Kreideumriss einer Person mit Blutfleck
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Mord im Auftrag des Staates Wie Geheimdienste töten

21. Oktober 2022, 15:49 Uhr

Die Anschläge auf Alexej Nawalny, die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi und der Giftmordanschlag auf den ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier Sergej Skripal zeigen: Morde und Mordversuche durch Geheimdienste sind real und ihre Anzahl nimmt zu. Die bipolare Welt des Kalten Krieges, in der sich vor allem die USA und die Sowjetunion mit ihren Verbündeten gegenüberstanden, hat sich aufgelöst. Neue Regionalmächte wie der Iran und Saudi-Arabien streben auf. Auch ihre Geheimdienste morden.

Ein tückischer Giftanschlag im Kalten Krieg

Es war eine Aktion wie aus einem Spionagethriller. Als der bulgarische Dissident und Schriftsteller Georgi Markow am 7. September 1978 an einer Haltestelle in London auf den Bus wartete, verspürte er auf einmal einen stechenden Schmerz im rechten Oberschenkel. Kurz zuvor war er von einem Mann angerempelt worden. Als er sich umdrehte, sah er den Mann davoneilen und einen Regenschirm auf dem Boden liegen. Am Abend bekam er hohes Fieber und wurde ins Krankenhaus gebracht. Markow litt an typischen Vergiftungserscheinungen: Kopfschmerzen, starke Blutdruckschwankungen und Herzrhythmusstörungen. Vier Tage später starb er.

Seine Leiche wurde obduziert. Dabei fand man die Ursache für Markows Tod: In seinem Bein steckte eine winzige Kugel mit Spuren des Pflanzengifts Rizin. Kleine Löcher in der Kugel waren mit Zuckerguss verschlossen. Der löste sich auf und gab das Gift frei. Die englische Polizei vermutete den bulgarischen Geheimdienst hinter dem Mord und den Staats- und Parteichef Todor Shiwkow als Auftraggeber. Die mörderische Attacke fand ausgerechnet am 67. Geburtstag des Diktators statt. Markow hatte sich in seinen Kommentaren in der BBC immer bissiger und kritischer über Shiwkow geäußert.

Georgi Markov
Opfer eines Giftanschlages: der bulgarische Schriftsteller und Dissident Georgi Markow. Bildrechte: imago/United Archives International

Geheimdienste als Mörder

In Bulgarien wurden fast alle Akten zu diesem Fall vernichtet. Nur ein Vorgangsband entging dem Reißwolf. Und der fiel dem Historiker und Geheimdienstexperten Christoph Nehring in die Hände. Nehring erforschte die Hintergründe des Attentats, die er neben vielen anderen staatlich beauftragten Morden in seinem Buch "Geheimdienstmorde: Wenn Staaten töten" (Heyne Verlag 2022) erzählt. Der Historiker untersucht eine Vielzahl von Fällen, in denen Menschen getötet wurden, weil sie abtrünnig wurden, geheime Informationen besaßen oder als Dissidenten unbequem geworden waren. Er schreibt (u.a.) über Morde russischer, amerikanischer und israelischer Geheimagenten. Die deutsche Öffentlichkeit hielt diese Geheimdienstmorde lange für ein "Relikt, ein dunkles Flackern aus der fernen Zeit des Kalten Krieges", hat Nehring festgestellt. Doch auch hierzulande töten Geheimdienste.

2019 erschoss ein Agent des russischen Geheimdienstes FSB einen georgischen Exilanten und ehemaligen Tschetschenienkämpfer. Das Gericht, welches den Mörder Ende letzten Jahres zu lebenslanger Haft verurteilte, sah es als erwiesen an, dass er im Auftrag des russischen Staates gehandelt hatte. Nehring will mit seinem Buch "das große Mysterium um den Geheimdienstmord ein Stück weit auflösen und zeigen, dass auch zu solch einem hochsensiblen Thema gesicherte Informationen vorliegen". Dafür analysiert er mehr als 120 dieser Tötungen und untersucht, wer warum ins Visier von Geheimdiensten gerät.

Mord im Staatsauftrag

Es werde in der Zukunft eher mehr als weniger dieser Morde geben, diagnostiziert Gerhard Schindler, der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes. Ein Grund dafür sei die Auflösung der alten internationalen Ordnung. Großmächte wie die USA, Russland und China sind einer neuen Konkurrenz ausgesetzt, Regionalmächte wie der Iran oder Saudi-Arabien streben nach Bedeutung und scheuen auch vor Morden nicht zurück.

Gerhard Schindler
Gerhard Schindler, ehemaliger BND-Chef, 2013 Bildrechte: imago/photothek

Das beweist der Fall des kritischen Journalisten Jamal Khashoggi, der im Oktober 2018 in Istanbul getötet wurde. Als er das saudische Konsulat betrat, um dort Dokumente für seine bevorstehende Hochzeit abzuholen, wurde er nach übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von amerikanischen Geheimdiensten angegriffen und getötet. Anschließend soll seine Leiche zersägt und wahrscheinlich in Säure aufgelöst worden sein. Ein brutaler Mord, der wahrscheinlich vom saudi-arabischen Kronprinz Mohammed bin Salman in Auftrag gegeben wurde. Das belegte die spätere Auswertung der Telefondaten. Staatlich beauftragte Morde haben Gemeinsamkeiten, stellt Nehring fest. Sie sollen Abtrünnige bestrafen, Kritiker zum Schweigen bringen und abschrecken. Manche dieser von autoritären Staaten veranlassten Tötungen werden öffentlich und haben eine Botschaft für Oppositionelle: "Wir wissen, was ihr macht. Das lassen wir uns nicht gefallen", so der ehemalige BND-Chef Schindler.

Ein als saudi-arabischer Kronprinz Mohammad bin Salman verkleideter Demonstrant
Ein als saudi-arabischer Kronprinz Mohammed bin Salman verkleideter Demonstrant mit dem Bild des getöteten Jamal Khashoggi, 2018. Bildrechte: imago/UPI Photo

Giftanschlag als Klassiker

Die Methoden haben sich im Lauf der Zeit nicht wesentlich verändert. Zwar kamen in den letzten Jahren auch Drohnen und Raketen bei Tötungsaktionen zum Einsatz. Trotzdem hat Gift als tödliches Mittel nicht ausgedient. 40 Jahre nach dem Giftanschlag auf den bulgarischen Dissidenten Markow in London wurde England zum Schauplatz eines erneuten Attentats mit Gift. Im März 2018 wurden der ehemalige russische Geheimdienstoffizier Sergej Skripal und seine Tochter mit dem Nervengift Nowitschok angegriffen. Ein Team des russischen Geheimdienstes GRU träufelte Nowitschok auf die Türklinke von Skripals Haus. Skripal und seine Tochter nahmen das Gift über die Haut auf. Die beiden überlebten nur knapp.

Ein Bild von Sergei Skripal, dainter ein Aufsteller von Wladimir Putin
London macht Putin persönlich für den Giftanschlag auf Skripal verantwortlich. Moskau weist diese Vorwürfe zurück. Bildrechte: imago images/Stefan Zeitz

Düstere Aussichten

Christopher Nehring hat auch analysiert, warum Geheimdienste immer noch Mordanschläge ausführen und mehrere Gründe dafür gefunden: der Krieg gegen den Terror, die Auflösung der internationalen Ordnung, den Aufstieg neuer Regionalmächte, Globalisierung und Migration, neue Technologien. Gleichzeitig scheint die Bereitschaft von Staaten zu schwinden, sich friedlich auf die Lösung von Konflikten zu verständigen. Das zeigt auch der Krieg in der Ukraine. Deshalb sei ein Rückgang der mörderischen Aktivitäten nicht zu erwarten.

"Geheimdienstmorde. Wenn Staaten töten", Christopher Nehring, Heyne Verlag Christopher Nehring, 1984, ist Gastdozent des
Medienprogramms Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung an der Universität Sofia und Dozent am Lehrstuhl für Militärgeschichte und
Kulturen der Gewalt der Universität Potsdam. Zuvor war er Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Spionagemuseums in Berlin.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Phantom - Serientätern des Ostens auf der Spur | 27. September 2022 | 22:10 Uhr

Am Wegesrand liegt das Opfer eines Serienmörders. Perspektive auf einen Rockansatz und nackte Beine. Am linken Fuß trägt das Opfer einen Halbschuh, der rechte Fuß ist blutbeschmiert und nackt. 73 min
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