilometer entfernt ist der junge Ochapow mit dem Panzer unterwegs, sein Fahrlehrer sitzt oben im Panzerturm und überwacht seinen Schüler. Plötzlich bricht das Fahrzeug aus der vorgesehenen Route aus und steuert geradewegs auf die Gleise der Bahnstrecke Leipzig-Berlin zu. Fahrlehrer Petuchow versucht, seinen Schützling über Funk zu stoppen - selbst lenken kann er von seinem Sitz aus nicht.

Doch Ochapow reagiert nicht. Grund sind vermutlich Sprachprobleme: Der Fahrschüler stammt aus der kasachischen, sein Panzerkommandeur aus der russischen Sowjetrepublik. Der Ausbilder versucht eine Notbremsung, aber der Panzer stoppt nicht: Offenbar ist der Havarieschalter defekt.

"Blitze schossen in den Himmel"

Russisches Militärfahrzeug baut Unfall mit Trabant
Auch dieses russische Militärfahrzeug verursachte einen schweren Unfall. Es überrollte einen Trabant, wodurch ein Mädchen ums Leben kam. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Schließlich erreicht der Panzer die Gleise. Im Inneren bricht Hektik aus, und genau auf den Schienen würgt der Fahrschüler den Motor ab. Aus südwestlicher Richtung nähert sich der aus Leipzig kommende Personenzug. Die beiden Panzerinsassen bemerken ihn und springen rechtzeitig ins Freie. Doch die zwei Lokführer des D-Zugs haben keine Chance mehr zu bremsen: Im Dunkeln sehen sie den führerlosen Panzer auf den Schienen nicht. Mit fast 120 Stundenkilometern fährt der Zug frontal auf das Armeefahrzeug auf.

Hartmut Ewert ist einer der Fahrgäste im Zug. "Auf einmal gab es einen mörderischen Knall, ein Krachen, ein Poltern, Blitze schossen in den Himmel", wird er sich später erinnern. Der Aufprall ist verheerend: Durch die Wucht überschlägt sich die 80 Tonnen schwere Lok. Sechs Menschen sterben, darunter die beiden Lokführer. 33 Menschen sind zum Teil schwer verletzt. Die Lok und neun Waggons sind komplett zerstört.

Sprachprobleme als Ursache

In der nur rund 50 Meter entfernten Heimatkaserne der Panzerbesatzung hören die Soldaten das Donnern des Aufpralls. Sofort werden einige von ihnen zum Bahnhofsgelände beordert. Vor Ort riegeln sie alles ab, beleuchten die Unglücksstelle, helfen Verletzten aus dem Eisenbahnwrack. Rund anderthalb Stunden nach dem Unfall trifft eine achtköpfige Sonderkommission der Kripo Potsdam ein, um erste Untersuchungen durchzuführen.

Die Panzerbesatzung wird noch in derselben Nacht zu einem Verhör auf das Volkspolizeirevier in Jüterbog gebracht. Bei der Befragung werden die Sprachprobleme zwischen den beiden jungen Soldaten deutlich. Auch geben sie zu Protokoll, der Bordfunk habe nicht funktioniert. Die deutschen Ermittler interessieren sich jetzt auch für den Panzer. Reinhard Lehmann von der Kripo erinnert sich: "Zu der Zeit gab es ja noch eine große Geheimnistuerei bei der sowjetischen Einheit, und der Panzer war neu ausgerüstet mit modernster Technik. Wir mussten erst einen General bemühen, damit wir diesen Panzer im Inneren fotografieren konnten." Zehn Stunden nach dem Unfall wird der Panzer von der NVA für Untersuchungen abtransportiert.

Wurden die Soldaten erschossen?

Die DDR-Medien berichteten erstaunlich offen über den Unfall, auch die westdeutsche "Tagesschau" berichtet am 20. Januar ausführlich. Bei einem Zusammentreffen von Führungskräften der DDR und der sowjetischen Militärs sechs Tage nach dem Unglück wird vereinbart, dass die beiden Unfallverursacher vor ein sowjetisches Militärgericht gestellt werden. Welche Strafen sie dort erhalten, wird den DDR-Behörden nicht mitgeteilt. Gerüchte kommen auf, man habe die beiden sofort an die Wand gestellt und erschossen. Denn für besonders schwere Vergehen droht in der sowjetischen Armee die Todesstrafe. Über den Verbleib der zwei jungen Soldaten wird geschwiegen.

Das Schicksal der beiden Soldaten beschäftigt einige der verletzten Zuginsassen so sehr, dass sie sich sogar schriftlich an die sowjetische Botschaft in Berlin wenden. Sie fordern: keine Todesurteile für die jungen Soldaten! Man solle den Tod nicht mit Tod sühnen. Im Antwortbrief verlieren die sowjetischen Behörden kein Wort über das Schicksal der beiden Männer. Ihre Spur verliert sich in Moskau. Offensichtlich wurden sie innerhalb von 48 Stunden zurückgebracht. Auch die Ermittlungsakten bleiben für deutsche Ermittler in Moskau unerreichbar. Bis heute gibt es keine Information zum Schicksal der beiden Soldaten.

(Zuerst veröffentlicht am 15.03.2010)


Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: 28.10.2003 | 22:05 Uhr