Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio

Geschichte

DDRNS-ZeitZeitgeschichteMitteldeutschlandWissen

ImpfschädenDer Hepatitis-Skandal 1978/79 in der DDR

04. Januar 2016, 18:12 Uhr

Winter 1978/79: In den Kliniken der DDR melden sich jeden Tag für Tag junge Mütter. Sie klagen über Juckanfälle, Bauchschmerzen und hohes Fieber - der Beginn einer medizinischen Tragödie.

"Es war ein Wunschkind, wir haben uns sehr gefreut über unsere Tochter. Ich war gesund und munter, hatte eine Entbindung ohne Probleme", erinnert sich Cornelia Trentzsch an ihre Schwangerschaft im Jahr 1978. Sie ist eine der Frauen, die damals eine sogenannte Anti-D-Prophylaxe bekommen hat. Diese Impfung soll bei einer Folgeschwangerschaft dafür sorgen, dass das Immunsystem der Mutter nicht das Leben des nächsten Neugeborenen gefährdet. Doch diese eine Spritze bereitet Cornelia Trentzsch mehr Sorge als dass sie hilft. Unmittelbar nach der Impfung muss die Mutter nämlich zurück ins Krankenhaus. Sie klagt über Juckreiz, Bauchschmerzen und Fieber. Aber Cornelia Trentzsch ist nicht die einzige Mutter mit diesen Symptomen. Prof. Dr. Renate Strahlendorff, Chefärztin der Infektionsstation des Krankenhauses Prenzlauer Berg in Berlin, erinnert sich: "Da kam mein Oberarzt ganz aufgeregt an und sagte:

'Stellen Sie sich mal vor: Wir haben vier Zugänge bekommen und das sind alles ganz junge Frauen mit erhöhten Leberenzym-Werten.'" Die Meldungen gelangen schließlich ins Gesundheitsministerium in Berlin. Dort werden die Fälle zunächst dokumentiert, später beginnt die Ursachensuche. Damit wird Dr. Barbara Kirsch von der Bezirkshygiene-Inspektion Leipzig beauftragt. Der Ärztin fällt ein entscheidendes Detail auf: "Bei den Gelbsuchtserkrankten waren häufiger Frauen dabei, die gerade entbunden hatten."

Schubert und das BIBT im Verdacht

Es erhärtet sich der Verdacht: Die Erkrankungen könnten etwas mit der Anti-D-Prophylaxe zu tun haben. Die Spur führt nach Halle. Dort leitet der Arzt Dr. Wolfgang Schubert das "Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen" (BIBT). Dr. Schubert hat gemeinsam mit der Chemikerin Dr. Viktoria Tesar das Verfahren zur Anti-D-Herstellung entwickelt. Seit 1971 wird der Impfstoff verabreicht und Schubert ist sich sicher, "die Neugeborenen-Erkrankung bald selten werden zu lassen". Für die Anti-D-Prophylaxe bekommt Schubert 1976 den Nationalpreis der DDR.

Die DDR hat eine Vorreiterrolle bei dieser Impfung. So flächendeckend wie hier wird der Anti-D-Impfstoff nirgends in der Welt verabreicht. Die Hallenser Forscher sind alleiniger Hersteller des Anti-D-Serums und verpflichtet, jedes Jahr 20.000 Ampullen des Serums an die DDR-Krankenhäuser zu liefern. Das Institut kann sich keine Produktionsausfälle leisten. Weil die Prophylaxe zur Pflichtimpfung wird, bekommt auch Cornelia Trentzsch Ende 1978 eine solche Spritze.

Verseuchte Plasma-Spende

Der Ausgangsstoff für den Impfstoff ist Blutplasma mit D-Antikörpern. Das ist allerdings rar. Viktoria Tesar erinnert sich: "Es war nicht so einfach, genügend Ausgangsmaterial zu bekommen, um produzieren zu können." Ende 1978 droht jedoch ein Engpass in Schuberts Laboren. Vor diesem Hintergrund wird um jede Plasmaspende gerungen. Eine dieser Spenden ist mit Hepatitisviren verseucht. Für diesen Fall sind die Anordnungen des Transfusionsdienstes der DDR eindeutig: Die Plasmaspende darf nicht verwendet werden. Dr. Schubert sperrt das Plasma und versucht Ersatz zu beschaffen. Doch das gelingt nicht. Daraufhin verdünnt er das Verseuchte mit anderen Plasmen. Er ist davon überzeugt, dass dieses Vorgehen die Hepatitis-Viren abtötet. Das Serum wird am Institut für Impfstoffe in Dessau getestet. Dr. Heinz Richter ist mit dieser Aufgabe betraut. Sein Urteil für die getesteten Plasmen: "Das war unbrauchbar, man hätte es vernichten müssen."

Folgenschwere Fehlentscheidungen

Schubert stellt aus den Plasmen trotzdem weiter Impfstoff her. Die Kontrolleure in den Blutspende-Einrichtungen sind für die Überprüfung und Freigabe der Produkte verantwortlich - auch beim Institut in Halle ist das so. Die Prüfer geben allerdings im blinden Vertrauen auf Schuberts Kompetenz die Chargen frei. Tausende infektiöse Anti-D-Ampullen gehen so an die DDR-Krankenhäuser. Das verseuchte Plasma kommt in Umlauf, auch in der Spritze von Cornelia Trentzsch ist es. Anfang 1979 gibt es in der DDR-Hauptstadt zehn Krankheitsfälle, in Rostock sechs, in Leipzig und Sangerhausen jeweils vier. Einige Frauen schweben bereits in Lebensgefahr. Zu diesem Zeitpunkt sind fast 2.000 der fraglichen Impfdosen verabreicht worden. Doch wie konnte es dazu kommen?

Planerfüllung um jeden Preis

Das bleibt zunächst selbst für Schuberts Stellvertreterin Dr. Viktoria Tesar ein Rätsel: "Das war natürlich ein Schock, muss ich schon sagen. Das war mir aber vorher noch gar nicht klar, dass also diese Plasmen als Ausgangsmaterial, die gesperrt waren, doch verwendet worden sind. Wie das geschehen ist, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen." Doch nachdem Kontrolleure Schuberts Labor untersucht haben, finden sie in den Akten die Bestätigung dafür, dass Dr. Schubert tatsächlich die Sperrung der Plasmen aufgehoben hat.

Der Skandal hat bereits große Kreise gezogen und das Gesundheitsministerium informiert das Zentralkomitee der SED. Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger beruft eine Experten-Kommission ein. Sie soll die Verantwortlichen ermitteln. Als Vorsitzender wird Prof. Friedrich Oberdoerster, Direktor des "Zentralen Kontrollinstituts für Seren und Impfstoffe" in Berlin, berufen. Schubert rechtfertigt sich und verweist auf einen Engpass, der ohne die Verwendung der verseuchten Seren entstanden wäre. Im Übrigen, betont er, habe er selbst Oberdoerster im Juni 1978 über den Vorfall informiert und ihm vorgeschlagen, Impfstoff aus dem Westen zu importieren oder die Prophylaxe auszusetzen. Oberdoerster habe ihn jedoch angewiesen, um jeden Preis zu liefern: "Sie meinen doch wohl nicht ernsthaft, dass im Falle, dass Sie dieser Verantwortung nicht nachkommen, die Rh-Prophylaxe in der DDR zeitweilig unterbrochen werden könnte." Genau deshalb, betont Schubert, habe er die Test-Ergebnisse ignoriert und die Impfchargen mit neuen Bezeichnungen versehen, sodass nicht mehr nachvollziehbar gewesen sei, dass bei der Herstellung Plasma mit Hepatitis-Viren verwendet worden ist.

Mütter kommen ohne Kinder in Quarantäne

Parallel zu Oberdoersters Untersuchungen erhält die Hygienikerin Dr. Barbara Kirsch Order vom Gesundheitsministerium in Berlin. Alle in der letzten Zeit mit Anti-D geimpften Frauen müssen sich zu einem Bluttest in ihren jeweiligen Krankenhäusern melden. Worauf ihr Blut getestet wird, erfahren sie nicht. Die Ärzte sind zum Schweigen verdonnert. Die Testergebnisse laufen bei Dr. Barbara Kirsch zusammen. Ihre Reaktion: "Wir waren schon erschrocken, dass es dann so viele Frauen betroffen hat. Das heißt, dass die Gabe des Anti-D-Serums in den meisten Fällen dazu geführt hat, dass die Leberentzündung aufgetreten ist und dass die Infektionsdosis so hoch war, dass keine Frau das wegstecken konnte." Die Ärzte schlussfolgern aufgrund der Leberentzündungen, dass die jungen Mütter an einer Hepatitis erkrankt sind. Die Viren sind aber nicht den bekannten Hepatitisformen A und B zuordenbar. Der Erreger und seine genaue Wirkung sind unbekannt, deshalb sollen die erkrankten Frauen isoliert werden. Barbara Kirsch, selbst zweifache Mutter, bekommt die unangenehme Aufgabe, alle betroffenen Frauen über eine bevorstehende stationäre Isolation zu informieren. Die Infektionsstationen der Bezirks- und Kreiskrankenhäuser füllen sich. Für die betroffenen Mütter bedeutet das: Sie müssen sich nach sechs oder sieben Wochen mit ihren Kindern von den Neugeborenen trennen. Wie lange der Abschied der Kinder von ihren Müttern dauern wird, weiß niemand. Am Ende werden es in manchen Fällen fast vier Monate sein.

Ermittlungskommission befangen

Prof. Dr. Renate von Strahlendorff (Aufnahme 2012) Bildrechte: Hoferichter & Jacobs

Die gesamten Vorgänge sollen vertuscht werden, so erinnert sich Chefärztin Prof. Dr. Renate von Strahlendorff: "Es wurde so eine Geheimnistuerei über Ursache und Wirkung darüber gelegt, die sicherlich nicht nützlich war und wir hatten auch Weisung, uns nicht näher darüber auszulassen." Was damals für Ärzte gilt, gilt auch für die Patientinnen: striktes Redeverbot. Das Leben der Frauen steht auf dem Spiel, aber die Berliner Gesundheitspolitiker sind besorgt um den internationalen Ruf des sozialistischen Vorzeige-Gesundheitssystems. Bis Februar 1979, also etwa sieben Wochen nach Beginn der Impfungen mit den verseuchten Chargen, sind bereits 475 Frauen erkrankt. Aber schon im Frühjahr 1979 legt sich die Aufregung im Gesundheitswesen: Es sind zwar 1.400 Frauen und ca. 30 Säuglinge erkrankt, aber die befürchtete Ansteckungswelle ist ausgeblieben, die Epidemie überschaubar. Das meldet Gesundheitsminister Mecklinger auch dem ZK der SED. Zeitgleich ist die Ermittlungskommission um Prof. Oberdoerster zu einem ersten Ergebnis gekommen: Dr. Schubert wird alle Schuld aufgeladen, obwohl er eigentlich nur auf Weisung gehandelt hat. Er wird beurlaubt und ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

Fatale Verkettungen

Doch damit ist der Skandal nicht vorbei. Im April 1979 haben sich vermutlich 1.000 weitere Frauen mit Hepatitis-Virus infiziert. Das Prüfinstitut in Dessau stellt fest: Weitere acht Chargen mit hepatitisverseuchtem Impfstoff sind in Umlauf gekommen. Sie sind mit einem Abfallprodukt aus dem Herstellungsprozess der ersten verseuchten Impfseren verunreinigt worden. Diese Chargen, so hatte die Berliner Expertenkommission um Prof. Oberdoerster beschieden, "können mit vertretbarem Risiko hinsichtlich der Gefahr der Übertragung einer Hepatitis angewendet werden". Doch Oberdoerster wird dafür nicht verantwortlich gemacht, stattdessen fällt Dr. Schubert endgültig in Ungnade. "Mir wurde dann eröffnet, dass unser lieber Chef ab sofort - und das heißt ab der nächsten Stunde - suspendiert ist", erinnert sich Viktoria Tesar.

Gesundheitsminister Mecklinger erstattet beim Generalstaatsanwalt der DDR Anzeige gegen Dr. Schubert. Ein Staatsanwalt und der Leiter der Mordkommission Halle starten ihre Ermittlungen. Zehn Monate nach dem ersten Auftreten der ersten Hepatitis-Infektion beginnt im November 1979 der Prozess gegen Dr. Wolfgang Schubert. Und wieder wird einem Mann eine ganz besondere Rolle zuteil: Prof. Friedrich Oberdoerster. Er wird als Gutachter und Sachverständiger bestellt.

Das Urteil des Gerichts lautet: Zwei Jahre Haft für Wolfgang Schubert, die ärztliche Approbation wird ihm entzogen. Er muss jedoch seine Haftstrafe nicht antreten. Wolfgang Schubert verfällt dem Alkohol, zieht sich zurück und stirbt wenige Jahre später an Leberversagen. Prof. Oberdoerster erhält 1980 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold. Im gleichen Jahr fordert eine Impfung mit dem verseuchten Serum ein erstes Todesopfer.