1963 Der Fall Fritz Hanke - Prozess gegen einen Grenzsoldaten
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05. Januar 2017, 10:21 Uhr
1963 stand erstmals ein DDR-Grenzsoldat für Todesschüsse vor einem westdeutschen Gericht. Ein Jahr nach dem Mauerbau hatte Fritz Hanke einen Flüchtling im Harzer Grenzgebiet erschossen. Nachdem der Grenzsoldat selbst in den Westen floh, wurde er verhaftet und angeklagt. Der Prozess war ein Politikum, an dem sich die Meinungen von Justiz und Politik aneinander aufrieben.
Ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer und der Befestigung der innerdeutschen Grenze schenkten sich beide deutschen Staaten nichts. Sie erkannten nicht einmal die Existenz des jeweils anderen an. Inmitten des Kalten Krieges warf der Prozess gegen den Todesschützen Fritz Hanke grundsätzliche Fragen auf, an denen sich die Meinung der Juristen und Politiker gegenseitig aufrieben. Von einem "Musterprozess" und von einem "Präzedenzfall" war in dieser Zeit die Rede.
Schüsse am Wurmberg
Fritz Hanke meldete sich 1959 freiwillig zu den Grenztruppen, nachdem er die Schule abgebrochen und sich als Hilfsarbeiter bei der Reichsbahn durchgeschlagen hatte. Kurz nach dem Mauerbau wurde der junge Grenzer nach Schierke in den Harz versetzt. Dort versuchte der kaum jüngere Peter Reisch am 5. Juni 1962 in Hankes Grenzabschnitt die Flucht. Als Reisch auf eine Doppelstreife traf, wurde auch Fritz Hanke mit seinem Streifenführer von Warnschüssen alarmiert.
Peter Reisch war kurz vor einem Waldstück und es hätte nicht viel gefehlt und er wäre weg gewesen. Und bis dahin hätten alle Beteiligten so tun können, als ob sie versuchen, ihn zu bekommen, aber es ihnen nicht gelingt.
Doch die Grenzer ließen den jungen Mann nicht laufen, denn schließlich stand dies in der DDR unter Strafe. Dreimal soll Fritz Hanke von seinem Vorgesetzten den Schießbefehl bekommen haben, bis er schoss - wobei er auf die Schulter des Flüchtenden zielte, jedoch den Hinterkopf traf. Peter Reisch brach zusammen, und wurde zunächst in das Krankenhaus Wernigerode gebracht. Einen Tag nach seiner Verlegung nach Magdeburg starb Reisch am 13. Juli. - Der Mann jedoch, der Reisch an der Flucht gehindert und tödlich verwundet hatte, bekam für seinen Einsatz eine Auszeichnung und 200 Mark Prämie.
Meldung an Salzgitter
Schnell wurde der Zwischenfall aktenkundig. In der eigens für solche Fälle eingerichteten Zentralen Ermittlungsstelle in Salzgitter legte man unter der Nummer 464/62 eine Akte über die Schüsse am Wurmberg an. Wie in vielen anderen Fällen kannten die Ermittler der kleinen Behörde zu diesem Zeitpunkt weder Täter, noch Ort oder Ausgang des tödlichen Zwischenfalls. Mithilfe von Zeugenaussagen von Flüchtlingen und Überläufern setzten sie Stück für Stück das Puzzle zusammen, um die Beweise zu erlangen, die auch zur Festnahme von Fritz Hanke führten.
Im Fall Hanke hat das Puzzle sehr schnell funktioniert. Erstaunlich schnell. Es soll so gewesen sein, dass Grenzsoldaten aus der Kompanie kurz nach der Flucht von Fritz Hanke über den Todesstreifen hinweg gerufen haben sollen: 'Da habt ihr ja jetzt den Richtigen. Der hat einen erschossen.' Darauf sollen sie hellhörig geworden sein und dann wurde er eine Woche nach seiner Flucht festgenommen.
Fritz Hanke war wenige Monate nach den Todesschüssen an der Grenze selber in den Westen geflohen. Bei der üblichen Vernehmung im Durchgangslager gab er allerdings nichts zu dem Vorfall am Wurmberg an, so dass er vorerst zur Verwandtschaft nach Stuttgart weiterreisen durfte. Eine Woche später, am 29 März 1963, wurde er verhaftet.
Musterprozess mit politischen Zündstoff
Das Stuttgarter Schwurgericht verhandelte im Oktober 1963 den Fall Fritz Hanke. Doch es handelte sich nicht um einen "normalen" Prozess wegen Mordes oder Totschlags. Von Anfang an barg der Prozess politischen Zündstoff. Es ging in dem Verfahren um nichts geringeres als die Frage, ob die DDR und damit ihr Rechtssystem anerkannt würden und wo das bundesdeutsche Recht seine Grenzen fände.
Es war juristisch eine sehr heikle Rechtslage. Die Richter haben in ihrem Urteil ganz klar zu verstehen gegeben, dass sie nicht gewillt sind, über die Zweitstaaten-Theorie zu diskutieren. Sie haben klar zu verstehen gegeben, dass die DDR kein Ausland ist.
Fritz Hanke wurde mit einigen juristischen Winkelzügen zu 15 Monaten wegen versuchten Totschlags verurteilt, von denen er aber nur zwei Drittel im Gefängnis verbüßen musste. Die Konsequenzen des Präzedenzfalles waren jedoch weitreichender, als man es sich Anfang der 1960er-Jahre vorgestellt hatte. Nach der damals vertretenen Rechtsauffassung hätte jeder DDR-Funktionär verhaftet werden müssen, der einen Fuß auf den westdeutschen Boden setzte und für den Schießbefehl Verantwortung trug.
Die Annährungspolitik der späteren Jahre konnte mit dieser Auffassung nichts mehr anfangen und sogar Juristen und Politiker begannen das Hanke-Urteil in Frage zu stellen. Auch die Zentrale Ermittlungsstelle in Salzgitter, einst auf Initiative Willy Brandts eingerichtet, wurde mit der Sinnfrage konfrontiert. Bis Ende der 1980er-Jahre stellten vor allem die sozialdemokratisch regierten Bundesländer die Finanzierung ein. Sie existierte noch bis 1992 und konnte vor allem für die "Mauerschützenprozesse" wichtige Beweise zur Verfügung stellen.