Eva Ruppert - die Frau, die Erich Honecker befreien wollte

17. Mai 2021, 10:58 Uhr

Eva Ruppert verehrt seit Jahrzehnten Erich Honecker. "Er war ein sehr gefühlvoller, sehr standhafter, sehr konsequenter Kommunist, mit vielen menschlichen Empfindungen und bis zum Tod aufrecht", schwärmt sie. Nachdem Honecker wegen der Mauerschüsse angeklagt wird und in U-Haft sitzt, will sie ihn gar befreien.

"Er war ein sehr gefühlvoller, sehr standhafter, sehr konsequenter Kommunist, mit vielen menschlichen Empfindungen und bis zum Tod aufrecht." Diese Worte gelten Erich Honecker, dem einst mächtigsten Mann der DDR. Okay, werden Sie sagen: die klassische Lobhudelei eines alten Bonzen oder ehemaligen Mitstreiters des SED-Generalsekretärs. Nein, sie stammen von einer pensionierten Lehrerin aus dem hessischen Bad Homburg namens Eva Ruppert – eine kleine, quicklebendige Dame, der man ihre 84 Jahre nicht ansieht und die bis in die späten 1990er-Jahre am örtlichen Gymnasium Altgriechisch, Latein und Religionspädogik unterrichtete. Was um alle Welt macht eine Frau mit dieser Vita zur glühenden Verehrerin von Erich Honecker?

"Erweckungserlebnis" in Ost-Berlin

Zu tun hat es mit ihrer politischen Sozialisation, ihrem DDR-Bild und mit dem, was Honecker nach seinem Sturz widerfährt. Ein Parteibuch hat Eva Ruppert nie besessen und war lange politisch völlig unbedarft, wie sie selbst betont. In den 1970er-Jahren kommt sie mit der Friedensbewegung in Berührung. Ihr "Erweckungserlebnis" in Sachen Sozialismus hat sie schließlich auf einem Kirchentag in Westberlin, wo sie zum ersten Mal die DDR, sprich den Ostteil von Berlin, besucht: "Ich hatte das Gefühl: Hier ist mein Deutschland, meine Heimat – der Staat, in dem ich lebte, war nicht der meine. Die Freundlichkeit der Leute in der DDR hat mich überwältigt."

Marx, Engels, Lenin und Honecker

Von jetzt an liest sie marxistische Literatur und absolviert ein dreijähriges Fernstudium an der "Karl-Liebknecht-Schule" der DKP in Leverkusen. Anstelle von Caesar, Platon und Sokrates werden nun Marx, Engels und Lenin zu Eva Rupperts Ikonen – und Erich Honecker. "Er war das Staatsoberhaupt damals und er hat den Sozialismus da aufgebaut, vorher natürlich Ulbricht, aber den kannte ich nicht. Das war für mich schon eine große Leistung."

Und genau dieser Honecker wird im Juli 1992 von Russland an die Bundesrepublik ausliefert, wo man ihn per Haftbefehl sucht und wo er nun als Untersuchungshäftling im Gefängnis Berlin-Moabit einsitzt. Im angestrebten Prozess gegen ihn und andere hohe ehemalige DDR-Amtsträger geht es vorrangig um ihre Verantwortung für die Todesschüsse an der Mauer. Eva Ruppert ist empört: "Dass der so genannte deutsche Rechtsstaat ein Staatsoberhaupt eines fremden Staates plötzlich einfach ins Gefängnis schickt, und vor allen Dingen in das Gefängnis, in dem er schon mal unter den Nazis gesessen hat, also das fand ich so unmöglich und so empörend, dass ich gedacht hab, da muss man irgend etwas machen. Das kann man so nicht einfach zulassen."

Besuch bei Honecker

Hilfe suchend wendet sich die Bad Homburger Lehrerin an die DKP und tritt dem so genannten Solidaritätskomitee für Erich Honecker bei. Auf diesem Weg erhält sie zusammen mit den westdeutschen Genossen die Chance, dem prominenten Häftling zum 80. Geburtstag zu gratulieren – bei einem Besuch im Berliner Gefängnis Moabit. Während des Gesprächs hält sie sich bescheiden zurück und ist begeistert von Honecker: "Ganz Staatsmann. Nicht Gefangener, ganz Staatsmann, aufrecht. Gar nicht, als wenn er im Gefängnis wäre. Und dann hab ich gedacht: Da muss ich noch mal hin. Ich wollte ihn kennenlernen einfach."

Von jetzt an nimmt Eva Ruppert die Sache selbst in die Hand, beschafft sich eine Besuchserlaubnis und sitzt wenig später Erich Honecker allein im Moabiter Besucherraum gegenüber. Wobei: Allein stimmt nicht ganz, denn ein JVA-Beamter ist immer dabei. Die damals 59jährige Eva Ruppert ist aufgeregt: "Er hat einem das leicht gemacht. Er war gar nicht so distanziert oder von oben herab. Er hat zuerst gefragt, wie die Reise war. Ich hätte doch eine lange Reise hinter mir und ob ich schon gefrühstückt hätte, und da war das Eis gebrochen.“

Briefe gehen hin und her

Da eine Stunde schnell vorbei ist und vieles ungesagt bleibt, beschließt Eva Ruppert, dem Häftling zu schreiben. Ein Brief jagt den anderen, Honecker kommt mit seinen Antworten kaum hinterher. Sie schickt ihm selbstverfasste politische Gedichte und Musikkassetten mit Bach und Vivaldi. Er wünscht sich Verdis Nabucco, seine Lieblingsoper. Ein Foto von sich und ihrem Cockerspaniel Barry legt sie einem der Briefe bei. Schließlich hatten auch die Honeckers immer einen Cockerspaniel. Die Plastik "Lesender Arbeiter", die sie extra für ihn modelliert, wird von der Gefängnisleitung allerdings zurückgewiesen. Er empfiehlt ihr Tom Wolfes Roman "Fegefeuer der Eitelkeiten", den er gerade liest. Sie schickt ihm "Inessa", einen dokumentarischen Bericht über die Beziehung Lenins zu seiner französischen Verehrerin Inessa Armand. Ein wenig, so gesteht sie im Interview, fühlt sich Eva Ruppert als Erich Honeckers "Inessa". Ob er sich als ihr "Lenin" fühlt, ist den Briefen nicht zu entnehmen. "Durch die Briefe kam ein gegenseitiges Verstehen zum Ausdruck und auch eine Zuneigung. Das war also eine politische und eine persönliche Zuneigung. Das würde ich so sehen.“

"Ich hätte mitgemacht, ihn zu befreien"

Als im November 1992 das Verfahren gegen Honecker eröffnet wird, ist seine hessische Verehrerin natürlich vor Ort. Die Verhandlung, in der es hart zur Sache geht und auch die schwere Krebserkrankung des Angeklagten unappetitlich seziert wird, ist für Eva Ruppert so schwer zu ertragen, dass sie manchmal kurz davor ist, ihren Unmut darüber laut reinzurufen. Dass Honecker eventuell auch eine juristisch relevante Verantwortung für die Todesschüsse an der Mauer trägt, weist sein westdeutscher Fan weit von sich: " Er stand überhaupt nicht zu Recht vor Gericht und den Schießbefehl hat es ja nie gegeben. Das wissen wir. Es gibt an jeder Grenze Anweisungen für den Gebrauch der Schusswaffe, an jeder Grenze, in jedem Staat und das war auch in der DDR nicht anders. Ich hab natürlich gehofft, dass er frei käme, dass er befreit wird und das ging eben nicht. Ich hätte, wenn ich die Möglichkeit gehabt und noch Leute gehabt hätte, die das gemacht hätten, hätte ich mitgemacht, ihn zu befreien.“

Einmal Fan, immer Fan

Zur "tollkühnen Befreierin" muss Eva Ruppert nicht mehr werden, denn am 13. Januar 1993 wird das Verfahren gegen Honecker wegen seiner fortschreitenden Krebserkrankung eingestellt. Noch am selben Tag verlässt er den Gerichtssaal als freier Mann und besteigt ein Flugzeug nach Chile. Seine Verehrerin ist glücklich und traurig zugleich: "Man konnte sich noch nicht einmal richtig verabschieden. Das ging ja nicht. Wie hätte das gehen sollen? Das hat mir schon ein bisschen weh getan." Auch wenn sie ihr Idol nicht mehr sehen kann, hält seine glühende Verehrerin den Briefkontakt zu Honecker aufrecht, bis zu dessen Tod im Mai 1994 – und danach auch zu Margot Honecker, bis zu deren Ableben im Mai 2016.

Übrigens lässt Eva Ruppert bis heute anlässlich des Honecker-Geburtstags jedes Jahr im "Neuen Deutschland" eine Anzeige mit einem Zitat ihres Brieffreundes veröffentlichen, "dass immer so aktuell wirkt, als ob es gerade geschrieben worden wäre". Einmal Fan, immer Fan.

Buchtipp: Erich Honecker, Eva Ruppert, Liebe Eva. Erich Honeckers Gefängnisbriefe. edition Ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2017

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV auch in "Zeitreise" 08.08.2016, 21.15 Uhr