1953: Notaufnahmelager Marienfelde für DDR-Flüchtlinge eröffnet Die Geschichte des Notaufnahmelagers Marienfelde

14. April 2023, 05:00 Uhr

Am 14. April 1953 wurde in West-Berlin das Notaufnahmelager Marienfelde für DDR-Flüchtlinge eröffnet. In Marienfelde bekamen 1,53 Millionen Menschen zwischen 1953 und 1990 erste Hilfestellungen für ein neues Leben im Westen. Doch das Lager war mehr als nur eine Anlaufstelle für Ausreisende. Während der Zeit des Kalten Krieges wurde es mehr und mehr zum Symbol für den Systemkonflikt von BRD und DDR. Die Presse stilisierte es zum "Nadelöhr der Freiheit".

Es war ein Sonntag im Jahr 1961, als Sigurd Bethmann die DDR verließ. Er nahm in Berlin-Friedrichstraße die S-Bahn und stieg in Westberlin aus. Danach ging es für Bethmann weiter Richtung Marienfelde: zum Notaufnahmelager. Die DDR-Bürger nannten es "Tor der Freiheit" oder auch "Tor zum Westen". Denn wer es bei seiner Flucht aus dem Osten bis zum Notaufnahmelager Marienfelde geschafft hatte, den trennten nur noch wenige Schritte von einem neuen Leben. Doch diese wenigen Schritte bis in den Westen waren mit Angst, Unsicherheit und einer langen Prozedur verbunden: mit Arztbesuchen, Gesprächen und Kontrollen durch die Amerikaner, Franzosen und Briten.

1953: Notaufnahmelager Marienfelde öffnet

Historisches Hinweisschild mit Vorsichtsmaßnahmen in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde
Historisches Hinweisschild mit Vorsichtsmaßnahmen. Bildrechte: imago/Günter Schneider

1953 war das Notaufnahmelager für die tausenden Menschen, die in die BRD wollten, neu gebaut worden. Zwar gab es andere Aufnahmelager in Berlin, doch diese konnten die langwierigen Aufnahmeverfahren nicht mehr bewältigen. Am 14. April 1953 weihte der Bundespräsident Theodor Heuss die neue zentrale Aufnahmestelle für DDR-Flüchtlinge ein. Marienfelde bot neben Wohneinheiten für 2.000 Menschen auch Platz für die zahlreichen Behörden und Organisationen, die so die Verwaltungsakte schneller bewältigen konnten. Alle aus der DDR Ausreisenden wurden registriert, untersucht und pilgerten von Büro zu Büro. Bevor eine Aufnahme im Westen bewilligt wurde, fanden zahlreiche Sicherheitsüberprüfungen statt.

Lagerordnung in der  Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde
Lagerordnung in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Bildrechte: IMAGO / Günter Schneider

Auch Sigurd Bethmann, der seine Geschichte 2008 im MDR FERNSEHEN erzählte, musste sich diesen Checks unterziehen. Wie jeder andere Flüchtling bekam er einen Laufzettel, den er abarbeiten musste. Ärztlicher Dienst, Sichtungsstelle, Vorprüfung - der Weg zu Anerkennung als Flüchtling war lang. Vor allem Familien brauchten Wochen. Sigurd Bethmann hatte Glück: da er alleinstehend war, konnte er die stundenlangen Prozeduren schneller erledigen. Nach nur sieben Tagen konnte er Marienfelde Richtung Hannover verlassen.

Mauerbau führte zur Zäsur in der Geschichte Marienfeldes

Bereits die Absperrung der Zonengrenzen Mitte 1952 führte zu einer großen Fluchtwelle. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss sprach von einer "Sturmflut". Allein zwischen 1953 und 1961 stellten 2,1 Millionen DDR-Bürger einen Antrag auf Aufnahme in den Westen. Ein scharfer Einschnitt war der Mauerbau im August 1961. Kamen im Juli 1961 noch 30.415 Menschen in die Aufnahmestelle Marienfelde, waren es im Dezember 1961 nur noch 2.420. Bis zur Wiedervereinigung kehrten insgesamt vier Millionen Menschen der DDR den Rücken. Im Volksmund wurde der massenhafte Weggang als "Abstimmung mit den Füßen" bezeichnet.

Die Motive für den Weggang waren unterschiedlich. Politische, persönliche oder wirtschaftliche Gründe spielten eine Rolle. Die sozialistische Umformung der DDR, die mit Zwang und Gewalt betrieben wurde, erfasste sämtliche Lebensbereiche. Wer flüchtete, ließ viel zurück: Familie, Freunde, Hab und Gut. Viel konnten die Menschen nicht mitnehmen. Einen Koffer oder eine Tasche mit Zeugnissen, Urkunden, Fotos und vielleicht ein paar Briefe. Dazu die nötigsten Sachen zum Anziehen.

Flüchtlingslager: Feindselig, unpersönlich, überfüllt

Zimmer im Museum des Notaufnahmelagers Marienfelde, 2013
Ein typisches Zimmer in Marienfelde: drei Doppelstockbetten, ein Tisch mit vier Stühlen. Bildrechte: IMAGO / epd

Der "goldene Westen" aber erwies sich oft als gar nicht so glanzvoll. Oft wanderten die Flüchtlinge von Lager zu Lager, bis sie endlich eine eigene Wohnung fanden. In der Zwischenzeit mussten sie ihr Zimmer mit vielen anderen Menschen teilen. Die Unterkünfte waren mit einem Tisch, Stühlen und Doppelstockbetten ausgestattet. Die Flüchtlinge lebten auf engstem Raum. Sigurd Bethmann beschreibt die Stimmung bei seinem Aufenthalt 1961 im Lager als "feindselig, unpersönlich und überfüllt". Auch Diebstahl blieb nicht aus. Am Abend nahm Bethmann seinen Koffer mit ins Bett, aus Angst, er könnte gestohlen werden.

Drei Phasen in der Geschichte des Aufnahmelagers

Die Abwicklung des Notaufnahmeverfahrens war die zentrale Aufgabe in Marienfelde. Der Ablauf blieb über Jahre unverändert. In der Geschichte des Lagers sind drei Phasen erkennbar. Mitte der 50er-Jahre, als die Flucht mit der S-Bahn über die Sektorengrenzen hinweg noch möglich war, kamen in Marienfelde tausende von Menschen an. Es waren keine Dissidenten, sondern normale Bürger. Oft waren es Familien, Alte oder Alleinstehende aus allen Schichten der Bevölkerung. Kurz vor dem Mauerbau strömten so viele Menschen nach Marienfelde, dass die westlichen Alliierten Zelte aufbauen mussten, um alle unterbringen zu können. Der Mauerbau 1961 bildete eine Zäsur in der Geschichte des Notaufnahmelagers. Die Flüchtlingsströme ebbten ab. Erst als Mitte der 80er-Jahre zunehmend die Ausreise aus der DDR bewilligt wurde, wurde auch Marienfelde wieder Anlaufstelle.

Symbolbild des Ost-West-Konflikts

Das Aufnahmelager war nicht nur Anlaufstelle für Flüchtlinge. Es wurde zum Symbol des bestehenden Systemkonflikts. Während die Bundesrepublik mit Marienfelde ihren Willen bekundete, den "Ostzonen"-Flüchtlingen zu helfen, war das Lager für die DDR Ausdruck westlicher Feindaktivitäten. Für die DDR war die Ausreisewelle ein Gesichtsverlust und ein Aderlass für ihre Wirtschaft. Denn sie verlor junge und gut ausgebildete Menschen. Bereits 1952/53 versuchte die DDR-Führung daher, die Ausreisen zu stoppen. Walter Ulbricht hatte eigens in Moskau um bewaffnete Unterstützung an den Sektorengrenzen gebeten. Da alle "sanften" Methoden nichts brachten, reagierte die DDR mit dem Mauerbau. Damit gelang es, das ökonomische System kurzfristig zu stabilisieren.

Topagenten der Stasi mittendrin

Da Marienfelde bei der Stasi als Gefahr für die innere Sicherheit galt, schleuste sie Spitzel ein. Die Informationen über die Flucht, die die IM vor Ort einholten, nutzte sie, um die Grenzen besser abzuschotten und bekannt gewordene Fluchtwege dicht zu machen. Jede bekannt gewordene Flucht wurde dokumentiert und ausgewertet. Die Spitzel fertigten zudem Phantombilder derer an, die sie im Lager gesehen hatten. Damit sollte die Identität der "Republikflüchtlinge" aufgedeckt werden, um sie im Falle einer Rückkehr verurteilen zu können. Während die Stasi immer wieder die IM vor Ort wechseln musste, gelang es ihr, einen Topagenten in der Beratungsstelle der Alliierten zu platzieren. "Dr Lutter", mit bürgerlichem Namen Götz Schlicht, belieferte Ost-Berlin bereits ab 1957 mit brisantem Material aus Marienfelde.

Marienfelde heute: Flüchtlingsunterkunft und Erinnerungsstätte

1989 hatte das Notaufnahmelager Marienfelde seinen letzten großen Einsatz. In der Zeit der Wende kamen an einem Tag so viele Flüchtlinge wie 1953 in einem Monat. Wieder wurden Zelte aufgebaut. Nach der Wiedervereinigung gab es dann für Marienfelde keine richtige Verwendung mehr. Später wurden Aussiedler aus Süd- und Osteuropa auf dem Gelände untergebracht. Heute dient ein Teil des Lagers weiterhin der Aufnahme von Geflüchteten. In einem anderen Teil ist die Dauerausstellung "Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde" platziert.

Dieser Artikel erschien erstmals 2018 und wurde 2023 aktualisiert.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 11 | 13. Januar 2022 | 11:00 Uhr