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Der Grenzübergang Bornholmer Straße am 11. November 1989 Bildrechte: MDR/Bundesbildstelle/Lehnartz

Bornholmer StraßeDer Mauerfall: Eine Rekonstruktion

09. November 2022, 05:00 Uhr

Knapp ein Jahr nach dem Mauerfall rekonstruiert das DFF-Fernsehmagazin "Klartext" in einer Reportage die Ereignisse, die am 9. November 1989 zur Öffnung der Grenze führten. Interviews mit Zeitzeugen an Originalschauplätzen und historische Fernsehaufnahmen zeichnen ein lebendiges Bild des Tages, der Geschichte schrieb.

Eine Straße schreibt Geschichte

Berlin, Prenzlauer Berg. Bornholmer Straße. Bornholmer Brücke. Seit 28 Jahren ist es hier ruhig. So ist es auch am Morgen des 9. Novembers 1989. In Straßenbahnen, Bussen und Autos fahren Frauen und Männer zur Arbeit, Kinder in die Schule. Läden öffnen, im Kiosk gehen Zeitungen über den Ladentisch. In der "Berliner Zeitung" die Schlagzeile "Tausende verließen wieder die DDR". Fünf Tage zuvor hatten 1 Million Menschen auf dem Alexanderplatz Reformen gefordert. Vieles ist schon anders geworden in der DDR. Trotzdem: Dass in der Bornholmer Straße wenige Stunden später Geschichte geschrieben wird, ahnt noch niemand.

Vier Juristen und ein Entwurf

Immer mehr DDR-Bürger verlassen das Land über Tschechien, Ungarn und Polen. Die Partei- und Staatsführung muss reagieren. Man will die Bruderländer entlasten und eine ständige Ausreise auch über die DDR regeln. Berlin Mitte, Mauerstraße. Ministerium des Innern. Um 9 Uhr treffen sich vier Juristen, unter ihnen Dr. Gerhard Lauter, Leiter der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen im Ministerium des Innern. Sie sollen eine vorübergehende Reiseregelung entwerfen. Die vier Juristen erweitern ihren ministeriellen Auftrag ohne Rücksprache: In dem Papier geht es auch um eine freie Aus- und Einreise zu Besuchszwecken.

Im Dornröschenschlaf

Abenteuer. Aufregung. Agentenübergabe. All das hat es auf der Glienicker Brücke gegeben - in der Bornholmer Straße nicht. Über die Bornholmer Brücke spazieren hin und wieder Rentner nach Westberlin - und kommen zurück. Manchmal fahren auch Diplomaten oder DDR-Funktionäre über die Brücke. Der Grenzübergang Bornholmer Straße gilt als der ruhigste Ost-West-Übergang Berlins. Steffen Larisch kann von seinem Balkon aus den Grenzstreifen überblicken. Das Widernatürliche ist für ihn, so wie für die meisten anderen Anwohner, Alltag. Ein Jahr nach dem 9. November 89 ist manches anders. Kleingärtner wollen nun ihr Stück Mauer behalten. Als Schallschutz ist sie ihnen willkommen.

Gegenstimmen? Keine

Die DDR-Partei- und Staatsführung geht ihrem Tagesgeschäft nach. Seit 10 Uhr tagt das das Zentralkomitee der SED in seinem Sitz am Werderschen Markt. Es ist bereits der zweite Beratungstag. Die Genossen diskutieren, wer die Verantwortung für die Krise der SED trägt. Mittags legen Mitglieder des Politbüros eine Raucherpause ein. Ihnen liegt mittlerweile der Entwurf einer Reiseregelung vor, den die vier Juristen im Innenministerium erarbeitet haben. Ohne Gegenstimmen wird der Beschluss über die freie Reise- und Ausreise abgenickt. Hans-Joachim Willerding, damals Politibüromitglied, erinnert sich.

Krenz' Indiskretion

14:30, Egon Krenz trifft sich in einer Pause der ZK-Tagung mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau. Kurzes Gespräch. Fototermin im Staatsratsgebäude. Über die bevorstehenden Änderungen verrät Krenz nichts. Abends kurz vor halb sechs verlässt Günter Schabowski die ZK-Tagung. Egon Krenz nimmt ihn zur Seite und bittet ihn, die Reiseregelung auf der internationalen Pressekonferenz publik zu machen. Zu diesem Zeitpunkt haben noch nicht alle zuständigen Minister Kenntnis vom Papier. Unterschrieben ist es auch noch nicht. Für die Presse gilt eine Sperrfrist bis 10.11.1989, 3 Uhr.

Schabowski stottert

Bornholm 2. So heißt die Kleingartenanlage direkt an der Mauer. In der Kneipe, die jeden Tag um 16 Uhr öffnet, sitzen immer die gleichen Gäste. Auch am 9. November 1989. Gesprächsthema Nummer eins ist das Reisen. "War alles wie immer", erinnert sich der Wirt ein Jahr später. Ganz anders auf der internationalen Pressekonferenz. Dort verliest Günter Schabowski um 18:58 Uhr die Meldung des Jahres. Reisefreiheit? Ein italienischer Reporter fragt nach und Schabowski stottert: "Es tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich ..." Folgenschwere Sätze, denn die Pressekonferenz wird von DDR-Fernsehen und Hörfunk live übertragen.

Die Dinge nehmen ihren Lauf

Polizeirevier Schönfließer Straße. Alles ruhig. Der Dienst läuft routiniert. Keine besonderen Vorkommnisse in der Bornholmer. Einige Volkspolizisten haben die Nachrichten verfolgt. Man rechnet jedoch erst am nächsten Morgen mit ein wenig Andrang. Auf der anderen Seite der Grenze, in der Polizeidirektion 16 im Wedding, treffen bald darauf Reporter ein und bitten um Dreherlaubnis. Die Offiziere und Soldaten am Grenzübergang Bornholmer Straße machen die ersten Menschen unmittelbar vor dem Übergang aus. Sie warten auf die Befehle ihrer Vorgesetzten. Eine gefühlte Ewigkeit. 20:15 Uhr endlich eine Anweisung von Oben.

Ratlosigkeit und Verwirrung

Am Abend des 9. Novembers zeigt sich einmal mehr, wie verunsichert die Partei- und Staatsführung der DDR ist. Nach dem Ende der ZK-Tagung fahren die meisten Parteikader nach Hause oder in ihre Büros. Egon Krenz bleibt mit einigen Mitstreitern im Zentralkomitee. Dort erreicht ihn ein Anruf von Erich Mielke. Der Stasi-Chef informiert ihn über eine geheime Telefonleitung über Menschenansammlungen an der Grenze zu Westberlin. Man müsse sich entscheiden, was man tun wolle. Die SED-Führung reagiert schwerfällig. Je drängender die Lage, desto größer die Ratlosigkeit. Der fehlende Rückhalt aus Moskau ist deutlich spürbar.

Wir haben uns verraten gefühlt

Immer mehr Menschen drängen sich vor dem Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Stimmung ist friedlich. Doch wer weiß, wie sich die Sache entwickeln wird? Die Offiziere und Soldaten tragen Pistolen. In abgesicherten Räumen lagern u.a. Tränengasgranaten, Tränengasgewehre, Gummigeschosse und Schutzschilde. Es findet sich jedoch niemand, der die Waffen einsetzen will. Die DDR-Grenzer fühlen sich von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen. Major a.D. Manfred Sens, damals diensthabender Vorgesetzter der Grenztruppen an der Bornholmer Brücke, fühlte sich verraten: "Wir sollten einer wütenden Menge serviert werden, um ein Ablassventil zu schaffen".

Und das Ende vom Lied?

22:15 Uhr, Grenzübergang Bornholmer Straße. Tausende Menschen drängen sich inzwischen vor dem Schlagbaum. Die Grenzsoldaten halten dem Druck nicht mehr stand. Major Sense und die anderen Offiziere entscheiden eigenmächtig. Sie ziehen den Schlagbaum hoch. Die Menschen strömen jetzt ungehindert von Ost nach West und von West nach Ost. 28 Jahre nach dem Bau der Mauer ist das geteilte Berlin faktisch Geschichte. Das Ende der Teilung besiegelt im Freudentaumel. Die Grenzsoldaten, die in der Nacht vom 9. zum 10. November Dienst haben, werden einige Tage später für ihre vorbildliche "Grenzsicherung" ausgezeichnet. Und Egon Krenz? Er bedauert sich ...

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Dieser Artikel wurde erstmals 2014 veröffentlicht.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise: Die unbekannte Einheit | 07. November 2021 | 22:00 Uhr