Zurückgelassener Junge im Kinderheim
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Deutschlandweite Studie zur Heimerziehung Ehemalige DDR-Heimkinder: Trauma fürs Leben?

04. Juni 2023, 05:00 Uhr

Psychologin und Traumaforscherin Prof. Heide Glaesmer von der Universität Leipzig befragt mit ihrem Team deutschlandweit Menschen, die in der DDR in einem Kinderheim untergebracht waren. Sie möchte wissen, welche Erfahrungen die ehemaligen Heimkinder gemacht haben und analysiert, wie die heute erwachsenen Menschen durch diese Zeit geprägt wurden. Wir haben sie vor der Veröffentlichung zu Ergebnissen befragt.

Frau Glaesmer, worum geht es in der Studie und was ist die Zielsetzung?

Es geht noch einmal darum, DDR-Geschichte und auch Unrecht zu erforschen. Wir möchten ein wissenschaftlich fundiertes Bild zeichnen, von Heimerziehung in der DDR und von bestimmten Aspekten, die wir untersuchen. Es geht um die Fragen nach Bewältigung und Aufarbeitung. Und dann geht es uns auch darum, was passiert nach der Heimerfahrung, vor allem nach negativen Erfahrungen. Es gibt Menschen, die das sehr gut bewältigt haben. Für die ist die Zeit der Heimerziehung ein wichtiger Faktor in ihrem Leben, aber sie haben einen positiven Weg durchs Leben gefunden. Und es gibt andere, für die das unglaublich schwer ist. Wir würden gern besser verstehen, was Menschen nach solchen negativen Erfahrungen hilft.

Wie erleben Sie ehemalige Heimkinder, die Sie befragt haben?

Es ist nicht so, dass alle Heimkinder nur negative Erfahrungen gemacht haben. Längst nicht jeder Mensch, der in einem Heim war, wurde zwangsläufig irgendwie misshandelt oder missbraucht. Sondern für manche war es auch eine Rettung aus wesentlich schlimmeren Verhältnissen in der Herkunftsfamilie. Sie bekamen im Heim neue Entwicklungsmöglichkeiten und wurden gefördert. Auch das gab es und das ist schon mal eine ganz wichtige Erkenntnis, die wir schon jetzt haben. Doch es gab eben auch sehr negative Erfahrungen und wir wünschen uns, dass all das differenzierter wahrgenommen wird.

Was können Sie noch vorab schon sagen?

Was wir häufig von den Studienteilnehmern hören ist, dass viele keine Fotos und keine Dokumente aus der Kinderzeit haben. Das war mir vorher nicht so bewusst, dass diese Erinnerungsstücke, diese Gegenstände, aus denen sie eine Kindheit konstruieren und sich immer wieder erinnern können, dass die fehlen. Wir haben immer wieder Studienteilnehmende, die gesagt haben, ich würde gern mal sehen, wie ich aussah in meiner Kindheit. Das ist vielleicht sehr alltäglich, aber gleichzeitig ganz bedeutsam für einen selbst.

Wonach richtet es sich, ob ein Mensch später gut oder schlecht mit den Heimerfahrungen zurechtkommt?

Es gibt Menschen, die in ihrer Kindheit Vernachlässigung und alles Mögliche erlebt haben, aber die es geschafft haben, irgendeine Person zu finden, die vertrauenswürdig ist und ihnen hilft. Wenn einem das gelingt, diese eine Bindungspersonen zu finden, dann ist sehr viel geholfen. Aber natürlich spielen auch weitere Bedingungen und Erfahrungen während und nach der Heimzeit eine wichtige Rolle.

Welche Faktoren können sich negativ auswirken?

Wir wissen heute schon, dass es eine ganze Reihe von Heimkindern gibt, die wirklich traumatisierende Erfahrungen gemacht haben. Sprich: körperliche Misshandlungen oder sexuelle Gewalt, und zwar nicht nur durch Betreuungspersonen, sondern zum Teil auch durch die anderen Kinder und Jugendlichen im Heim. Wenn man von Anfang an immer wieder Beziehungsabbrüche, Missbrauch und Gewalt erlebt, dann prägt das einen für das ganze Leben und das ist oft sehr schwer zu bewältigen.

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Wie zeigt sich das bei ehemaligen Heimkindern?

Körperliche und sexuelle Gewalt sind Traumatisierungen und diese können zur posttraumatischen Belastungsstörung und anderen psychischen Problemen führen. Da gibt es verschiedene Symptome. Ganz häufig finden wir Schlafstörungen, Albträume, sich aufdrängende Erinnerungen am Tag, die wie ein Film vor einem ablaufen und welche die Menschen auch nicht stoppen können. Es gibt Zeitzeugen, die sagen: Ich kann den Geruch von diesem Putzmittel nicht ertragen, denn das erinnert mich an das Putzmittel, was im Heim immer benutzt wurde. Oder bestimmte Bekleidung aus einem bestimmten Material, aus dem die Heimkleidung damals gemacht war.

Betroffene beschreiben manchmal auch, dass es ihnen schwerfällt, zu Institutionen oder Ämtern zu gehen. In solchen Situationen erleben sie wieder, dass über sie entschieden wird oder sie zurückgewiesen werden. Das sind Ohnmachtsgefühle, wie sie auch im Heim erlebt wurden. Das führt manchmal dazu, dass ehemalige Heimkinder Leistungen nicht in Anspruch nehmen, weil sie diesen Weg nicht schaffen.

Man muss die schmerzhaften Situationen noch einmal ganz genau anschauen, in allen Sinnesmodalitäten. Das ist sehr schmerzhaft, aber führt in der Regel eben dazu, dass es dann verarbeitet ist.

Heide Glaesmer über den Therapieansatz zur PTBS

Sind Bindungsprobleme typisch für ehemalige Heimkinder?

Ja, das ist etwas, was uns immer wieder begegnet in den Erzählungen. Wir haben es vielfach mit Menschen zu tun, die eine lange Heimbiografie mit vielen, vielen Wechseln, zum Teil sieben, acht, neun verschiedene Heime hinter sich haben. Das heißt, man wird nie irgendwo heimisch. Man kann sich nie wirklich mal in einem sozialen Gefüge wie in einer Familie oder irgendwo zu Hause fühlen, sondern man hat ständige Beziehungsabbrüche. Wenn man das in der Kindheit über lange Zeiträume erlebt, dann wird es manchmal schwer, irgendwann noch mal vertrauensvolle Beziehungen einzugehen.

Die Studie gliedert sich deutschlandweit in vier Teilprojekte. So soll erreicht werden, dass möglichst viele Menschen teilnehmen und sie unterschiedliche Wege nutzen können, das Erlebte zu teilen. 1. Fragebogenstudie mit Menschen, die zwischen 1949 und 1989 in einem DDR-Kinderheim oder Jugendwerkhof waren. Im zweiten Schritt biografische Interviews (Leipzig).

2. Sechswöchiges Online-Schreibprogramm, bei dem die Teilnehmenden, therapeutisch angeleitet und begleitet, über das Erlebte schreiben können.

3. Biografische Interviews mit Menschen, die in Heimen der DDR sexualisierte Gewalt erlebt haben. Der Schwerpunkt liegt auf den Bewältigungsstrategien und der Zufriedenheit mit bestehenden Hilfsangeboten (Berlin).

4. Biografische Interviews mit Psychologen, Ärzten und Erziehern, die in Sonderheimen tätig waren. In geschlossene Sonderheime wurden verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter zur Heimerziehung eingewiesen. Medizinhistoriker wollen herausfinden, wie die Diagnosen gestellt wurden, wie man mit den Kindern umging und wie medizinisch behandelt wurde (Düsseldorf).

Wie kann die Studie den Menschen helfen?

Sie können über das Erlebte sprechen. Es ist gut, wenn andere Menschen davon wissen und man das nicht verheimlichen muss. Wir hoffen, die Öffentlichkeit auf die verschiedenen Heimerfahrungen und ihre möglichen Folgen aufmerksam zu machen und dazu beizutragen, dass diesen Menschen zugehört wird. Es gibt leider immer noch viele Vorurteile und viel Unwissen über die Thematik in der Gesellschaft. Diese schmerzhaften Erinnerungen sind ein bisschen wie ein Hemd, das man schnell wegstecken wollte. Man hat es in die Schublade gesteckt, aber dann hängt das Hemd so ein bisschen raus und die Schublade schließt nicht richtig. Das ist ein Sinnbild dafür, dass es eben nicht verarbeitet ist und dadurch immer wieder in diesen schmerzhaften Erinnerungen hochkommt.

Und Aufgabe der Therapie von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) ist es, diese Verarbeitung nachträglich zu bewältigen. Dazu muss man das Hemd sozusagen noch einmal in die Hand nehmen, muss es zusammenfalten, die Schublade aufmachen und es ordentlich reinlegen. Und dann ist es für immer drin. Das heißt, man muss die schmerzhaften Situationen noch einmal ganz genau anschauen, in allen Sinnesmodalitäten. Das ist sehr schmerzhaft, aber führt in der Regel eben dazu, dass es dann verarbeitet ist.

Die Laufzeit des Forschungsverbundes endete am 31.12.2022.

Dieser Artikel erschien erstmals im Juli 2021 vor Abschluss der Studie.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 04. Juni 2023 | 22:00 Uhr

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