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InterviewMusikhistoriker Herrmann: Kreuz- und Thomanerchor waren Risikofaktoren

26. November 2020, 15:30 Uhr

Matthias Herrmann ist in Dresden Professor für Musikgeschichte an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber. In seinen Publikationen hat er sich unter anderem mit dem Kreuzchor während der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts befasst. Sein Interesse ist dabei kein rein wissenschaftliches. Herrmann ist Jahrgang 1955 und sang in den 60er- und 70er-Jahren selbst im Dresdner Kreuzchor.

In Japan haben 1988 drei 17-jährige Kruzianer der DDR den Rücken gekehrt. Gab es das häufiger? Wie groß war das Phänomen Kruzianerflucht?

Bis 1961 gastierte der Kreuzchor regelmäßig im westlichen Ausland und da musste niemand während einer Reise abhauen. Das tat man gegebenenfalls nach dem Abitur. Wenn einem gesagt worden war, du bekommst in der DDR keinen Studienplatz oder ähnliches. Brisant wurde es nach dem Mauerbau.1964 reiste der Chor erstmals wieder ins westliche Ausland - nach Finnland und Schweden. Und da blieben gleich zwei weg. Dann hatte man 1968 gehofft, der Chor würde vollständig aus Österreich und der Schweiz zurückkehren. Das war auch nicht der Fall. Sechs hatten sich abgesetzt. In den 80er-Jahren waren es insgesamt zwölf Kruzianer, die in Westdeutschland, in der Schweiz und in Japan geblieben sind.

Wieso ging die DDR überhaupt das Risiko ein, den Kreuzchor in den Westen zu schicken?

Der Chor war eine so in sich geschlossene Einheit aus Sicht der SED. Im Grunde der Hort des Reaktionären. Aber die DDR war lange Zeit nicht anerkannt. Man musste immer wieder nach positiven Momenten suchen, und da war die hervorragende mitteldeutsche Musikkultur wunderbar geeignet. Staatskapelle Dresden, Gewandhausorchester Leipzig, Dresdner Philharmonie. Und natürlich Kreuz- und Thomanerchor. Aber das waren eben die beiden Risikofaktoren, weil es sich hier um Kinder und Jugendliche handelte.

Inwiefern Risikofaktoren?

Die Kreuzschule war eine sozialistische Oberschule und die Kruzianer waren Teil dieses Systems, sangen aber andererseits am Sonnabend und Sonntag in der Kreuzkirche. Also das war eine Spaltung, die man als Kind erst einmal verarbeiten musste. Dass man hier das sagt und dort eben jenes. Und manch einer hat in der 12. Klasse gedacht, das ist die letzte Chance deines Lebens, dem grauen Elend zu entkommen.

Sie haben selbst im Kreuzchor gesungen, als 1968 sechs Kruzianer flüchteten? Wie haben das die Kruzianer wahrgenommen, die da geblieben sind?

Einerseits freuten wir uns, dass jemand ein Zeichen setzte. Andererseits haben wir es als Affront gegen den Chor bezeichnet. Denn wir hatten so etwas wie eine Chorgemeinschaft, einen Korpsgeist und ein ganz inniges Verhältnis. Und von daher wurde es auch zwiespältig aufgenommen. Auch im Blick auf die eigene künftige Reisetätigkeit. Denn es gab damals danach immer eine Sperre Richtung westliches Ausland. Wir fuhren dann nach Polen, in die Sowjetunion, nach Bulgarien. Was ja auch schön war. Erst 1978, nach zehn Jahren, reiste der Chor wieder in westliche Gefilde.

Über geflüchtete Kruzianer schwieg die DDR-Presse normalerweise. Warum wurde die Flucht in Japan ein so großes Thema?

Es hat wohl damit begonnen, dass in westdeutschen Zeitungen über den Fall sehr ausführlich berichtet wurde. Und das war möglicherweise der Ausgangspunkt, hier die staatliche Nachrichtenagentur ADN, das "Neue Deutschland" (Zentralorgan der SED - Anm. der Red.) und andere Zeitungen einzuschalten. Ich habe Belege in den Stasi-Akten gefunden. Da ist als Entwurf auch dieser ADN-Kommentar enthalten. (Der "Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst" war die staatliche Nachrichtenagentur der DDR - Anm. der Red.) Offensichtlich ist er in den Büroräumen der Staatssicherheit entstanden. Und es gibt sogar zwei Tage vor Veröffentlichung einen Beleg von Erich Honecker: "Einverstanden! E.H." und das Datum. Also, es ging wirklich über die absolute Spitze von Partei und Staatsführung. Völlig irrational. Was hängt die Existenz der DDR von drei Kruzianern ab?

Der Vorwurf an die Bundesrepublik war die "gezielte Abwerbung". ADN berichtete von "einer eilfertigen Verfrachtung" der drei Jungen aus Japan.  

Ex-Kruzianer Thomas Nitschke erinnert sich an seine Flucht über Japan

Das hätte ja de facto dann so sein müssen: Man hat sie auf der Straße eingesammelt, sie in ein Auto gesetzt, in die Botschaft geführt und betäubt. Davon kann keine Rede sein. Es war einfach der Freiheitswille der jungen Leute. Und es waren natürlich Tenöre. Wie so oft. Tenöre sind in den Knabenchören die gefragtesten Stimmen nach dem Stimmbruch und manche fühlen sich wie Auserwählte. Es gibt da so einen anekdotischen Ausspruch: Wenn irgendeiner was ausgefressen hat, dann kann es ja nur ein Tenor sein!

Vielleicht war die DDR auch überrascht. Hatte jemand damit gerechnet, dass im fernen Japan Kruzianer abhauen?

Ich denke, die DDR hat nie gedacht, dass sie auf der sicheren Seite ist. Deshalb war sie ja auch so nervös und völlig übersteigert. Man hat über Monate Konzertlisten erstellt, wer mit nach Japan fahren darf. Von 150 Sängern fuhr ja immer nur die Hälfte mit. Ich habe da auch einen Beleg gefunden, dass noch wenige Tage vor Beginn der Reise die Liste neu aufgestellt wurde: Nummer 12 fällt weg aus stimmlichen Gründen, Nummer 15 keine Ausreise wegen Unsicherheiten vom Elternhaus. Also bis zum letzten Tag wurde versucht, dass "Schlimmste" zu verhindern. Mir sind auch mehrere Fälle von IMs bekannt, die sich verpflichtet haben, für die Staatssicherheit über den Kreuzchor zu berichten. Es ist eine totale Bespitzelung gewesen. Zu Erziehern und Lehrern gab es schon zu meiner Zeit überhaupt keine Vertrauensbasis. Die gab es zur Chorleitung, vielleicht auch zu Klavierlehrern und Stimmbildnern. Aber alles, was mit Schule und Internat in Verbindung stand, das war sozialistisch. Da hieß es, Abstand halten. Aber die Jungen hatten trotzdem ihre Freiräume und haben die auch genutzt.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV:MDR Zeitreise | 27.06.2017 | 21:15 Uhr